1. Leseabschnitt: Beginn und Teil EINS ( Seite 9 bis 93)

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
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Essen
Erzählt der Autor hier die Geschichte seiner eigenen Familie? Jedenfalls besteht eine Namensgleichheit, was schon sehr auffällig ist.
Alma wird sehr früh in ihrem Leben zur Weise und braucht nach dem Tod ihrer Eltern einen neuen Platz im Leben. Nach einigen Zwischenstationen wird sie aufgenommen von ihrem Paten, der nur schwer als Onkel bezeichnet werden kann. Selbst nur 2 Jahre älter als Alma ist er selber noch auf der Suche nach einem Platz und nach Orientierung im Leben. Die beiden bilden gemeinsam mit der Haushälterin Pauline dann so etwas wie eine Wohngemeinschaft zu Zeiten als solch unkonventionelle Arten des Zusammenlebens eine große Rarität darstellten. Lendle erzählt dann von diesem Zusammenleben sehr sensibel und in ausgewählten Episoden, die sowohl Verlorenheit als auch Ruhe und Frieden (in der unfriedlichen Welt des 1. Weltkriegs) ausstrahlen. Das tut er mit immer wieder ungemein schönen und berührenden Worten und oft unter Verwendung sehr poetischer Bilder.
Morgens stand der Tag vor der Tür wie die Flasche Milch, die der Molkereiwagen vor Sonnenaufgang brachte. Wenn es nur immer so weiterginge.
Was für eine Lebensaufgabe es war, den Lebensmut nicht zu verlieren.
Und dann wieder kommt es mir vor, als lebte ich in einem unaufhörlichen Warten. Wie vor einem Sprung, zu dem es auch heute wieder nicht kommt.
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Tragisch, dass Alma ihre Eltern schon so früh verloren hat. Und dann nimmt ihr Pate Ludwig sie auf, der selbst kaum älter ist. Zusammen mit einer Anstandsdame wohnen sie in Frankfurt. Ludwig studiert und Alma lebt ein wenig in den Tag.
Der erste Weltkrieg ist noch nicht vorüber, aber die beiden scheint er nicht sehr zu berühren. Dabei war Ludwig im Krieg. War er verletzt? Oder wie hat er es geschafft entlassen zu werden? Sein Bruder Wilhelm hat einen Schreibtischposten, wegen seiner Farbenblindheit.
Ludwig und Alma kommen gut klar, aber richtig nah sind sie sich (noch) nicht. Alma ist auch erst seit ein paar Monaten bei ihm. Ihr Zusammenleben quasi als WG ist moderner als erwartet.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Heute Abend war ich allein und habe den Epilog laut gelesen. Welch eine Sprache! Wie er den Tod von Almas Vater schildert, dessen Sinnlosigkeit. Dann wird die Mutter noch hinterher gerafft. Sehr tragisch und sprachlich toll umgesetzt.

Alma ist mit einem Schlag Waise und muss damit zurecht kommen. Ihre Einsamkeit und ihre fast philosophischen Gedanken sind sehr schön gefasst.

Putzig, dass Alma zu Ludwig ziehen kann. Die Zeiten waren vielleicht noch nicht so prüde wie später ab der NS Zeit. Sehr umsichtig wird erzählt, dass Ludwig schwul ist. Seine Liebe zu Gerhard, außerdem schaut er den Köhlerjungen auf die Muskeln. Da tut sich ein Konflikt auf, denn Alma entwickelt schon ein verstärktes Interesse an Ludwig. Sie scheint fast enttäuscht, dass er keine Annäherungsversuche unternimmt.

Die Schicksale der einzelnen Figuren werden sehr kurz und lakonisch abgehandelt. Warum will sich der Geheimrat unbedingt das Leben nehmen? Auch ein Kriegsschaden? Woher rühren die Depressionen? Wir wissen es (noch?) nicht.

Die anfängliche Sprachmacht hat etwas nachgelassen, aber ich bin immer noch sehr zufrieden. Die feinen Sätze, die Anjuta herausgesucht hat, springen mir unter anderem auch ins Auge. Manche Metaphern sind besonders schön.
Es ging ihr wie dem Muster der Fliesen an der Küchenwand, es war keine Ordnung darin zu erkennen. Die wollte ein Teil dieses Musters werden. 25
Das kann man sich sehr gut vorstellen, wenn man alleine ist und viel herumgestoßen wurde.

Die Ausführungen zum Ehrgefühl kann ich gut nachvollziehen. Gerade im Krieg. Völlig schizophren.

Dann noch das Schicksal von Fräulein Gerners Großmutter: es lebe das Patriarchat! Wie kann ein Mann behaupten, so ein Kind zeuge er nicht?!?

Anhand dieser Schicksale bekommt man einen Einblick in die Zeit. Haben wir die meisten Figuren kennengelernt?
Mir ist es zunächst Schnuppe, ob diese Geschichte autobiografisch ist. Es steht Roman auf dem Cover. Es wird also mindestens ein Mix sein.
Lassen wir uns mal weiter überraschen:)
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Sehr umsichtig wird erzählt, dass Ludwig schwul ist.

Ach, schau! Das war aber sehr umsichtig, denn es ist völlig an mir vorbeigegangen. Ich sehe immer nur diese Feingeistigkeit, wie z. Bsp. das Zitieren von Gedichten und dann wieder diesen Bruderkampf am Rhein.
Heftig, wie Wil dem Lud das Schwimmen "beigebracht" hat.

Aber Alma ist schon eine ziemlich Verträumte. Sie würde Lud gern küssen und alles andere, dass sie in Ermangelung der Worte auch Küssen nennt.

Frau Gerners Familiengeschichte ist wahrscheinlich eine von vielen ähnlichen Geschichten in dieser Konstellation. Dieser Gedanke in den Köpfen der Männer, das Vorrecht zu besitzen, sich eine Frau einfach nehmen zu können, ist nur sehr schwer herauszubekommen. In früheren Zeiten war es durchaus üblich, dass der Großbauer das Recht auf Entjungferung hatte. Seufz.

Aber um nochmal auf die Homosexualität zurückzukommen, Lud "muss" noch Kinder zeugen, da ich hinter ihm Jos Opa vermute... lets see.

Und ja, ich mag diese Sprache auch. Sie beschert mir so manch ungewohnte Umschreibung... ich muss sie mal in einer ruhigen Minute raussuchen.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Dass es sich um seine Familiengeschichte handelt, ist naheliegend, für den Roman jedoch unerheblich, bzw. ob er stimmig ist. Irritiert hat mich die Ich-Perspektive zwischendrin, wer Ist der Ich-Erzähler? Der Familienchronist?
Ansonsten finde ich die lakonische Sprache sehr angenehm und lese gespannt weiter.
 
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Reaktionen: RuLeka und Emswashed

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich bin noch nicht ganz durch mit dem ersten Abschnitt. Deshalb habe ich eure Kommentare bisher weitestgehend nur grob überflogen, um mich nicht zu sehr zu spoilern.

Für mich liest sich der Prolog etwas anstrengend. Es mag aber auch an der direkten Anrede mit „Sie“ gleich im ersten Satz liegen. So was mag ich nicht. :p Aber mit Sprache umgehen, das kann der Herr Lendle. Das muss man ihm lassen. Nach mehreren Seiten wird der Schreibstil süffiger und ich kam besser in die Geschichte.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Erzählt der Autor hier die Geschichte seiner eigenen Familie?
So steht es zumindest auf der Rückseite des Buches. Ludwig war sein Großvater.
Sie scheint fast enttäuscht, dass er keine Annäherungsversuche unternimmt.
Alma legt sich zu Ludwig ins Zimmer und betrachtet ihn beim Schlafen. Das ist für mich ein eindeutiges Signal, auf das Ludwig nicht eingeht.
Dann noch das Schicksal von Fräulein Gerners Großmutter: es lebe das Patriarchat! Wie kann ein Mann behaupten, so ein Kind zeuge er nicht?!?
Diese Geschichte spielt zwar keine Rolle in der von Lendles Familie , zeigt aber die Geisteshaltung der Zeit.
Welche Qualen muss die Mutter ausgestanden haben, als sie sieht, dass ihre Tochter ihren Halbbruder heiratet und kann doch nichts sagen. Furchtbar, was Frauen früher aufgebürdet wurde. Wir können alle froh sein, heute zu leben. Auch wenn es noch Unterschiede gibt in der Behandlung von Frauen und Männer, sind wir im Vergleich einen großen Schritt weiter.

Bisher trägt mich v.a. die Sprache durch das Buch. Lendle findet ungewöhnliche Bilder und Vergleiche.
Ansonsten ist es schon eine etwas seltsame Wohngemeinschaft, die sich hier zusammengetan hat. Der feingeistige Ludwig, die verträumte Alma und das Dienstmädchen. Dazu kommen die anderen Hausbewohner: das Egepaar, das seinen Sohn gleich zu Beginn des Krieges verloren hat und der depressive Geheimrat ( wobei wir von dem kaum was wissen).
Werden Ludwig und Alma heiraten? Es würde sich anbieten. Ludwig interessiert sich nicht für Frauen, das merkt man bald. Abei Homosexualität lässt sich in diesen Zeiten nur im Geheimen leben. Da wäre Alma die ideale Alibi- Frau. Mal schauen.