1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 89

Irisblatt

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15. April 2022
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Welche "Lügen" soll der Vater durch seinen Tumor ausgeplaudert haben? Ich befürchte, dass es Wahrheiten waren, die die gottesfürchtige Carmen nicht hören will.
Davon gehe ich auch aus. Sie hat auch Angst davor, was in den Briefen stehen könnte, möchte alles kontrollieren.
Ich bin nicht so begeistert nach diesem ersten Leseabschnitt. Sprachlich tendiert es ins Pathetische, und die Handlungen der Protagonisten sind dermaßen sentimental ... vor allem das Bild der übereinander gelegten Hände beim Zeichnen von Kathedralen (!) wird reichlich überstrapaziert - ich glaube, auf diesen 89 Seiten ist es mehr als ein Dutzend Mal vorgekommen. Auch die titelgebenden Kathedralen kommen, davon unabhängig, fast auf jeder Seite vor, damit auch die Dümmste kapiert, dass das das Hauptmotiv /-symbol des Romans ist... Dasselbe mit der "Narbe" der Familie. Von Subtilität ist das weit entfernt, ich finde das dermaßen penetrant!
Penetrant ist auch ein guter Ausdruck dafür. Mich beginnt es dann schnell zu langweilen.
Ich habe auch so meine Schwierigkeiten mit dem Personal. Vor allem die Beschreibung Carmens kommt mir reichlich eindimensional vor.
Das geht mir auch so. Auf Carmen haben wir natürlich bisher nur die Sicht von Lía und Mateo, die beide große Schwierigkeiten mit ihr haben. Mich stört daher eher, dass ich auch Mateos und Lías Charakterzeichnung recht dünn finde.
Mateo, der so schön ist, dass er allen den Atem verschlägt, mit seiner behaupteten Schüchternheit. Wie wahrscheinlich ist das? Schönen Männern sieht man alles nach, sie haben ein leichtes Leben, dominante Mutter oder nicht. Die ganze Figur kracht in allen Nähten, ich finde ihn völlig unglaubwürdig. Er fällt beim Anblick einer schönen Kirche in Ohnmacht (!) und empfindet im Bett mit begehrten Frauen plötzlich eine nicht näher erklärte "Ernüchterung".
Da habe ich mit den Augen gerollt.
"Aber spielt es, wenn wir an etwas leiden, überhaupt eine Rolle, warum?"
Nach diesem Satz (S. 74) habe ich mir an den Kopf gefasst. Ein derartiger Pseudotiefsinn!
Und dazu noch völlig falsch! Es kann durchaus hilfreich sein, die Ursache zu kennen.
 

Renie

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Wer bei mir momentan richtig aneckt ist Carmen. Dieser Widerspruch zwischen ihrer übertriebenen Frömmigkeit und ihrem so gar nicht bibelkonformen Verhalten ist verrückt. Ob dies nur die Sichtweise von Lia und Matteo ist? Ich bin so gespannt auf andere Blickwinkel und natürlich insbesondere auf ihren eigenen Abschnitt.
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Und dazu noch völlig falsch! Es kann durchaus hilfreich sein, die Ursache zu kennen.
Völlig falsch würde ich diese Frage nicht nennen. Es ist ja erst einmal eine Frage. Eine subjektive noch dazu, da wir ja im Kopf einer Person stecken. Wenn sie es also so wahrnimmt, nimmt sie es so wahr.
Natürlich kann es hilfreich sein, muss es aber nicht zwingend. Für manche Menschen ist es das nicht. Diese Frage habe ich sogar genau anders herum bewertet, ich fand sie an der Stelle passend.

P.S. Ich finde es gerade total spannend, wie unterschiedlich wir den Roman lesen und finden. Da macht die Diskussion Spaß!
 

RuLeka

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Ich bin mir fast sicher, dass dieses Drama das Fass zum Überlaufen brachte. Den Grundstein für Lias Atheismus ist bestimmt durch den überdimensionierten Katholizismus in ihrer Familie gelegt worden
Ja, diese rigorose Reaktion ist nicht allein auf den Tod der Schwester zurückzuführen, sondern waren Anlass, den ganzen Hass auf die Kirche und ihre Doktrin rauszulassen.
 

Renie

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Und dazu noch völlig falsch! Es kann durchaus hilfreich sein, die Ursache zu kennen.
Veto. Matteo ist das Werk seiner Mutter, die ihn immer dominiert hat. Seine Kindheit war keine glückliche. Sind es jetzt die Eltern, die schuld an seiner Psyche haben? Oder ist es der Glaube, der ihm eingetrichtert wurde? Und wenn es doch an dem verstörenden Familienereignis liegt, dass die Familie nie verarbeitet hat und dessen Existenz ihm von klein auf bewusst war?
Das spielt alles überhaupt keine Rolle. Denn Problem erkannt, ist nicht Problem gebannt und alles ist gut. Dafür ist Matteo seelisch zu angeschlagen. Er braucht Hilfe, die er zunächst in seinem Großvater gefunden hat.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Sind es jetzt die Eltern, die schuld an seiner Psyche haben?
Wahrscheinlich ...
Oder ist es der Glaube, der ihm eingetrichtert wurde?
... denn die Eltern haben ihm den Glauben eingetrichtert.
Und wenn es doch an dem verstörenden Familienereignis liegt, dass die Familie nie verarbeitet hat und dessen Existenz ihm von klein auf bewusst war?
Auch das spielt eine Rolle, und ich nehme an dieser Stelle Wetten an, dass Anas Tod etwas mit dem Glauben zu tun hat.
 

Literaturhexle

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Ein kleines bisschen an Zugkraft hat der Mateo-Teil bei mir verloren. Manches Bild ist ein bisschen überzeichnet, wie die Ohnmacht in der Kathedrale angesichts von soviel Schönheit oder die beiden Körper, die "etwas miteinander anfangen könnten" oder die spontane Sympathie/Seelenverwandtschaft zwischen Mateo und Lia.
Wirklich stören tun sie mich bis jetzt aber nicht.

Mateo ist noch sehr jung. Er ist anders als andere, sein Großvater bezeichnete ihn sogar als "nerdig". Er kann nicht mit Menschen umgehen, ist ein Einzelgänger, er hat ein frömmelndes, erzkatholisches Elternhaus, in dem über nichts Relevantes gesprochen wird. Die Familie an ein schweres seelisches Trauma erlitten, das sie nie versucht hat zu bearbeiten. Mateo nennt es "die Narbe" und merkt selbst, dass er komisch damit umgeht - trotzdem konnte er es oft nicht lassen, den Tod seiner Tante verbal zu inszenieren...

Er scheint sich vor diesem Hintergrund zu einem extrem sensiblen Charakter entwickelt zu haben. Das kann ich akzeptieren. Auch seine sexuellen Schwierigkeiten passen in dieses Paket. Wenn man persönlich dermaßen verunsichert ist, nützt einem konventionelle Schönheit wenig - man kann schlicht nicht damit umgehen.

Mateo hat einen völlig anderen Klang als Lia. Das gefällt mir.
Ich bleibe neugierig auf die weiteren Perspektiven!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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und ihr Mann scheint überhaupt keinen Einfluss auf die Erziehung seines Sohnes genommen zu haben.
Er wollte Priester werden. Entsprechend fest ist sein Glauben. Bis jetzt wirkt es so, als habe er das Seminar nur verlassen, um zu heiraten. Dann würde er diese Erziehung zum Glauben befürworten, auch wenn er sich zurückhält, so dass er nicht in gleicher Weise beim Sohn in Misskredit fällt wie Carmen. Gewiss erfahren wir noch etwas über ihn.
subtil ist hier wenig. Aber spannend! Und wie!
Besser hätte ich es nicht sagen können. Es muss nicht immer alles "Hochliteratur" sein;)
Ich könnte mir vorstellen, dass genau das ihren Vater noch mehr unter Druck gesetzt hat, den Mörder zu finden
Völlig richtig!
Diese Frage habe ich sogar genau anders herum bewertet, ich fand sie an der Stelle passend.
Ich auch: Zunächst leide ich, es geht mir psychisch schlecht. Wenn es mir schlecht genug geht, interessiert mich das "Warum" nicht. Das kommt erst im Zuge der Besserung, wenn man wieder "freie Teile" hat. Also ich fand den Spruch nicht "pseudo".
 

alasca

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Bisher hat mich der Roman leider nicht gepackt. Vielleicht hat er es auch gerade schwer nach "Der Inselmann" und meiner aktuellen anderen Lektüre von Arundhati Roy.
Das geht mir gerade auch ganz stark so. Zu Birgit Birnbacher mit ihrer dichten Prosa und Vielschichtigkeit ist Pineiro ein derartiger Kontrast! Als würde man eine Spitzenklöppelei mit einer Holzstatue vergleichen.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Er scheint sich vor diesem Hintergrund zu einem extrem sensiblen Charakter entwickelt zu haben. Das kann ich akzeptieren. Auch seine sexuellen Schwierigkeiten passen in dieses Paket. Wenn man persönlich dermaßen verunsichert ist, nützt einem konventionelle Schönheit wenig - man kann schlicht nicht damit umgehen.
Mit der Sicht kann ich mich anfreunden.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Ich auch: Zunächst leide ich, es geht mir psychisch schlecht. Wenn es mir schlecht genug geht, interessiert mich das "Warum" nicht. Das kommt erst im Zuge der Besserung, wenn man wieder "freie Teile" hat. Also ich fand den Spruch nicht "pseudo".
Du gehst davon aus, dass Besserung von allein eintritt. Das ist, je nach Ursache, unwahrscheinlich.

Wenn ich nicht weiß, dass ich z. B. an einer Angststörung leide, dann werde ich Vermeidungstechniken entwickeln und an der Beseitigung der Angst nicht arbeiten. Aber wenn ich es weiß, dann weiß ich, dass ich mich konfrontieren muss und dass die Angst erst dann besser wird. Das Gleiche mit Depressionen, Zwangshandlungen, Paranoia - wer nicht weiß, woran er krankt, macht bestenfalls ziellose Suchbewegungen. Kann funktionieren, muss es aber nicht.
 

RuLeka

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konnte er es oft nicht lassen, den Tod seiner Tante verbal zu inszenieren...
Ich denke, er hatte das Bedürfnis, darüber zu reden. Daheim war das wohl nicht möglich.
Und irgendwie wollte er den Mädchen, die ihm wichtig waren, erklären, warum er so ist, wie er ist. Die „ Narbe“ war für ihn so präsent, nichts Verheiltes, sondern etwas, das immer noch schmerzt.
dass die Familie nie verarbeitet hat
So lange dies nicht verarbeitet ist, kann man noch nicht von einem erkannten Problem sprechen.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Vieles ist ja schon gesagt worden ...
Also, was mir als erstes aufgefallen ist, ist die merkwürdige Parallele, die Lía zwischen Petrus' (bzw. Petri) Verleugnung in der Bibel zieht. Petrus hat ja die Beziehung zu einem existierenden Menschen geleugnet, seinem "Meister". Das ist etwas völlig anderes, als wenn man irgendwann feststellt, dass man an Gott nicht mehr glaubt - und überhaupt verstehe ich das Tamtam um diesen Punkt nicht, da der Gottesglaube ja keine reine Sache des guten Willens ist. (Ich weiß nicht wie viele Leute es gibt, die sich jahre- und jahrzehntelang um Glauben bemühen, aber ihn einfach nicht finden.) Das soll jetzt aber keine Kritik an dem Buch sein. Diese Haltung ist natürlich Lías Erziehung geschuldet, in der Unglaube eine Todsünde ist.

Dass Lía nach ihrem Weggang für den brieflichen Kontakt mit dem Vater zur Bedingung macht, dass persönliche und familiäre Dinge ausgespart bleiben, finde ich eigentlich spontan eine kluge Lösung. Wenn sie ihre Familie als toxisch empfindet, aber den Kontakt mit dem Vater behalten will, kann es ganz gut funktionieren, dass man sich eben nur über abstrakte Dinge austauscht und so evtl irgendwann wieder zu einer Annäherung kommt. Aber eben diese Annäherung sollte eigentlich das Ziel sein, und die Konsequenz von Lías Haltung (in bockiges Schweigen zu verfallen, weil der Vater von der Hochzeit geschrieben hat) kann ich nicht gutheißen. Sie ist ja keine junge Frau mehr und sollte sich klar sein, dass die Zeit ihres Vaters begrenzt ist, auch wenn sie von der Erkrankung nichts wusste. (Und das Risiko, von wirklich wichtigen und schwerwiegenden Dingen nichts zu erfahren, ist sie mit ihrer Einstellung bewusst eingegangen.)

Carmen finde ich eindeutig überzeichnet. Aber ich bin bereit, einstweilen zugute zu halten, dass es ja Lía ist, die erzählt. Das Bild, dass Mateo entwirft, ist allerdings nicht viel anders.

"Aber spielt es, wenn wir an etwas leiden, überhaupt eine Rolle, warum?"
Ja, mich wundert der Satz. Will der Junge nicht Psychologie studieren? Wozu das, wenn er diese Einstellung hat?
Ich denke, das Warum spielt keine Rolle, wenn es um das Maß des Leidens geht. Man kann am Verlust eines Kätzchens genauso schwer leiden wie am Verlust eines Elternteils, auch wenn das viele Leute nicht verstehen (wollen). Da gibt es kein Maß.
In dem Zusammenhang, in dem der Satz hier fällt, nämlich das (eingebildete?) sexuelle Versagen des jungen Mannes, sollte es ihn aber schon interessieren, welchen Hintergrund das hat. Hm, gibt es eigentlich in der modernen Psycholgie noch diesen behaviouristischen Ansatz, dass man Menschen wie Pawlowsche Hunde konditioniert, ohne den Ursachen für Störungen auf den Grund gehen zu wollen? Als Psychologe wäre das jedenfalls die einzige Richtung, die er einschlagen könnte.

Ich finde das Buch sehr spannend und denke, irgendwann werden wir auch über Anas Ermordung noch Näheres erfahren.
Die Erzählweise ist allerdings etwas trocken und sperrig, und so richtig warm geworden bin ich bisher weder mit Lía noch mit ihrem Neffen. Kein Vergleich zu dere sanften, tiefsinnigen Erzählerin Suku in "Oben Erde, unten Himmel"!
 

GAIA

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27. Dezember 2021
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Das geht mir gerade auch ganz stark so. Zu Birgit Birnbacher mit ihrer dichten Prosa und Vielschichtigkeit ist Pineiro ein derartiger Kontrast! Als würde man eine Spitzenklöppelei mit einer Holzstatue vergleichen
Bei mit wird "Wovon wir leben" die Nachfolgelektüre, da das Buch gestern in der Post war. Mal sehen, wie der Unterschied in der Schreibweise in dieser Reiehenfolge auf mich wirken wird. ;)
Wenn ich nicht weiß, dass ich z. B. an einer Angststörung leide, dann werde ich Vermeidungstechniken entwickeln und an der Beseitigung der Angst nicht arbeiten. Aber wenn ich es weiß, dann weiß ich, dass ich mich konfrontieren muss und dass die Angst erst dann besser wird. Das Gleiche mit Depressionen, Zwangshandlungen, Paranoia - wer nicht weiß, woran er krankt, macht bestenfalls ziellose Suchbewegungen. Kann funktionieren, muss es aber nicht.
Dem stimme ich zu. Ich hätte aber das Zitat noch einen Schritt weiter zurück gedeutet. Auf die Angststörung angewendet: Ich muss nicht zwingend wissen, warum ich eine Angststörung entwickelt habe, um sie behandeln zu können. Also mal ganz banal, ob ich mal als Kind von einem Hund gebissen wurde und deshalb jetzt Panikattacken bekomme, wenn ich nur einen Hund im Fernsehen sehe, ist irrelevant für die Behandlung der Attacken via Exposition. Das ist übrigens der Verhaltenstherapeutische Ansatz der Behandlung einer Angststörung. Der Tiefenpsychologische Ansatz würde auf strukturierte Exposition verzichten und erst einmal nur nach der Ursache der Angststörung suchen und dann davon ausgehen, dass sich mit Finden der Ursache auch die Angst verringert. Wissenschaftliche Untersuchungen haben signifikant gezeigt, dass gerade bei Angststörungen der Verhaltenstherapeutische Ansatz der effektivere und langfristig wirksamere ist.
Aber keine Frage, ist nicht für jeden Menschen gleich.