1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 97 (Teil I.)

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.071
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Im ersten Teil findet der Ich-Erzähler ( in dem Fall der Autor selbst) im Jahr 2001 ein Buch (geschrieben vom Sohn des Protagonisten, bei dem Stefan Hertmans studiert hat) und erfährt, dass er 20 Jahre in Gent in einem Haus eines SS-Mitglieds gewohnt hat. Das Haus hat er gerade verkauft und es gelingt ihm leider nicht mehr, Adriaan Verhulst zu besuchen.

Sehr poetisch beschrieben, wie er im Jahr 1979 auf das Haus aufmerksam geworden ist. Diese poetische Sprache bleibt leider nicht, wenn er die Biografie Willem Verhulst erzählst, denn das ist es bis jetzt, obwohl er eigentlich
„die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner erzählen“ (12) will.
Das mag auch daran liegen, dass die Familie Verhulst erst am Ende des 1. Teils in jenes Haus zieht.
Klassischerweise erzählt Hertmans zunächst etwas über die Kindheit Willems, über seine erste Ehe, seine 2.Familie und den beruflichen Werdegang. Wir erfahren, dass er ein Frauenheld ist und seine politische Gesinnung zunächst sehr wechselhaft ist.
Allmählich kristallisiert sich heraus, dass er mit den Deutschen, die Belgien besetzt haben, kollaboriert.
Seine Frau hingegen erscheint als friedliebend, freundlich und inzwischen hat sie von Willem bereits entfremdet, jedoch wahrscheinlich keine Chance in der damaligen Zeit ihren eigenen Weg zu gehen. Bisher inhaltlich eine sehr interessante Biographie, sprachlich sehr sachlich.
Lese jedoch gerne weiter.
 

Circlestones Books Blog

Bekanntes Mitglied
28. Oktober 2018
1.428
4.525
49
72
Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Sehr stimmig ist das alte Haus in diesem lange nicht bewohnten Zustand beschrieben, man hat sofort ein Bild vor Augen.
Der Autor selbst hatte bei Adrian Verhulst studiert, dem Verfasser des Buches, das er 2001 zufällig entdeckt hat und der seine Kindheit in diesem Haus verbracht hat, in dem der Autor später zwanzig Jahre gewohnt hat - daraus ergibt sich für mich ein besonderes Interesse an der Geschichte der Familie, wobei der Autor bewusst nicht die politische Vergangenheit von Willem Verhulst in den Mittelpunkt stellt, sondern tatsächlich das Haus und seine Bewohner. Damit schafft er es sofort, mich zu überzeugen. Dazu kommt auch die sehr gut und flüssig zu lesende Erzählsprache. Willem scheint ziemlich Ich-Bezogen, was zum Teil wohl darin liegt, dass er auf Grund seiner Augenerkrankung zunächst von der Familie verwöhnt wurde, sich mehr erlauben konnte, als die Geschwister. Andererseits konnte er charmant sein, wenn er etwas erreichen wollte. Etwas ältere Frauen - suchte er die Fürsorge seiner früh verstorbenen Mutter? Besonders interessant ist für mich jedoch die Schilderung, wie seine politische Einstellung entstanden ist, diese Dynamik, die ihre Wurzeln in der Trennung in flämisch und französisch in seinen frühen Schuljahren in Belgien hatte und die dann später zu seiner pro-deutschen Einstellung geführt hat. Obwohl es ein Roman ist, gefällt mir, dass der Autor dort Lücken lässt, wo er in seinen umfangreichen Recherchen keine Aussagen und Unterlagen fand und klar schreibt, dass dies heute niemand mehr weiß, statt die Lücke fiktiv zu schließen.
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.630
12.864
49
47
wenn er die Biografie Willem Verhulst erzählst, denn das ist es bis jetzt, obwohl er eigentlich
„die Geschichte eines Hauses und seiner Bewohner erzählen“ (12) will.

wobei der Autor bewusst nicht die politische Vergangenheit von Willem Verhulst in den Mittelpunkt stellt, sondern tatsächlich das Haus und seine Bewohner.
Ja, was denn nun? :)

Ich muss gestehen, dass ich den von @Querleserin zitierten Teil auf S. 12 überhaupt nicht kapiert habe, bis ich jetzt diesen o.g. Beitrag von @Circlestones Books Blog las. Bis jetzt dachte ich nämlich, dass Stefan Hertmans damit meint, er würde die Geschichte des Hauses und seiner Bewohner erzählen wollen. Sprich: alle, die jemals darin wohnten und eben nicht nur die des SS-Mannes. Hm. Entweder mangelndes Verständnis meinerseits oder nicht so gut übersetzt...
 
  • Like
Reaktionen: Barbara62 und RuLeka

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.630
12.864
49
47
Obwohl es ein Roman ist, gefällt mir, dass der Autor dort Lücken lässt,
In meinen Augen ist es überhaupt kein Roman, sondern ein fast schon unseriöses Werbemittel des Verlags. Offenbar war sich Diogenes dessen aber selbst bewusst, denn auf dem Cover steht frech "Roman", aber anders als sonst steht es nicht mehr auf dem Titelblatt.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.615
21.875
49
Brandenburg
Der Autor hat eine gewaltige Menge an Informationen geliefert!
Mir gefällt es, wie der Autor himself (?) sich Geld von seinem Vater leiht, um spontan ein altes Haus zu erwerben, in das er sich wegen seines Geruchs nach Schimmel und Moder verliebt hat! Und wegen des Blauregens der sich irgenwo rum windet. Muss mal nachschlagen, was das für eine Pflanze ist, ich kenne sie nicht vom Namen her. Spontan ein Haus kaufen! Und dann noch zu einem Spottpreis. Aber manchmal fallen die Gelegenheiten günstig.
Alsbald sind wir ein wenig auf Wanderschaft. Der Erzähler fragt sich, ob der Prof, bei dem er selber Geschichte studierte, nicht vllt ein etwas geschöntes Bild von dessen Vater hatte! (Wer hat das nicht?).
Wir erleben die Kinheit von Willem Verhulst. Das ist wirklich bewegend gewesen. Die Augenheilkunde zu dieser Zeit war noch barbarisch! Heute hätte man dem Kind wahrscheinlich seine Sehkraft retten können. Überhaupt hat Willem in seiner frühen Kindheit einiges zu verkraften. Ich litt mit ihm. Was man in früher Kindheit erlebt, ist prägend. Und er hat auch in der Schule gelitten und dort schon Brutalität und Ungerechtigkeit kennengelernt. Mit 13 schon bricht sein stabilisierendes Element weg, die Mutter. Von da an wird sein Leben bunt und kraus.
Aber er hat Glück. Er trifft auf gute Leute, Leute die ihm Gutes wollen. Die Frauen. Aber er hat auch Pech. Er trifft auf Leute, die Revolutionäre sind und Aufwiegler.
Der Autor hat das super hingekriegt. Wie er Willems bewegtes Leben in unter 100 Seiten darstellt, ist großartig. Trauer. Männliches Leben. Auflehnung. Trotz. Arbeit. Geltungsdrang. Politik. In Belgien ist man von dem Spannungsfeld zwischen Flamen und Franzosen nie unbetroffen. Diese Politik bestimmt das Leben der Einzelnen. Der einen mehr, der anderen weniger.
Mir gefällt die Art des Erzählens ungemein, nüchtern, aber intensiv. Ich mag die Informationsfülle, die mir gegeben wird.

Wer weiß, wie viele Revolutionäre oder auch andere Arten von skrupellosen Männern es nicht gegeben hätte, hätten sie eine leichte Kindheit gehabt.
 

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.071
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Cover steht frech "Roman", aber anders als sonst steht es nicht mehr auf dem Titelblatt.
Da gebe ich dir Recht, es ist die Geschichte Willem Verhulst und seiner Familie, also eine Biografie, die ausschließlich auf Fakten basiert ist.
Das macht dieses Buch nicht weniger interessant, es ist aber nicht-fiktiv und sollte als solches auch verkauft werden.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.615
21.875
49
Brandenburg
In meinen Augen ist es überhaupt kein Roman, sondern ein fast schon unseriöses Werbemittel des Verlags. Offenbar war sich Diogenes dessen aber selbst bewusst, denn auf dem Cover steht frech "Roman", aber anders als sonst steht es nicht mehr auf dem Titelblatt.
Doch, es ist ein Roman. Und noch dazu ein sehr schöner.
 

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.071
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
In Belgien ist man von dem Spannungsfeld zwischen Flamen und Franzosen nie unbetroffen. Diese Politik bestimmt das Leben der Einzelnen.
Das bringt der Autor uns wirklich sehr nahe. Man hat zwar davon gehört und gelesen, aber mein Wissen ist diesbezüglich sehr beschränkt. Willem hat mir auch leid getan, hat jedoch trotz seiner pazifistischen Frau einen falschen Weg eingeschlagen. Es war ihr nicht möglich sich dem entgegen zu stellen.
 

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.630
12.864
49
47
So, ich bin insgesamt wahnsinnig überrascht über diesen ersten Teil. Und zwar gar nicht wegen des Inhalts, sondern weil eine - ganz offensichtlich mit fiktionalen Elementen angereicherte - Biografie als "Roman" verkauft wird. Zumindest auf dem Schutzumschlag. Dreist. Hätte ich mich für dieses Buch interessiert und angemeldet, wenn ich gewusst hätte, dass es kein Roman ist? Ehrlich gesagt vermutlich nicht. Habe ich es bereut? Nee, auch nicht, dafür liest es sich zu gut und flüssig. Ein bisschen sauer bin ich trotzdem.

Genug gemosert. Denn insgesamt gefallen mir das Buch und auch die Idee dahinter. Wobei es bisher wirklich "nur" Willems Geschichte ist und nicht die Geschichte des Hauses. Aber das kann ja noch kommen.

Mir fehlte doch ein gewisses Vorwissen über die Geschichte Belgiens, um den ganzen politischen Strömungen und deren Vertretern folgen zu können. Dennoch erzählt Stefan Hertmans plastisch und unterhaltsam, so dass ich ihm gern gefolgt bin.

Der undurchsichtige Charakter Willems kommt gut zur Geltung. Er strahlt Charisma aus, benimmt sich aber immer wieder auch wie ein Schmierlapp. Vieles dichtet Hertmans sicherlich auch hinzu, dennoch ist die Figur gelungen.

Mir gefällt, wie der Autor Fotos, Briefe und Buchcover einbaut, das finde ich berührend, auch wenn nicht immer offensichtlich ist, wer nun wo abgebildet ist (z. B. S. 53).

So nüchtern und sachlich finde ich den Stil gar nicht, das Persönliche steckt ja in den Anekdoten und Fotos. Und auch in den Situationen, in denen er sich auf die alten Wege begibt, die alten Orte besucht.

Gespannt bin ich, ob tatsächlich noch mehr daraus wird als eine Biografie. Der Aufwand und die Recherchen müssen jedenfalls enorm gewesen sein, Chapeau.
 

Querleserin

Bekanntes Mitglied
30. Dezember 2015
4.048
11.071
49
50
Wadern
querleserin.blogspot.com
Aber sicherlich. Es hat fiktive Anteile.
Ich will nicht vorgreifen, aber im LA 2 erläutert der Autor seine Quellen, von daher glaube ich nicht, dass er Wesentliches erfunden hat. An Stellen, an denen er nicht sicher ist, was passiert sein könnte, bringt er dies ausdrücklich zur Sprache und erfindet kaum etwas dazu.
„Wie und warum ist nicht klar, doch am Ende landen sie in Den Haag.“ (41)
„Warum Willem sich dabei fast hundertzwanzig Kilometer von Den Haag entfernte, wissen wir nicht“ (46)
Natürlich wird er den ein oder anderen Dialog erfunden haben, aber im Großen und Ganzen stützt er sich auf die Fakten, was ich gut finde.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.615
21.875
49
Brandenburg
So, ich bin insgesamt wahnsinnig überrascht über diesen ersten Teil. Und zwar gar nicht wegen des Inhalts, sondern weil eine - ganz offensichtlich mit fiktionalen Elementen angereicherte - Biografie als "Roman" verkauft wird. Zumindest auf dem Schutzumschlag. Dreist.
Das verstehe ich echt nicht. Ich finde sogar, dass das Buch dadurch noch viel besser ist. Und wir wissen ja auch noch nicht, was uns in den anderen Teilen erwartet.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.615
21.875
49
Brandenburg
Ich will nicht vorgreifen, aber im LA 2 erläutert der Autor seine Quellen, von daher glaube ich nicht, dass er Wesentliches erfunden hat. An Stellen, an denen er nicht sicher ist, was passiert sein könnte, bringt er dies ausdrücklich zur Sprache und erfindet kaum etwas dazu.
„Wie und warum ist nicht klar, doch am Ende landen sie in Den Haag.“ (41)
„Warum Willem sich dabei fast hundertzwanzig Kilometer von Den Haag entfernte, wissen wir nicht“ (46)
Natürlich wird er den ein oder anderen Dialog erfunden haben, aber im Großen und Ganzen stützt er sich auf die Fakten, was ich gut finde.
Die Anreicherung mit Fiktivem und die Art des Erzählens machen dieses Buch zu einem Roman. Da gibt es kein Vertun.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.883
49
In meinen Augen ist es überhaupt kein Roman, sondern ein fast schon unseriöses Werbemittel des Verlags. Offenbar war sich Diogenes dessen aber selbst bewusst, denn auf dem Cover steht frech "Roman", aber anders als sonst steht es nicht mehr auf dem Titelblatt.
Christian, ich bin erst auf Seite 60, aber habe genau das innerlich auch schon moniert. Ich lese keine Biografien, habe extra nachgeschaut, ob vielleicht ICH mich geirrt hätte: nein draußen steht es drauf, drinnen nicht.
Ich habe es beim ersten Lesen genau wie du verstanden, dass er das Haus und seine Bewohner in den Mittelpunkt stellen will - abwarten.
Bis jetzt ist es noch nicht so richtig meins.
 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.615
21.875
49
Brandenburg
Das verstehe ich wiederum nicht. Ich finde das Buch nicht schlecht, aber wieso sollte es besser sein, wenn fälschlicherweise "Roman" draufsteht?
Ich meine, der Roman wird dadurch noch besser, dass er auf Fakten beruht. Ob Roman oder nicht Roman - das liegt doch hier an der Art und Weise wie erzählt wird. Und was meinst du mit "fälschlicherweise"? Auch wenn diese Menschen wirklich gelebt haben - was macht das aus, wird ein Buch besser dadurch, dass alles erfunden ist? Wie ist es denn mit dem Flussregenpfeifer gewesen? Same.
Vllt ist es mehr ein Zwischendrinding, zwischen Roman und Biografie angesiedelt. Mich stört nur deine Bemerkung, dass es dreist sei, das Buch Roman zu nennen.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.883
49
Sprich: alle, die jemals darin wohnten und eben nicht nur die des SS-Mannes. Hm. Entweder mangelndes Verständnis meinerseits oder nicht so gut übersetzt...
Ihr immer mit euren Übersetzungen...

Warte doch mal ab. Wir haben erst ein Viertel gelesen und hat Willem nicht viele Jahre (40?) in diesem Haus verbracht? Da darf man dann schon mal ein bisschen ausholen.

Ja, Wanda. Es ist ein Roman. Roman darf sich fast alles nennen. Wenn nur ein bisschen Fiktion oder Vermutung drin steckt, darfst du schon nicht mehr Biografie sagen. Weiß ich. Trotzdem habe ich etwas anderes erwartet.