1. Leseabschnitt: Erster Teil, Kapitel 1 bis 9

Literaturhexle

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2. April 2017
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Oh, wie herrlich ist es, wieder ins 19. Jahrhundert einzutauchen. Man fühlt sich sogleich an die Bücher von Henry James oder Thomas Hardy erinnert. Offensichtlich waren Standesdenken, Dünkel und Etikette sowohl in England als auch in New York, in dem dieser Roman spielt, weit verbreitet.

Abstammung und gute Familie sind alles in dieser kleinen Welt. Ausführlich werden die familiären Verflechtungen geschildert, die man sich kaum merken kann.
Newland Archer, ein junger belesener Schöngeist aus bester Familie, ist mit der ebenfalls jungen und unschuldigen May Welland liiert. Deren Familie hat Besuch bekommen von Gräfin Ellen Olenska, die einen Skandal verursachte: Da sie ihren Mann verlassen und anschließend ein Verhältnis hatte, schaut die ganze Gesellschaft mit Verachtung auf sie hinab und weidet sich am diesbezüglichen Tratsch. Dadurch wird Mays Familie in Mitleidenschaft gezogen. Aus Solidarität erbittet Archer eine Beschleunigung der Verlobung, was ihm gerne gewährt wird. Dadurch verbinden sich die Wellands mit den Archers und in Folge machen diese Familien gemeinsam die Gräfin wieder gesellschaftsfähig.

Doch Ellen hat ihre eigenen Ansichten, die denen der Gesellschaft zuwider laufen. Auf einem Empfang interessiert sie sich für Archer, fährt auch mit dem leichtlebigen Julius Beaufort aus, der als Frauenheld gilt (aber dennoch der neureichen Gesellschaft angehört).

Interessant sind die Gedanken Archers in Bezug auf Frauen und den Ehestand bereits auf diesen ersten 80 Seiten. Zunächst bewundert er die erhabene Unschuld seiner Braut. Dann kommen ihm Zweifel, er scheint Angst zu haben, dass sein Leben als Ehemann ihn ans Haus fesselt, in dem er sich mit seiner unerfahrenen, langweiligen Frau nichts zu sagen und keine Gemeinsamkeit haben wird. Auf der üblichen Besuchstour zur ausladenen Familie fühlt er sich [zitat]vorgeführt wie ein wildes Tier, das man listig in eine Falle gelockt hat (S. 71)[/zitat].
Offensichtlich werden diese Gedanken gerade durch die Bekanntschaft mit der selbstbewussten, eigenständig denkenden Gräfin befeuert, die sich recht wenig um die gesellschaftlichen Gepflogenheiten schert...

Auf S. 43-45 vertritt er indessen fast feministische Ansichten: [zitat]Ich habe diese Heuchelei satt, die Frauen ihres Alters lebendig begräbt, wenn ihr Mann sich mit Dirnen vergnügt! [/zitat]
Man spürt, dass Ellen einen starken Einfluss auf Archer hat. Sonst würde er sie kaum so vehement verteidigen.

Herrlich sind die spitzen, zynischen Beobachtungen, die der allwissende Erzähler den Figuren in den Mund oder die Gedanken legt.

Ellen ist eine scharfsichtige, kluge Frau. Sie enthüllt schnell die Spielarten, die Unaufrichtigkeit und Heuchelei der feinen Gesellschaft, die ihr Urteil fällt, ohne die Wahrheit wissen zu wollen. Die Frau fasziniert Archer. In ihrer Nähe rückt May in weite Ferne. Nach dem ersten Besuch schickt Archer seiner Verlobten Maiglöckchen und der Gräfin gelbe Rosen - anonym.

Der Leser hat bereits an dieser Stelle einen guten Einblick in diese Gesellschaft und spürt, dass sich da etwas anbahnt, das gegen die geltenden Regeln verstößt. Spannend!
 
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11. August 2018
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Vielen Dank für die schöne Zusammenfassung!

Oh, wie herrlich ist es, wieder ins 19. Jahrhundert einzutauchen. Man fühlt sich sogleich an die Bücher von Henry James oder Thomas Hardy erinnert.

Aus unerfindlichen Gründen hatte ich angenommen, dass das Buch im 20. Jahrhundert spielt und war etwas überrascht als ich feststellt, dass ich mich um 100 Jahre vertan habe. Kleinigkeit. ;)

Ich habe dann aber auch sehr schnell ein Verbindung zu Henry James und Washington Square hergestellt. Außerdem habe ich die Szenen in der Titanikverfilmung mit Kate Winslet vor Augen. Der alte amerikanische Geldadel, steif verknöchert und in Konventionen gefangen.


Hast du verstanden, wie das mit den Namen funktioniert. Ist Newland nun sein Vor- oder Nachname? Ich glaube, es ist die Familie Newland, aber warum steht das zuerst?

Aus Solidarität erbittet Archer eine Beschleunigung der Verlobung, was ihm gerne gewährt wird. Dadurch verbinden sich die Wellands mit den Archers und in Folge machen diese Familien gemeinsam die Gräfin wieder gesellschaftsfähig.

Herrlich, wie die unsichtbaren gesellschaftlichen Fäden gezogen werden, um Ellen wieder gesellschaftsfähig zu machen. Diese Szene bei den van der Luydens ist einfach köstlich. Wie das Paar mit den Augen kommuniziert - das sie überhaupt kommunizieren müssen. Die würden auch blind, taub und stumm wie aus einem Guß reden.

Interessant sind die Gedanken Archers in Bezug auf Frauen und den Ehestand bereits auf diesen ersten 80 Seiten. Zunächst bewundert er die erhabene Unschuld seiner Braut. Dann kommen ihm Zweifel, er scheint Angst zu haben, dass sein Leben als Ehemann ihn ans Haus fesselt, in dem er sich mit seiner unerfahrenen, langweiligen Frau nichts zu sagen und keine Gemeinsamkeit haben wird

Er romantisiert hier seine Braut. Aber seine Sicht hat schon Brüche. Einerseits bewundert ihre Reinheit und Unschuld, anderseits befürchtet er, dass das künstlich sein könnte. Dann gesteht er ihr großzügig zu, dass sie doch die gleichen Erfahrungen soll machen dürfen wie er. Ich bezweifle, dass er das ernst meint. Hier lässt er sich von seiner Bekanntschaft mit Ellen hinreißen und er weiß genau, dass seine Braut ein weißes Blatt ist und er mit Blick auf ihre Unschuld nichts zu befürchten hat.

Herrlich sind die spitzen, zynischen Beobachtungen, die der allwissende Erzähler den Figuren in den Mund oder die Gedanken legt.

Wirklich spitzzüngig. Ich amüsiere mich köstlich. Die Opernszene war wundervoll. Hat überhaupt jemand mitbekommen, was gespielt wurde?
 
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Hat deine Ausgabe Fußnoten? Meine hat ziemlich viele, was ich auf den ersten Blick nicht mochte. Ich habe sie trotzdem gelesen und bin jetzt ganz begeistert, was da alles erklärt. Besonders die geschichtlichen Hinweise sind erhellend.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Hast du verstanden, wie das mit den Namen funktioniert. Ist Newland nun sein Vor- oder Nachname? Ich glaube, es ist die Familie Newland, aber warum steht das zuerst?
Genau das habe ich mich auch gefragt, es aber so hingenommen.
Diese Szene bei den van der Luydens ist einfach köstlich.
Absolut! Auch die Nebenfiguren sind sehr gut getroffen. Man kann sie sich vorstellen. Zum Glück tauchen nicht alle Namen wieder auf, sonst würde ich mich überfordert fühlen...
Später taucht auch "Middlemarch" auf, weil er 1873 erschienen ist:)
Ich bezweifle, dass er das ernst meint. Hier lässt er sich von seiner Bekanntschaft mit Ellen hinreißen
Ja, er meint das nicht ernst. Einerseits will er eine "gute, anständige" Ehefrau (also ein Püppchen), andererseits würde er sich auch unterhalten können. Ich verrate nicht zuviel, dass das die Diskrepanz zwischen den Eheleuten bleiben wird. Es wird herrlich anschaulich anhand vieler Beispiele herausgearbeitet.
Hat überhaupt jemand mitbekommen, was gespielt wurde?
Nee. Wurde da was gespielt :eek::p?

Ich habe einen Anhang, bisher aber nur vereinzelt nachgeschaut, was die Fußnoten bedeuten. Achte jetzt mal mehr drauf.
 
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Yolande

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Ich habe es nun auch endlich geschafft :).
Der Beginn ist vielversprechend, auch wenn ich hin und wieder mit den ganzen Namen und Familienzusammenhängen hadere.
Aber diese spitzzüngige Beschreibung der oberen Gesellschaftsschicht New Yorks ist köstlich. Wer die höchste gesellschaftliche Stellung hat, bestimmt also über Wohl und Wehe der übrigen.
Newland Archer (ich denke, Newland ist der Vorname) ist zwar völlig einverstanden mit diesen ganzen Konventionen, sie geben natürlich auch eine gewisse Sicherheit, aber er ist fasziniert von der Gräfin Olenska, weil die völlig ruchbar und eigentlich inakzeptabel ist. Das Spiel mit dem Feuer sozusagen.
Seine Braut steht er auf einen ziemlich hohen Sockel, die Arme. Aber im Grunde weiß er ja, worauf sein weiteres Leben hinauslaufen wird. Da lockt das "Abenteuer" mit der Gräfin einmal mehr ;)
 

kingofmusic

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Meine hat auch Unmengen, aber ich lese das E-Book und lasse lieber die Finger vom Nachschlagen. Ich finde es sowieso immer so lästig, dass ich nicht mal schnell vor- oder zurückblättern kann :confused:.
Die Fußnoten sind bei mir auch drin; ich werde sie aber nur nachschlagen, wenn mich wirklich was interessiert.
 
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Meine hat auch Unmengen, aber ich lese das E-Book und lasse lieber die Finger vom Nachschlagen. Ich finde es sowieso immer so lästig, dass ich nicht mal schnell vor- oder zurückblättern kann :confused:.
Das ist schon war. Es finden sich allerdings einige Interessante Hintergrundinformation, auch zur Geschichte und den mitwirkenden Personen. Ich blättere die Fußnoten auch nicht mehr parallel beim Lesen (das finde ich anstrengend), aber schaue ab und zu nach Abschluss eines Kapitels hinein.
 

kingofmusic

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Ha ha ha, ist das geil *schallend lacht*
[zitat]...denn ein unumstößliches, unumstrittenes Gesetz in der Welt der Musik verlangte es, dass der von schwedischen Sängern gesungene deutsche Text französischer Opern ins Italienische übersetzt werden musste, damit das englischsprachige Publikum ihn besser verstand. (S. 9)[/zitat]
:D:D:D
 
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kingofmusic

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Herrlisch, dat :D. Ich amüsiere mich äh, königlich über diese Gesellschaftskritik. Dieses Getue, dieses Gehabe...:rolleyes::D Das Buch ist (glaube ich) eine gute Übung für Jane Austen im nächsten Jahr. Und wer weiß - wenn ich tiefer in die Sprache bzw. die Zeit eintauche; vielleicht klappt es dann ja doch noch mal mit Middlemarch *hust*. Aber bei rund 20 Leserunden bis August frage ich mich zum wiederholten Male: wann arbeite ich meinen SuB ab? Womöglich erst im (hohen) Alter :D.
 

kingofmusic

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Schöner Satz: [zitat]Will denn hier niemand die Wahrheit wissen, Mr. Archer? Die wirkliche Einsamkeit besteht darin, unter all diesen freundlichen Menschen zu leben, die nur Heucheleien hören wollen. (S. 80)[/zitat]
 
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