1. Leseabschnitt: Erstes bis Zweites Kapitel (S. 7 bis 59)

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Liest sich bisher sehr angenehm, unterhaltsam, ich würde sagen, Richtung Generationen- und Familienroman. Der ältere Bruder Heinrich wird eindeutig bevorzugt, auch die Mutter scheint mit dem verträumten Sohn Thomas nicht klarzukommen und beruft sich auf die beiden Vormunde, während Heinrich als freier Schriftsteller unterstützt wird. Für mich persönlich betont der Autor die (auch der Nachwelt bekannten) sexuellen Neigungen schon des jungen Thomas zu sehr, seine Schwärmerei für die die gleichaltrigen Freunde. Aber vielleicht hebt der Autor dies im Hinblick auf die späteren Kapitel des Buches mit Ehe und Familienleben von Thomas Mann hervor, sozusagen als Gegenbewegung, vielleicht einer inneren Zerrissenheit in einer Zeit, in der gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Strafe standen. Bin gespannt.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Ich finde Dienerschaft Szene sehr gelungen, in der die Mutter Julia als „Diva“ auftaucht und sozusagen das Stadt-Gespräch in Lübeck bestimmt. Umso tiefer ist der Fall, nachdem Mann Senior gestorben ist und keiner der Söhne Willens und in der Lage das Geschäft zu übernehmen. Der Verfall der Familie wird früh thematisiert:
Jahre später fragte sich Thomas, ob der Entschluss des Vaters, statt der brösligen Tochter eines heimischen Schiffmagnaten oder einer alteingesessenen Kaufmanns- und Bankiersfamilie Julia da Silva-Bruhns zu ehelichen, deren Mutter dem Vernehmen nach Blut südamerikanischer Indianer in ihren Adern hatte, nicht der Beginn des Verfalls der Manns gewesen war, der Beweis dafür, dass in den Geist dieser Familie ein Bunger nach dem prächtig Fremdartigen eingedrungen war - (10)
Statt Rendite Feingeistiges, Dichtung, Musik.
Der Romananfang erinnert mich darüber hinaus extrem an Manns Erstling „Die Buddenbrooks“, in dem er die Geschichte seiner eigenen Familie verarbeitet. Ob Toíbín das beabsichtigt hat?
Thomas spielt zunächst die Rolle des Erben, sein Bruder durchschaut ihn allerdings früh, der Vater erst später. Heinrich macht dagegen aus seinem Wunsch Schriftsteller zu werden keinen Hehl.
Eine Stelle hat mich etwas irritiert:
Heinrich, der damals achtzehn war, merkte offensichtlich, dass er von seinem jüngeren Bruder beobachtet wurde. Ein, zwei Sekunden lang musste er auch erkannt haben, dass dieser Blick ein Moment von unbehaglichem Begehren enthalten hatte. (18)
Der erste Hinweis auf Thomas Homosexualität ausgerechnet in Bezug auf seinen Bruder ? Das scheint mir unwahrscheinlich.
Da ist das Gefühl für seinen Freund Armin Martens realistischer, der sehr cool auf die Thomas Gedichte reagiert und nur verlangt, die Gedichte niemandem zu zeigen. Erwidert wird die Liebe nicht. Die Episode mit Willri dient eher einem sexuellen Austesten.
Heinrichs unterschiedliche Reaktion auf die Gedichte des Bruders sind begründet in Eifersucht? Oder hält er sie wirklich für schlecht?
Insgesamt ein interessanter Einstieg und ich lese gerne weiter.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Für mich persönlich betont der Autor die (auch der Nachwelt bekannten) sexuellen Neigungen schon des jungen Thomas zu sehr, seine Schwärmerei für die die gleichaltrigen Freunde.
Ich denke, dass Colm Tóibín, selbst bekennender Homosexueller, vor allem die unterdrückte Homosexualität Thomas Manns besonders interessiert bzw. angesprochen hat und er deshalb diese Seite des Schriftstellers betont.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Mich würde sehr interessieren, worauf sich der Autor im einzelnen gründet. Diese Szenen mit "Willri" - woher weiß er das? Oder kann man annehmen, sie sind erfunden?
Übrigens bin ich beim Lesen mehrmals auf Sätze gestoßen, die in ihrer Bandwurmartigkeit an Thomas Mann selbst erinnern. Zum Beispiel auf Seite 30, nach den Sternchen: "Für die Bürger Lübecks ...", ein veritables Nebensatzgeflecht. In "Joseph und seine Brüder" soll es einen Satz geben, der vier Seiten lang ist.

Ich lese das Buch bisher sehr gerne, habe aber merkwürdigerweise immerfort ein unangenehmes Voyeurismus-Gefühl, dass ich bei vergleichbaren Romanbiographien, die ich gelesen habe - über Mozart, Beethoven, van Gogh - nie hatte.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Der erste Hinweis auf Thomas Homosexualität ausgerechnet in Bezug auf seinen Bruder ? Das scheint mir unwahrscheinlich.
Genau so ging es mir auch. ich frage mich manchmal, ob die Nachwelt die homosexuellen Neigungen Manns nicht über- und ausinterpretiert hat. Letztlich war der Mann verheiratet, seine Frau stand fest an seiner Seite und zahlreiche Kinder gab es auch... Aber ich lasse mich gerne überraschen. Allerdings den Bruder in sexueller Hinsicht anregend zu finden, ist nun wieder noch eine Steigerung.

Ich denke, dass Colm Tóibín, selbst bekennender Homosexueller, vor allem die unterdrückte Homosexualität Thomas Manns besonders interessiert bzw. angesprochen hat und er deshalb diese Seite des Schriftstellers betont.
Danke, RuLeka. So wird ein Schuh draus. So können wir uns vorstellen, wohin uns die Fiktion treiben mag.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Für mich ist es die erste Berührung mit der Biografie Thomas Manns. Das mag Vor- und Nachteile haben, zumindest fehlt mir ein Vergleich. Da bei mir die Lektüre der Buddenbrooks noch nicht so lange her ist, habe ich über die Parallelen gestaunt. Dass die Witwe im Buch quasi entmündigt und die Firma weit unter Preis verkauft wurde - das hat offenbar wirklich so stattgefunden. Kaum zu fassen. Vater Mann hat seinen Lieben wirklich wenig zugetraut. Ob das gerechtfertigt war, vermag ich allerdings nicht zu beurteilen.

Mir kommt dieses Lübeck wie ein Dorf vor. Es wird geredet und geklatscht. Julia beteiligt sich gern daran und bestätigt die gegen sie bestehenden Vorurteile. Sie benimmt sich leichtsinnig, auch weil sie sicher ist, dass der Status ihres Mannes und seiner Familie ihr eine feste Rückendeckung bietet. Insofern kann man sich ihre Unsicherheit in der neuen Heimat München, in der sie erneut Außenseiterin ist, aber dieses Mal ohne Rückhalt, gut vorstellen. Sie wird sogar als "gebrochen" bezeichnet. Offenbar ist sie auf der Suche nach einem neuen Gatten, scheint sich dabei allerdings der Jugend anzudienen.

Thomas traut sich nicht, seine eigenen künstlerischen Ambitionen zu benennen. Lediglich Heinrich ist eingeweiht. Im Augenblick sieht es so aus, als ob dieser ein falsches Spiel gespielt hätte und gegen den Bruder oppuniert. Vielleicht hält er aber wirklich nichts von Thomas´Gedichten - dann hätte er das aber auch dem Bruder sagen sollen. Der Vater sowie Teile der Lübecker Gesellschaft hatten Thomas dennoch durchschaut:
In Lübeck waren manche der Ansicht, dass die Brüder tatsächlich nicht nur Indizien eines Verfalls innerhalb ihrer eigenen Familie waren, sondern zugleich Vorboten einer sich ausbreitenden allgemeinen Schwäche, die in diesem Teil Deutschlands, der einst so stolz auf seine Mannhaftigkeit geesen war, umso mehr ins Auge fiel. S. 19
Der Begriff "Verfall" wird häufig genannt in Anlehnung an die Buddenbrooks. Mir geht es wie der Häsin, ich sehe auch, dass der Autor sich bemüht, sich an Manns Schreibstil anzulehnen. Manche Sätze sind schon recht verschachtelt. Das war auch für die Übersetzung kein leichtes Unterfangen.

Ich bin erstaunt, dass Thomas so ein lausiger, aufmüpfiger Schüler war. Nur die Schülerzeitung betreibt er mit Interesse.
Die Mutter traut sich nicht, ihm von seinem neuen Job zu erzählen. Oder ist es ihr im Grunde egal? Ist sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt?

Ich bin sehr neugierig, wie es weiter geht. Allerdings muss ich jetzt eigentlich nicht alle homoerotischen Erlebnisse des jungen Mannes wissen. Etwas weniger ausführlich wäre in Ordnung, allerdings habe ich mich bisher überhaupt noch nicht gelangweilt. Der schöne Stil trägt mich auch darüber hinweg;)
 

Querleserin

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Manche Sätze sind schon recht verschachtelt. Das war auch für die Übersetzung kein leichtes Unterfangen.
Was die Syntax angeht, kann ich euch nur zustimmen. Habe mich mehrmals dabei ertappt, dass ich denke, ich lese einen Thomas Mann Roman ;).
Woher der Autor sein Wissen bezieht, würde ich auch gern erfahren.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Der Romananfang erinnert mich darüber hinaus extrem an Manns Erstling „Die Buddenbrooks“, in dem er die Geschichte seiner eigenen Familie verarbeitet. Ob Toíbín das beabsichtigt hat?

So ging es mir auch. Ich gehe davon aus, dass das Absicht ist.

Der erste Hinweis auf Thomas Homosexualität ausgerechnet in Bezug auf seinen Bruder ? Das scheint mir unwahrscheinlich.

Ich finde diese Stelle auch befremdlich - und unrealistisch. Darüber bin ich ebenfalls gestolpert.

Mich würde sehr interessieren, worauf sich der Autor im einzelnen gründet. Diese Szenen mit "Willri" - woher weiß er das? Oder kann man annehmen, sie sind erfunden?

Na ja, es ist ein „Roman“. Ich nehme an, dass er viel hinzugedichtet hat. Er kann den Wortlaut einzelner Gespräche beispielsweise nicht kennen und auch heimliche Gedanken nicht erahnen.
 

milkysilvermoon

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Mir gefällt das Buch bisher ganz gut. Ich finde es schlüssig, dass der Autor bereits im Elternhaus beginnt. Er scheint es recht allumfassend anzugehen, was ich gar nicht schlecht finde.

War Mann wirklich homosexuell? Ich würde ihn eher als bisexuell bezeichnen. Mich hat es auch irritiert, welche sexuellen Gedanken ihm hier untergeschoben werden. Ehrlich gesagt, empfinde ich das als ziemlich störend. Ich hoffe, es zieht sich nicht durch den Roman, befürchte es aber schon.
 

Querleserin

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Na ja, es ist ein „Roman“. Ich nehme an, dass er viel hinzugedichtet hat. Er kann den Wortlaut einzelner Gespräche beispielsweise nicht kennen und auch heimliche Gedanken nicht erahnen.
Ich habe gelesen, er stütze sich auf mehrere Biografien, trotzdem ist sicherlich einiges Fiktion.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Ich schreibe erst mal etwas, bevor ich eure Beiträge lese.

Der Zauberer ist ein Roman, dem ein Vorwort gut täte. Da der Autor zwar fiktiv, aber entlang einer berühmten Schriftstellerfigur schreibt, sollten die Leser wissen, was kommt. Wie der Autor recherchiert hat, also was er weiß und wo er sich künstlerische Freiheiten gestattet. Weil er es nicht weiß. Und es vermutlich niemand weiß.

Denn ein Problem wird die Interpretation sein. Ein biografischer Roman ist immer eine Interpretation. Ich mag das. Aber hier werden die Leser das Fiktive mit den Fakten verwechseln und denken, sie hätten nach der Lektüre den echten Thomas Mann kennengelernt. Das ist fatal.

Aber ich mag, was ich bisher gelesen habe.

Ich wusste nicht, dass der Senator Mann sein Kontor nicht der Familie vererbt hat. Man weiß wahrscheinlich nicht allzuviel über ihn. Was für eine Enttäuschung. Aber was wäre aus Thomas geworden, hätte er es getan?

Die Buddenbrooks jedenfalls sind seiner eigenen Familie nachempfunden. Da konnte Thomas seinen ganzen Frust herunterschreiben. Großartig. Welche Figur wohl seine Tante Elisabeth darstellt?
/
Wir haben eine kurze Familienaufstellung und uns auf die Schulzeit von Thomas konzentriert. Hei, er war ein lausiger Schüler. Das wird wohl wahr sein.

Seine homophilen Neigungen sind jedoch fiktiv. Ja, sie mögen vorhanden gewesen sein, aber wie genau er damit umging, weiß kein Mensch. Ob es die Gedichte an seine "erste Liebe" wirklich gegeben hat?

Nun, ist er in München und kein Mensch hat Verständnis für ihn. Zum Glück wissen wir, dass er ein viel größerer Schrifsteller als sein Bruder geworden ist.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Der Romananfang erinnert mich darüber hinaus extrem an Manns Erstling „Die Buddenbrooks“, in dem er die Geschichte seiner eigenen Familie verarbeitet. Ob Toíbín das beabsichtigt hat?
Ich denke, ja.

Der erste Hinweis auf Thomas Homosexualität ausgerechnet in Bezug auf seinen Bruder ? Das scheint mir unwahrscheinlich.
Fiktion.

Heinrichs unterschiedliche Reaktion auf die Gedichte des Bruders sind begründet in Eifersucht?
Sind sie erhalten? Hätte interessiert.

Mich würde sehr interessieren, worauf sich der Autor im einzelnen gründet. Diese Szenen mit "Willri" - woher weiß er das? Oder kann man annehmen, sie sind erfunden?
Fiktion. Es war keiner dabei in seinem Schlafzimmer.

Dass die Witwe im Buch quasi entmündigt und die Firma weit unter Preis verkauft wurde -
Frauen waren gut fürs Bett und zum Repräsentieren - sie hatten aber nix zu sagen.

scheint sich dabei allerdings der Jugend anzudienen.
43 ist nun wirklich noch kein Alter.

Manche Sätze sind schon recht verschachtelt.
Ist mir nicht aufgefallen. Ein schöner Lesefluß.

Ich bin erstaunt, dass Thomas so ein lausiger, aufmüpfiger Schüler war. Nur die Schülerzeitung betreibt er mit Interesse.
Die Mutter traut sich nicht, ihm von seinem neuen Job zu erzählen. Oder ist es ihr im Grunde egal? Ist sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt?
Ja, ich auch. Das Erste, was ich gelernt habe.
Die Mutter scheint eine echte Egozentrikerin zu sein. Schade, dass wir nicht erfahren haben, ob die Ehe eine glückliche war.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Dass Thomas Mann homosexuelle Neigungen hatte, ist eigentlich unumstritten. Es ist immer die Rede von unterdrückten Neigungen, da er in einer festen Ehe gelebt hat.
Ja, das sehe ich auch so. Allerdings ist das ein Bereich seines Lebens, den er für sich behalten haben wird. Homosexualität galt ja noch als pervers und stand unter Strafe. Insofern halte ich die zahlreichen diesbezüglichen Anspielungen tatsächlich überwiegend für fiktional. Das schmälert meinen Lesegenuss bislang aber nur wenig ;)
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Ja, das sehe ich auch so. Allerdings ist das ein Bereich seines Lebens, den er für sich behalten haben wird. Homosexualität galt ja noch als pervers und stand unter Strafe. Insofern halte ich die zahlreichen diesbezüglichen Anspielungen tatsächlich überwiegend für fiktional. Das schmälert meinen Lesegenuss bislang aber nur wenig ;)
Er hat sich jedoch in seinen Tagebüchern dazu bekannt, habe gerade noch einen Buchtipp dazu gefunden:

Heinrich Detering: „Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann“, Wallstein Verlag, Göttingen 2013, 431 Seiten, Preis: 26,00 Euro
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Im Gegensatz zu den meisten von euch, habe ich es bisher noch nicht geschafft etwas von Thomas Mann zu lesen. Dennoch habe ich natürlich über die Jahre viel über seine Werke, aber nur wenig über sein Leben gehört. Dieser Roman erzeugt eine hervorragende Atmosphäre, ich kann mir durchaus vorstellen, dass der Autor das meiste recht gut getroffen hat. Ob dies im Detail bei der Homosexualität auch so ist, sei dahin gestellt.
Die Schilderungen Lübecks und die Einblicke in seine Familie gefallen mir sehr. Ich kann mich gut darauf einlassen, und hinterfrage bislang wenig. Was aber vielleicht auch daran liegt, dass das meiste für mich Neuland ist.
 
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