1. Leseabschnitt: Kapitel 1 bis 10 (Beginn bis Seite 50)

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Dann eröffne ich mal die Runde.

Ich muss gestehen, dass ich doch einigermaßen überrascht bin über den ersten Abschnitt - im negativen Sinne.

Es ist zugegebenermaßen schon eine Weile her, dass ich ein Buch Bernhard Schlinks las. Natürlich "Der Vorleser". Ich fand es nicht brillant, kann mich aber auch nicht entsinnen, dass mich der Schreibstil so gestört hat wie in der "Enkelin".

Ich fange aber mal mit dem Positiven an: Den Einstieg finde ich recht gelungen. Der Weg Kaspars von der Buchhandlung nach Hause ist anschaulich und atmosphärisch. Den Tod seiner Frau hatte ich nicht erwartet.

Überhaupt nicht überzeugend finde ich hingegen den Teil, der in der DDR spielt. Da könnte man einen ganzen Roman drüber schreiben, und hier wird diese Begegnung nacherzählt, als wäre es ein Schüleraufsatz. Inklusive einiger "danns" und Sätzen, die mit "aber" beginnen. Sätze wie "Dann kam eine junge Frau um die Ecke. Es war nicht Birgit, aber sie erinnerte ihn an Birgit. (...) - es war Helga" (S. 40), habe ich zuletzt in Romanen Stephen Kings gelesen, als er noch nicht so gut schreiben konnte wie heute. Natürlich nicht mit "Helga", sondern "Pennywise".

Dialoge wie "Ich liebe dich, Birgit." "Ich dich auch." hätte ich ehrlich gesagt auch nicht unbedingt erwartet. Auch inhaltlich konnte mich die DDR-Geschichte überhaupt nicht einfangen. Das liegt nicht nur am Stil, sondern ich finde sie bis dato schlicht und ergreifend unoriginell.

Jedenfalls ist es in mir leider noch nicht hell wie in Orpheus (S. 49), bisher hat bei mir Morpheus die Überhand. Oder sogar dessen Vater. Über die groteske Findung des Passworts habe ich noch nicht einmal was gesagt.

Auf S. 15 musste ich dennoch richtig lachen, aber ich befürchte, das war unfreiwillig komisch. Diese Postkarte von Paula: "Liebe Birgit, ich habe sie neulich gesehen, ein fröhliches Mädchen. Sie sieht dir ähnlich." Und Kaspar denkt allen Ernstes, damit ist das "Schokoladenmädchen" auf der Vorderseite der Karte gemeint? Come on, Kaspar!

Da mich die Geschichte einmal überzeugte, als ich irgendwann einmal den Klappentext las, hoffe ich auf grundlegende Besserung...

Außerdem hoffe ich nicht, dass ich mir gleich Feinde gemacht habe, da ihr Bernhard Schlinks Erzählband zuletzt alle so gern mochtet... ;)
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Mir gefällt bisher, was ich gelesen habe.
Gleich zu Beginn: Die Schilderung, dass man in dem alten Menschen, den man nun vor sich sieht, den liebt, der er früher war. Kaspar liebt seine Frau immer noch, auch wenn sie es ihm nicht einfach macht. Die Trauer nach ihrem Tod, das Gekränktsein, als er feststellt, dass sie Fremden Geheimnisse anvertraut hat, die ihm verborgen blieben.
Dann der Rückblick: Hier scheint Schlink Autobiographisches verarbeitet zu haben. Er, der Pfarrerssohn, der in den 1960er Jahren von Heidelberg nach Berlin zum Studieren ging.
Das Pfingsttreffen in Ostberlin 1964, zu dem sich zahlreiche westdeutsche Studenten einfinden.

Da könnte man einen ganzen Roman drüber schreiben,
Dann wäre es ein anderes Buch geworden.
und hier wird diese Begegnung nacherzählt, als wäre es ein Schüleraufsatz. Inklusive einiger "danns" und Sätzen, die mit "aber" beginnen.
Schlink gilt nicht gerade als großartiger Stilist. Er schreibt sehr knapp, nüchtern . Ihm geht es mehr um Inhaltliches.
Außerdem hoffe ich nicht, dass ich mir gleich Feinde gemacht habe, da ihr Bernhard Schlinks Erzählband zuletzt alle so gern mochtet...
Nicht alle waren nur begeistert von diesem Erzählband, hat mir aber hier keine Nachteile gebracht.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Gleich zu Beginn: Die Schilderung, dass man in dem alten Menschen, den man nun vor sich sieht, den liebt, der er früher war. Kaspar liebt seine Frau immer noch, auch wenn sie es ihm nicht einfach macht.
Das hat mich direkt für den Roman eingenommen. Die Beschreibung wie er seine Frau und das verwüstete Zimmer vorfindet, eine Wut, die in der Erkenntnis endet, dass es dennoch die Frau ist die er liebt.Die Beschreibung, als er sie in der Badewanne fand, dass er das Bedürfnis hat, ihr von ihrem Tod zu erzählen, löste direkt etwas in mir aus. Es muss schrecklich sein, wenn man jahrelang immer etwas mit einem Menschen geteilt hat, und dieser Gesprächspartner plötzlich weg bricht

Ein paar Seiten des Abschnitts fehlen mir noch, daher halte ich mich noch ein wenig zurück
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Ich fand den Einstieg auch gelungen. Es fängt so harmlos an, dann fällt die unaufgeräumte Wohnung auf, das Trinken wird angesprochen und man ahnt, da stimmt was nicht. Ich wollte erst gar nicht glauben, dass sie tot ist, aber seine Reaktion fand ich authentisch.
Der Rückblick ist tatsächlich sehr knapp gehalten, es wirkt wie ein Zusammentragen der Fakten, damit die Leser*innen im Bild sind. Wie hat alles begonnen und wie gelangte sie in den Westen. Die Eindrücke zu Ostberlin hingegen sind ausführlicher, insofern ist es schlüssig, dass er Autobiografisches verarbeitet hat.
Stilistisch arbeitet Schlink extrem oft mit Aufzählungen (dreiteilig) oft verknüpft mit Parallelismen sowie Wiederholungen. Das ist mir manchmal zu artifiziell und mir würde sogar eine noch knappere Sprache besser gefallen.
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Ich fand den Einstieg auch gelungen. Es fängt so harmlos an, dann fällt die unaufgeräumte Wohnung auf, das Trinken wird angesprochen und man ahnt, da stimmt was nicht.
Ja, so ging es mir auch. Zwar mit knappen, aber eindringlichen Worten. Irgendwie schade, dass Birgit in der langen Ehe so geworden ist. Und dass sie einiges vor Kaspar geheimgehalten hat. In seiner Trauer muss er auch damit klarkommen. Oder ist es normal, dass man nach dem Tod von lieben Menschen von Geheimnissen erfährt? Etwas überrascht war ich, dass es für ihn so einfach war, Kontakte im Osten zu schließen und Birgits Flucht zu organisieren. Oder ist das nur für den Roman so, weil nachher die Enkelin wichtiger ist?
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Dialoge wie "Ich liebe dich, Birgit." "Ich dich auch." hätte ich ehrlich gesagt auch nicht unbedingt erwartet.
Was denn dann?
Und Kaspar denkt allen Ernstes, damit ist das "Schokoladenmädchen" auf der Vorderseite der Karte gemeint? Come on, Kaspar!
Nun, er hat keinen Klappentext gelesen. Er hat sie als sehr junge Frau kennengelernt (ohne Kind) und recht kurz danach ging sie in den Westen, wo sie seitdem zusammen sind. Wie hätte er darauf kommen sollen, dass sie ein Kind hat?

Mir ging es ähnlich wie Anderen hier: diese liebevolle Beschreibung der Gefühle von Kaspar für seine Frau, trotz ihrer Sucht und ihrer Krankheit; trotz ihrer Sturheit, sich nicht helfen lassen zu wollen. Was hätten sie wohl für eine überglückliche Beziehung führen können, wenn sie die Wahrheit gesagt hätte? Immer diese blöden wenns ... ;)

Blöd mal wieder, dass schon im voraus verraten wurde (auch durch den Titel), worum es geht. Ich hätte es nämlich bis jetzt wohl nicht gemerkt, da im Text nichts konkret darauf hindeutet, dass Birgit ein Kind hatte.

Mal schaun, wie weit ich heute noch komme.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Ich glaube, etwas weniger Banalität.

Nun, er hat keinen Klappentext gelesen. Er hat sie als sehr junge Frau kennengelernt (ohne Kind) und recht kurz danach ging sie in den Westen, wo sie seitdem zusammen sind. Wie hätte er darauf kommen sollen, dass sie ein Kind hat?
In der Tat war ich da vielleicht ein wenig "vorgeprägt", auch wenn ich den Klappentext längst vergessen hatte. Dennoch hatte ich natürlich im Hinterkopf, dass es eine Tochter und - nun ja - Enkelin gibt.

Ich habe gestern als Experiment aber meinem Mann diese Stelle vorgelesen und ihn gefragt, wie er diese Postkarte beim ersten Lesen verstehen würde. Und er hätte tatsächlich auch geglaubt, dass es eine Anspielung auf das "Schokoladenmädchen" sei oder zumindest eine verschlüsselte Botschaft, weil man in der DDR nicht alles schreiben durfte. Vielleicht war Kaspar in dieser Szene also gar nicht so naiv, wie ich glaubte... ;)
 

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Wienerin auf Rügen
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Ich mag die knappe, leise Erzählsprache des Autors. Ein erster Einblick in eine Beziehung, in der ich nicht sicher bin, ob zumindest in den letzten Jahren die gegenseitige Zuneigung nicht etwas einseitig war, Birgit hat sich zurückgezogen. Sehr gut gefällt mir die Schilderung des Aufeinandertreffens der Studenten aus Ost und West 1964, manvspürt die eigenen Erfahrungen des Autors, die hier einfließen.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Der 1. LA führt uns aus der Sicht von Kaspar an die Beziehungsgeschichte von ihm und Birgit heran. Und dabei merkt man unterschwellig ständig, dass sich die übertiefe Verständnishaltung Kaspars gegenüber seiner nicht immer einfachen Frau, die sich als ungemein starke Zurückhaltung gegenüber der Privatsphäre Birgits zeigt, irgendetwas verbirgt. Da ist ein Geheimnis, von dem Kaspar so gar nichts weiß. Der Tod seiner Frau trifft ihn sehr stark. Die durch Zurückhaltung geschaffene Distanz kann nicht das tiefe Gefühl zu seiner Frau erschüttern. Wahrscheinlich hält er diese Art der Zurückhaltung sogar für Liebe. Was steckt hinter dieser Frau Birgit, das ist das immerwährende Fragezeichen, das über dem gesamten 1. LA hängt. Ich bin gespannt (kenne aber auch schon den Klappentext :p.
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Ja, wenn ich nicht den Klappentext gelesen hätte....

Der Einstieg gefiel mir, besonders der Heimweg den Kaspar nach der Arbeit nimmt. Den Kopf freizubekommen, den Tag zu reflektieren um dann wohl gewappnet zu sein, für das was ihn zu Hause erwartet.
Denn es ist ja wohl tägliche Routine Birgit so vorzufinden. Und dennoch, er erinnert sich an die Frau die Birgit früher war und die er liebt.
Seine Scheu ihre Texte zu lesen, seine Kränkung, als er erfuhr, dass Birgit anderen Menschen offener begegnete, das kann ich gut nachvollziehen.
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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. Diese Postkarte von Paula: "Liebe Birgit, ich habe sie neulich gesehen, ein fröhliches Mädchen. Sie sieht dir ähnlich." Und Kaspar denkt allen Ernstes, damit ist das "Schokoladenmädchen" auf der Vorderseite der Karte gemeint?
Warum nicht? Kaspar weiß nicht, was der Leser weiß und er ahnt es nicht einmal.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Harter Tobak, aber einfühlsam geschildert - so fasse ich jetzt mal die Beschreibung von Birgit´s Tod zusammen. Auch die trauernde und gekränkte Seite von Kaspar kommt gut zum "tragen". Mir gefällt, was ich bisher gelesen habe. Auch wenn der Stil von Schlink manchmal etwas "altbacken" und abgehackt daherkommt. Aber nichts desto trotz mag ich ihn einfach, auch wenn es erst das zweite Buch von ihm ist, was ich lese.
 

Barbara62

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Etwas überrascht war ich, dass es für ihn so einfach war, Kontakte im Osten zu schließen und Birgits Flucht zu organisieren. Oder ist das nur für den Roman so, weil nachher die Enkelin wichtiger ist?
Es war ja erst kurz nach dem Mauerbau, die Schlupflöcher wurden nach und nach immer mehr verstopft. Und in Westberlin gab es Leute, die darauf spezialisiert waren. Im Museum am Checkpoint Charly kann man das besichtigen.
Birgit kennengelernt hat er anlässlich des Jugendtreffens, da ließen sich Kontakte ja nicht vermeiden.
Wie hätte er darauf kommen sollen, dass sie ein Kind hat?
:mad: Nicht spoilern, Leute! Ich hatte keine Ahnung davon, ich lese nämlich keine Klappentexte und lasse mich überraschen. Über die Postkarte von Paula bin ich allerdings auch gestolpert.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
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Mir hat der Einstieg gut gefallen, offenbar bin ich weniger kritisch. Die Geschichte liest sich sehr leicht. Ein Buchhändler als Protagonist hat es natürlich bei mir verhältnismäßig leicht. Ich frage mich immer, ob Autoren das absichtlich machen? Die Vertreter weisen gerne darauf hin und dann wird schon mal großzügiger eingekauft. ;)

Ich kann mir allerdings kaum vorstellen, dass man in einer so innigen Beziehung, wie Kaspar sie schildert, jahrelang nicht über das Schreibprojekt der Partnerin redet?

Es muss schlimm sein, nach dem Tod des Partners oder der Partnerin Dinge zu erfahren, die die gemeinsamen Jahre in einem anderen Licht erscheinen lassen. Ein Horror, denn man wird dadurch ja auch selbst in Frage gestellt: War man nicht vertrauenswürdig, nicht empathisch, nicht aufmerksam genug?