Oh, wie herrlich ist es, wieder ins 19. Jahrhundert einzutauchen. Man fühlt sich sogleich an die Bücher von Henry James oder Thomas Hardy erinnert. Offensichtlich waren Standesdenken, Dünkel und Etikette sowohl in England als auch in New York, in dem dieser Roman spielt, weit verbreitet.
Abstammung und gute Familie sind alles in dieser kleinen Welt. Ausführlich werden die familiären Verflechtungen geschildert, die man sich kaum merken kann.
Newland Archer, ein junger belesener Schöngeist aus bester Familie, ist mit der ebenfalls jungen und unschuldigen May Welland liiert. Deren Familie hat Besuch bekommen von Gräfin Ellen Olenska, die einen Skandal verursachte: Da sie ihren Mann verlassen und anschließend ein Verhältnis hatte, schaut die ganze Gesellschaft mit Verachtung auf sie hinab und weidet sich am diesbezüglichen Tratsch. Dadurch wird Mays Familie in Mitleidenschaft gezogen. Aus Solidarität erbittet Archer eine Beschleunigung der Verlobung, was ihm gerne gewährt wird. Dadurch verbinden sich die Wellands mit den Archers und in Folge machen diese Familien gemeinsam die Gräfin wieder gesellschaftsfähig.
Doch Ellen hat ihre eigenen Ansichten, die denen der Gesellschaft zuwider laufen. Auf einem Empfang interessiert sie sich für Archer, fährt auch mit dem leichtlebigen Julius Beaufort aus, der als Frauenheld gilt (aber dennoch der neureichen Gesellschaft angehört).
Interessant sind die Gedanken Archers in Bezug auf Frauen und den Ehestand bereits auf diesen ersten 80 Seiten. Zunächst bewundert er die erhabene Unschuld seiner Braut. Dann kommen ihm Zweifel, er scheint Angst zu haben, dass sein Leben als Ehemann ihn ans Haus fesselt, in dem er sich mit seiner unerfahrenen, langweiligen Frau nichts zu sagen und keine Gemeinsamkeit haben wird. Auf der üblichen Besuchstour zur ausladenen Familie fühlt er sich [zitat]vorgeführt wie ein wildes Tier, das man listig in eine Falle gelockt hat (S. 71)[/zitat].
Offensichtlich werden diese Gedanken gerade durch die Bekanntschaft mit der selbstbewussten, eigenständig denkenden Gräfin befeuert, die sich recht wenig um die gesellschaftlichen Gepflogenheiten schert...
Auf S. 43-45 vertritt er indessen fast feministische Ansichten: [zitat]Ich habe diese Heuchelei satt, die Frauen ihres Alters lebendig begräbt, wenn ihr Mann sich mit Dirnen vergnügt! [/zitat]
Man spürt, dass Ellen einen starken Einfluss auf Archer hat. Sonst würde er sie kaum so vehement verteidigen.
Herrlich sind die spitzen, zynischen Beobachtungen, die der allwissende Erzähler den Figuren in den Mund oder die Gedanken legt.
Ellen ist eine scharfsichtige, kluge Frau. Sie enthüllt schnell die Spielarten, die Unaufrichtigkeit und Heuchelei der feinen Gesellschaft, die ihr Urteil fällt, ohne die Wahrheit wissen zu wollen. Die Frau fasziniert Archer. In ihrer Nähe rückt May in weite Ferne. Nach dem ersten Besuch schickt Archer seiner Verlobten Maiglöckchen und der Gräfin gelbe Rosen - anonym.
Der Leser hat bereits an dieser Stelle einen guten Einblick in diese Gesellschaft und spürt, dass sich da etwas anbahnt, das gegen die geltenden Regeln verstößt. Spannend!