1. Leseabschnitt: Farouk (Anfang bis S. 79)

Renie

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Was mich erstaunt hat: Der Schleuser tritt als Werber auf. Er macht Farouk Angst und fördert seinen Fluchtwillen. Ich hatte mir bisher naiv vorgestellt, dass Schleuser lediglich eine Dienstleistung für Fluchtwillige anbieten. Dass sie auch den Fluchtwillen fördern, hatte ich mir so nicht vorgestellt
Stimmt, das habe ich gar nicht so gesehen. Ich frage mich auch, woher der Schleuser die Informationen über Farouks Familienverhältnisse hat.
Man muss aber leider anerkennen, dass der Schleuser das Prinzip von Angebot und Nachfrage perfekt beherrscht. Wenn keine Nachfrage vorhanden ist, schaffe ich welche. Das lernen Vertriebler auf Sales Schulungen. Der Schleuser hat also seine Hausaufgaben gemacht. Richtig schlimm ist nur, dass wir hier von der Ware menschliches Schicksal reden.
 

Renie

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Als Farouk sich fragt, ob es nicht doch besser wäre, radikal den Islam zu leben, ist es mir eiskalt den Rücken hinuntergelaufen. Einfacher ist es unter solchen Umständen sicher - vor allem als Mann.
Diese Szene ist mir auch aufgefallen. Sie verdeutlicht aber die Zweifel und Unsicherheiten von Farouk, was seine Entscheidung zur Flucht angeht. Er trifft eine Entscheidung, die das Leben seiner Familie betrifft und deren Konsequenzen nicht absehbar sind. Die Verantwortung, die damit auf seinen Schultern lastet, ist kaum zu ertragen. Daher kann ich nachvollziehen, dass Farouk alternative Lösungen in Betracht zieht, auch wenn er wissentlich zwischen Pest und Cholera wählt.
 

Renie

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Vor allem riskieren sie so nicht ihr Leben. Eigentlich wissen sie, dass sie die Menschen in den Tod schicken. Unvorstellbar!
Und was für eine Vorbereitung dahinterstecken muss. Die Schleuser suchen sich bewusst Menschen aus, die es sich leisten können, d. h. sie müssen sich im Vorfeld mit den Familienverhältnissen und Lebenssituationen ihrer Opfer befassen. Wenn die Opfer noch gar nicht den Wunsch haben zu fliehen, wird dieser Wunsch geweckt. Die Opfer werden im Glauben gelassen, dass sie eine komfortable Seereise antreten, denn schließlich hat diese ja einen stolzen Preis (im Vergleich zu Schlauchbootüberfahrten). Die einzigen Investionen der Schleuser sind die Autopiloten (wenn es denn tatsächlich welche sind) und ein Boot. Wenn das Boot absäuft, wird es abgeschrieben, wobei dieser Verlust mit Sicherheit in die Pauschalen, die die Opfer gezahlt haben, eingerechnet ist.
Ist das abgezockt.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Und was für eine Vorbereitung dahinterstecken muss. Die Schleuser suchen sich bewusst Menschen aus, die es sich leisten können, d. h. sie müssen sich im Vorfeld mit den Familienverhältnissen und Lebenssituationen ihrer Opfer befassen. Wenn die Opfer noch gar nicht den Wunsch haben zu fliehen, wird dieser Wunsch geweckt. Die Opfer werden im Glauben gelassen, dass sie eine komfortable Seereise antreten, denn schließlich hat diese ja einen stolzen Preis (im Vergleich zu Schlauchbootüberfahrten). Die einzigen Investionen der Schleuser sind die Autopiloten (wenn es denn tatsächlich welche sind) und ein Boot. Wenn das Boot absäuft, wird es abgeschrieben, wobei dieser Verlust mit Sicherheit in die Pauschalen, die die Opfer gezahlt haben, eingerechnet ist.
Ist das abgezockt.
Vielleicht sollte man mal die ganzen Schleuser in so eine Nuckelpinne setzen...
 
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Reaktionen: Mikka Liest und Renie

Renie

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19. Mai 2014
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Ich bin genauso von dem Roman angetan wie ihr. Was den Sprachstil betrifft, ist er sicherlich nicht leicht zu lesen, passt für mich aber perfekt.
Der Sprachstil ist sehr eindringlich und ist ein Abbild der Traumatisierung von Farouk. So stelle ich mir zumindest die Erzählweise eines Menschen vor, der verzweifelt und vor Entsetzen wie gelähmt ist, weil ihm das Unerträglichste passiert ist, was man sich vorstellen kann (nein, was man sich gar nicht vorstellen möchte). Ich schätze, dass er sich auch irgendwie für den Tod seiner Familie verantwortlich fühlt. Als Mann und Familienoberhaupt lag es an ihm, seine Familie zu beschützen. Daher wird er die Entscheidung zur Flucht auch eher als seine Entscheidung ansehen und nicht als gemeinsame Entscheidung des Paares. Kein Wunder, dass er sich umbringen wollte. Wer kann schon mit solch einer Schuld leben?
Das vorletzte Kapitel ist mir richtig an die Nieren gegangen. Wie Farouk am Strand seine Verzweiflung herausschreit und sich das Leben nehmen will. Ich werde den Kloß im Hals nicht los.
 

kingofmusic

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Der Sprachstil ist sehr eindringlich und ist ein Abbild der Traumatisierung von Farouk. So stelle ich mir zumindest die Erzählweise eines Menschen vor, der verzweifelt und vor Entsetzen wie gelähmt ist,
Ja, der Gedanke kam mir gestern Abend beim lesen dann auch, dass der Sprachstil das Trauma darstellt. Dann macht die "gehetzte" Sprache auch Sinn. Er muss es loswerden - so schnell wie möglich.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Diese Szene ist mir auch aufgefallen. Sie verdeutlicht aber die Zweifel und Unsicherheiten von Farouk, was seine Entscheidung zur Flucht angeht. Er trifft eine Entscheidung, die das Leben seiner Familie betrifft und deren Konsequenzen nicht absehbar sind. Die Verantwortung, die damit auf seinen Schultern lastet, ist kaum zu ertragen. Daher kann ich nachvollziehen, dass Farouk alternative Lösungen in Betracht zieht, auch wenn er wissentlich zwischen Pest und Cholera wählt.
Um sein ganzes gewohntes Leben aufzugeben, um sein Glück in einer ungewissen Zukunft zu finden, braucht es einen ungeheuren Leidensdruck. Da muss das Leben selbst bedroht sein oder die Situation so unerträglich, um einen solchen Schritt zu gehen. Ich möchte nie in der Lage sein müssen,, so eine Entscheidung zu treffen.
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Mit den ersten paar Seiten habe ich mich etwas schwer getan, aber bald hat mich Farouks Erzählung in den Bann gezogen. Man ahnt ja nicht, wie sich die Gedanken an eine Flucht bilden und man sich Schleusern ausliefert.
Dieser Typ war schon sehr fies. Geld einsacken und den Tod der Menschen in Kauf nehmen. Und das eigentliche Boot sahen sie erst, als sie mit der Barkasse schon ein Stück draußen waren, damit sie nicht mehr umkehren konnten. Oh Mann. Und dann ist das Boot auch führerlos. Dass seine Frau und seine Tochter höchstwahrscheinlich bei dem Sturm umkommen, ist ausgesprochen tragisch. Ich glaube, er wollte ihnen schließlich ein besseres Leben bieten.
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Ach, wie schnell man als Leser:in schon ahnt, dass diese Flucht kein gutes Ende nehmen wird... Farouk klammert sich verzweifelt an seine Amnesie – während wir von Anfang an den Luxus haben, nur allzu klar zu sehen, wie skrupellos der Schleuser ist, wie leer seine Versprechen, wie zum Scheitern verurteilt das schäbige kleine Boot. Luxus, weil wir diesen Schmerz nicht selber erleben müssen. Wie oft hörst du solche Geschichten in den Nachrichten und in Dokumentarfilmen, und dennoch kannst du dir nicht wirklich vorstellen, wie sich die Überlebenden fühlen.

Der Roman ist meines Erachtens bisher sehr gut geschrieben, ihm gelingt eine wirkungsvolle Balance: wir sind nah genug dran, um mitfühlen zu können, aber es überschreitet nicht die Grenze zum Betroffenheitskitsch.

Vieles wird nur mit leichter Hand angedeutet, so erfahren wir recht wenig über Farouk. Wie tickt er so, was waren früher mal, in besseren Zeiten, seine Hobbys... Der Autor verrät uns nur das Nötigste, und gerade dadurch gewinnt die Geschichte für mich etwas Märchenhaftes – ein archaiches, altes Märchen, ähnlich gnadenlos wie das, was Farouks Frau auf der Flucht erzählte.

So, das wollte ich erstmal loswerden, jetzt lese ich eure Kommentare.
 

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Wie einige von euch schon geschrieben haben: diese Schleuser sind das Allerletzte, so ein mieser, gewissenloser Abschaum. Für die ist das nur eine einfache Rechnung: ein zusammengeschustertes Boot, ein billiger Autopilot, das sind minimale Kosten und eine Menge Einnahmen. Das ist den Aufwand nicht wert, den es erfordern würde, dem Schiff die Chance zu geben, auch sicher anzukommen. Ich habe schon davon gehört, dass Flüchtlingsschiffe per Autopilot losgeschickt werden. Manchmal mimen die Schlepper wohl erst noch die Crew, um ihre Opfer zu beruhigen und einzulullen, setzen sich dann noch in Nähe der Küste fix mit einem Beiboot ab und überlassen die Menschen an Bord ihrem Schicksal.

Der alte Mann im Camp ist meines Erachtens ein gutes Sinnbild dafür, dass Menschen selten nur gut oder nur böse sind. Er ist Farouk gegenüber hilfsbereit und setzt sich sehr für ihn ein, und gleichzeitig hat er solche eine Missachtung gegenüber Frauen und Mädchen.

Der Schreibstil funktioniert für mich gerade deswegen so gut, weil er mal fast schon poetisch ist, dann abgehackt, dann wieder atemlos. Das wäre sicher eleganter gegangen, aber Eleganz würde in meinen Augen hier nicht so eindringlich wirken. Wie einige von euch schon gesagt haben: Farouk ist traumatisiert, völlig am Ende, seine Welt ist komplett in die Brüche gegangen. Daher flüchtet er sich mal in seine Märchen, mal sprudeln die Erinnerungen nur so aus ihm heraus. Und das spiegelt die Sprache wider.

Ich fand interessant, wie Farouk sich im letzten Kapitel selber sieht, sich quasi gleichzeitig von außen beobachtet und von seinen Emotionenen überwältigt wird. Das ist schon sehr gut geschrieben, aber es geht wirklich an die Nieren.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Sehr schön, dass Martha ihn bis zum Schluss bestärkt: besser ein schlechtes Boot, als untätig auf den Tod zu warten. Vielleicht hilft ihm das langfristig bei der Trauerbewältigung und dem Grüblen über Schuld.
Dennoch könnte ich mir vorstellen, dass er wütend auf sich ist, dass er dieses Unterfangen nicht verhindert hat. Aber auchabe gehört sicher zur Trauerbewältigung dazu. Aber soweit mus er erstmal kommen
 

ulrikerabe

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14. August 2017
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Mich hat das Buch gleich ganz am Anfang erreicht. Die Geschichte mit den Bäumen, das ist ja wirklich so. Habe ich alles in diesem Sachbuch gelernt ;)
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.

Bäume brauchen Wurzeln. Menschen auch, auf der Flucht verlieren sie diese. Es wird hoffentlich für Farouk ein Netzwerk an Unterstützung geben.

Auch denke ich mir, dass Meer eigentlich nicht wirklich still ist, es rauscht, tost. Aber es schweigt, gibt keine Antwort auf die Frage, ob Martha und Amira überlebt haben.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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So. Mein Buch ist am Samstag endlich auch eingetrudelt. Es kann losgehen.
Viele Eindrücke teile ich natürlich mit euch.
Zunächst einmal sind die Veränderungen, die die Taliban vornehmen, für uns unglaublich: getrennte Krankenhäuser, Mädchen dürfen nicht mehr zur Schule. Christen werden gekreuzigt. Welch eine havarierte Welt! der Überbringer der schlechten Nachricht war natürlich ein konvertierter Deutscher - das hatte für mich ein Gschmäckle.

Dass der Schleuser aktiv Menschen anspricht, ist mir auch neu, macht aber auch Sinn: Er pickt sich Menschen heraus, die über en gutes Einkommen verfügen und überhaupt materiell in der Lage sind, die sicherlich horrenden Gebühren zu bezahlen... Denen macht er Angst - ein Geschäftsmodell.

Der Schreibstil hat mich sofort mitgenommen, ich habe keine störenden Elemente wahrgenommen, auch kein störendes und, und... Im Gegenteil lesen sich manche Stellen besonders spannend, vermutlich fällt das zusammen.

Die schönen Textstellen und Metaphern werden sehr stimmig und keinesfalls übertrieben eingefügt.

Man kann die Ambivalenz Farouks sehr gut nachempfinden: Einerseits führt er eine einigermaßen gleichberechtigte Ehe, andererseits will er als Mann aber auch der Macher, der Entscheider, sein. Insofern müsste es ihn entlasten, als Martha ihm Absolution erteilt: "Farouk, mein Liebster, das hier ist immer noch besser, als untätig herumzusitzen und auf den Tod zu warten".

Dass er den Tod seiner Familie nicht wahrhaben will, kann ich nachvollziehen. Dass er den Leuten, die seinen Asylantrag bearbeiten, allerdings Märchen erzählt (und in Folge wohl auch für einen Lügner gehalten wird), empfinde ich als übertrieben. Geben tut es in einer solchen Extremsituation wohl viele Verhaltensweisen, die man verstandesmäßig nicht erfassen kann.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Er ist Farouk gegenüber hilfsbereit und setzt sich sehr für ihn ein, und gleichzeitig hat er solche eine Missachtung gegenüber Frauen und Mädchen.
Das ist für Menschen as unserem Kulturkreis unvorstellbar. Wenn man aber als Mann 70 Jahre dort gelebt hat, ist es selbstverständlich, dass Frauen ersetzbar und nicht wert sind.
Entsprechend schwer fällt es auch manchem Flüchtling, unsere gleichberechtigte Welt hier anzuerkennen. Das Umfeld sozialisiert in erheblichem Maß mit.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich hatte mir bisher naiv vorgestellt, dass Schleuser lediglich eine Dienstleistung für Fluchtwillige anbieten. Dass sie auch den Fluchtwillen fördern, hatte ich mir so nicht vorgestellt.

Ich habe im ersten Moment auch mit Überraschung reagiert. Aber dann fiel mir wieder ein, so etwas schon mal gehört zu haben. Schleuser schwärmen den Leuten auch davon vor, wie toll das Leben in Europa ist. Sie machen nicht nur Angst, sondern versprechen das Blaue vom Himmel, wenn es um das neue Leben im Ausland geht. Man müsste viel mehr gegen diese Gangster unternehmen.

Man muss aber leider anerkennen, dass der Schleuser das Prinzip von Angebot und Nachfrage perfekt beherrscht. Wenn keine Nachfrage vorhanden ist, schaffe ich welche.

Ja, wobei viele der Angesprochenen wohl selbst schon über eine Flucht nachgedacht haben - gerade in Syrien. Für Farouk war der Krieg noch weit weg. Für viele andere Landsleute nicht. Und Krieg bedeutet für viele eben auch Flucht und Vertreibung.

Und das eigentliche Boot sahen sie erst, als sie mit der Barkasse schon ein Stück draußen waren, damit sie nicht mehr umkehren konnten. Oh Mann.

Ja, wobei: Selbst wenn sie am Ufer geblieben wären, wären sie so schnell nicht wieder zurück nach Hause gekommen.

Der Schreibstil hat mich sofort mitgenommen, ich habe keine störenden Elemente wahrgenommen, auch kein störendes und, und... Im Gegenteil lesen sich manche Stellen besonders spannend, vermutlich fällt das zusammen.

Ich bin auch nicht über den Schreibstil gestolpert. Könnte daran gelegen haben, dass mich der Inhalt so gefesselt hat. Ich glaube aber nicht, dass das der einzige Grund war.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich habe bisher noch nichts von diesem Autor gelesen und konnte unvoreingenommen in die Lektüre einsteigen. Ich war aber am Anfang verwirrt, dass wir erst mal in Syrien sind. Ich hatte wegen des Klappentextes angenommen, dass das Buch nur in Irland spielt.

Farouks Geschichte finde ich sehr bewegend. Man fühlt mit ihm mit, kann sein Dilemma, seinen Kummer und seine Vorwürfe nachempfinden.