Vieles ist ja schon gesagt worden ...
Also, was mir als erstes aufgefallen ist, ist die merkwürdige Parallele, die Lía zwischen Petrus' (bzw. Petri) Verleugnung in der Bibel zieht. Petrus hat ja die Beziehung zu einem existierenden Menschen geleugnet, seinem "Meister". Das ist etwas völlig anderes, als wenn man irgendwann feststellt, dass man an Gott nicht mehr glaubt - und überhaupt verstehe ich das Tamtam um diesen Punkt nicht, da der Gottesglaube ja keine reine Sache des guten Willens ist. (Ich weiß nicht wie viele Leute es gibt, die sich jahre- und jahrzehntelang um Glauben bemühen, aber ihn einfach nicht finden.) Das soll jetzt aber keine Kritik an dem Buch sein. Diese Haltung ist natürlich Lías Erziehung geschuldet, in der Unglaube eine Todsünde ist.
Dass Lía nach ihrem Weggang für den brieflichen Kontakt mit dem Vater zur Bedingung macht, dass persönliche und familiäre Dinge ausgespart bleiben, finde ich eigentlich spontan eine kluge Lösung. Wenn sie ihre Familie als toxisch empfindet, aber den Kontakt mit dem Vater behalten will, kann es ganz gut funktionieren, dass man sich eben nur über abstrakte Dinge austauscht und so evtl irgendwann wieder zu einer Annäherung kommt. Aber eben diese Annäherung sollte eigentlich das Ziel sein, und die Konsequenz von Lías Haltung (in bockiges Schweigen zu verfallen, weil der Vater von der Hochzeit geschrieben hat) kann ich nicht gutheißen. Sie ist ja keine junge Frau mehr und sollte sich klar sein, dass die Zeit ihres Vaters begrenzt ist, auch wenn sie von der Erkrankung nichts wusste. (Und das Risiko, von wirklich wichtigen und schwerwiegenden Dingen nichts zu erfahren, ist sie mit ihrer Einstellung bewusst eingegangen.)
Carmen finde ich eindeutig überzeichnet. Aber ich bin bereit, einstweilen zugute zu halten, dass es ja Lía ist, die erzählt. Das Bild, dass Mateo entwirft, ist allerdings nicht viel anders.
"Aber spielt es, wenn wir an etwas leiden, überhaupt eine Rolle, warum?"
Ja, mich wundert der Satz. Will der Junge nicht Psychologie studieren? Wozu das, wenn er diese Einstellung hat?
Ich denke, das Warum spielt keine Rolle, wenn es um das Maß des Leidens geht. Man kann am Verlust eines Kätzchens genauso schwer leiden wie am Verlust eines Elternteils, auch wenn das viele Leute nicht verstehen (wollen). Da gibt es kein Maß.
In dem Zusammenhang, in dem der Satz hier fällt, nämlich das (eingebildete?) sexuelle Versagen des jungen Mannes, sollte es ihn aber schon interessieren, welchen Hintergrund das hat. Hm, gibt es eigentlich in der modernen Psycholgie noch diesen behaviouristischen Ansatz, dass man Menschen wie Pawlowsche Hunde konditioniert, ohne den Ursachen für Störungen auf den Grund gehen zu wollen? Als Psychologe wäre das jedenfalls die einzige Richtung, die er einschlagen könnte.
Ich finde das Buch sehr spannend und denke, irgendwann werden wir auch über Anas Ermordung noch Näheres erfahren.
Die Erzählweise ist allerdings etwas trocken und sperrig, und so richtig warm geworden bin ich bisher weder mit Lía noch mit ihrem Neffen. Kein Vergleich zu dere sanften, tiefsinnigen Erzählerin Suku in "Oben Erde, unten Himmel"!