1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 81

luisa_loves-literature

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9. Januar 2022
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Endlich mal wieder ein Roman mit jungem Protagonisten, der seine Hauptfigur auch ernst nimmt! Ich lese den Roman bisher sehr gern. Er ist äußerst lesbar, stellt sich in die Tradition der Klassiker der Dystopie, was mir ebenfalls gut gefällt, und eröffnet ein Szenario, das in Zeiten des gerade regierenden Populismus leider alles andere als abwegig ist, dabei ist das System der Abgrenzung, der Verstärkung und des "Schutzes" der eigenen Identität, indem man die, die "anders" sind auch zu anderen erklärt, ja fast so alt wie die Welt.

Ich mag, wie Celeste Ng einem eigentlich nicht besonders innovativen Thema doch frischen Wind und Aktualität und durch den Slogan der "verschwundenen Herzen" fast auch etwas Poesie einhaucht.

Etwas holzschnitzartig fand ich, dass Birds Hausaufgaben darin bestehen, die Bedeutung von PACT (=Preserving American Culture and Tradition Act) zu erklären, damit wir als Leser:innen es ebenfalls "lernen".
Die Leserbelehrung über PAO war recht elegant eingefügt, die über PACT finde ich auch weniger geglückt - wieso sollte man noch einen so grundlegenden Aufsatz zu einem Gesetz schreiben, das einem täglich überall begegnet? Hier ging es wohl neben der Belehrung auch um die Darstellung der Ideologie im Alltag.

Die Tatsache, das Protestaktionen im Internet verfügbar sind, während gleichzeitig die Vorhänge in der Mensa geschlossen werden müssen, erscheint mir etwas widersprüchlich, aber vielleicht ist in den Vorhängen das symbolische "Augen verschließen" zu sehen.

Die Namenswahl für unseren Protagonisten finde ich auch toll: Noah und der Spitzname Bird - da kann man ja nur auf eine biblische Anspielung kommen ("Dove" oder auch "Pigeon" wäre zu offensichtlich und als Kosenamen auch ein bisschen viel gewesen). ;) Ich bin gespannt, ob der Verweis im Handlungsverlauf eine Rolle spielen wird.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Namenswahl für unseren Protagonisten finde ich auch toll: Noah und der Spitzname Bird - da kann man ja nur auf eine biblische Anspielung kommen
Neben der biblischen Anspielung finde ich auch die Namensbedeutung schön. Noah = Trost , Ruhe schaffen
Wobei der Vogel für Hoffnung und Zuversicht steht, aber auch für die Freiheit der Gedanken.
und eröffnet ein Szenario, das in Zeiten des gerade regierenden Populismus leider alles andere als abwegig ist, dabei ist das System der Abgrenzung, der Verstärkung und des "Schutzes" der eigenen Identität, indem man die, die "anders" sind auch zu anderen erklärt, ja fast so alt wie die Welt.
Ja, leider sehr aktuell, aber auch aus zahlreichen Beispielen in der Geschichte bekannt.
Ich bin gespannt, wie Celeste Ng das Problem auflöst. Ob es ein positives Ende überhaupt gibt.
 

Renie

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19. Mai 2014
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Obwohl das gewaltsame Herausreißen der Kinder schon ein Akt ist, der willkürlich anmutet. Es reicht, sich gegen das System zu stellen oder auf den Radar zu geraten. Die Meinungsfreiheit ist beschnitten, das Aussehen entscheidet darüber, wie man behandelt wird - klarer Fall von Rassismus, insofern ist dieser Staat auf dem besten Weg zu einem totalitären.
Die Sache mit den Kindern kam mir irgendwie bekannt vor. Jetzt ist es mir wieder eingefallen. Die indigenen Bevölkerungsgruppen Amerikas und Kanadas, genauso wie die australischen Aborigines hatten auch darunter zu leiden. So wurden die Familien in Reservate verfrachtet, die Kinder allerdings gingen in Schulen, die außerhalb dieser Reservate waren, um sie vor dem negativen Einfluss ihrer eigenen Kultur zu "schützen". Viele dieser Kinder kamen leider nicht mehr nach Hause, weil sie zu ihrem eigenem Besten in "echten" amerikanischen Pflegefamilien oder Internaten untergebracht wurden.
Ich habe Euch mal ein paar Links zusammengestellt:
Kanadas entwurzelte indigene Kinder
Hunderte indigene Kinder starben in Umerziehungsinternaten der USA
Stolen Generations

Die Berichte zeigen hauptsächlich die Auswirkungen für die Kinder. Aber ich bin sicher, dass die Eltern ähnlich wie bei Ng mit der ständigen Angst leben mussten, dass ihnen entweder die Kinder weggenommen würden, und wenn nicht bereits geschehen, sie mit der Frage leben mussten, ob sie ihre Kinder jemals wiedersehen würden. Ein absolut unmenschliches Druckmittel, um die Eltern im Zaum zu halten. Und das von Ländern ausgeübt, die man kaum mit dem Begriff "totalitärer Staat" in Verbindung bringen würde.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Sache mit den Kindern kam mir irgendwie bekannt vor. Jetzt ist es mir wieder eingefallen. Die indigenen Bevölkerungsgruppen Amerikas und Kanadas hatten auch darunter zu leiden. So wurden die Familien in Reservate verfrachtet, die Kinder allerdings gingen in Schulen, die außerhalb dieser Reservate waren, um sie vor dem negativen Einfluss ihrer eigenen Kultur zu "schützen". Viele dieser Kinder kamen leider nicht mehr nach Hause, weil sie zu ihrem eigenem Besten in "echten" amerikanischen Pflegefamilien untergebracht wurden.
Ich habe Euch mal ein paar Links zusammengestellt:
Kanadas entwurzelte indigene Kinder
Dazu kann ich einen großartigen Roman empfehlen:

Buchinformationen und Rezensionen zu Der gefrorene Himmel: Roman von Richard Wagamese
Kaufen >
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Ein absolut unmenschliches Druckmittel, um die Eltern im Zaum zu halten. Und das von Ländern ausgeübt, die man kaum mit dem Begriff "totalitärer Staat" in Verbindung bringen würde.
Das ist es und es war mir vorher nicht in dem Ausmaß bewusst, dass es in den USA ein gängiges Mittel ist. Auch die Migrantenfamilien an der mexikanischen Grenze wurden unter Trump getrennt.
 
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Reaktionen: Renie und RuLeka

petraellen

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11. Oktober 2020
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Der Roman läßt sich zweifellos in ein Genre einer Dysoptie einordnen. Amerika im Jetzt oder in einer nicht allzu fernen Zukunft?





Der Beginn löst zunächst ein merkwürdiges Gefühl aus, so als befindet man sich in einem Vakuum. Leere. Und doch sind dort Menschen. Noah genannt Bird. Sadie mit einem ähnlichen Schicksal wie Noah. Mehr und mehr breitet sich der leere Raum aus. Über alles steht PACT, das Gesetz! PACT wacht darüber, das der Feind, sich nicht ausbreiten kann. PACT ist personifiziert. PACT ist überall. PACT sorgt für Ruhe und Sicherheit. Birds Mutter musste fliehen, weil sie Person of Asien Origin ist. Sadie ist auf einmal verschwunden. Bird und Sadie haben Eltern mit asiatischer Abstammung. Birds Mutter ist asiatisch. Sie verließ ihre Familie, was Bird zunächst nicht verstand.

PACT füllt das Vacum. So wie Menschen verschwinden, verschwinden Bücher. Bird sucht ein Buch und findet es mit Hilfe einer Bibliothekarin. Bücher werden nicht verbrannt, „sie werden zerdrückt und zu Toilettenpapier recycelt“ . Die Bibliothekarin kennt das Gesetz, doch befolgt sie es wirklich? Ein leises Fluchen von ihr über PACT vernimmt Bird und sie nennt seinen Namen. Woher kennt sie seinen Namen? Offensichtlich existiert ein Widerstand tief im Untergrund. Was hat der Widerstand mit Büchern zu tun?

Bis hier hat Celeste Ng spannend und informativ ein Szenario gezeichnet, dass nicht fern von der Wirklichkeit angesiedelt ist. Rassistische und fremdenfeindliche Gedanken sind nicht frei erfunden.

Denn das schlimmste an PACT ist, dass es dem Staat erlaubt, Kinder aus Familien zu reißen, wenn die Familie als unangepasst gilt – wie z.B. Birds einzige Freundin Sadie, die gezwungen wurde, bei Pflegeeltern zu leben. Auch das ist nicht erfunden.
 
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Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Soo, jetzt bin ich auch dabei! Wie @petraellen habe ich gerade Corona hinter mir – nach 14 Tagen positiver Tests dachte ich schon, es nimmt kein Ende mehr … Deswegen hänge ich mit der Leserunde zu "Lektionen" hinterher und habe gerade erst mit "Unsere verschwundenen Herzen" angefangen.

Aber bisher bin ich sehr angetan! Irgendwie fühlte ich mich an den Schreibstil von Kazuo Ishiguro in "Klara und die Sonne" erinnert, und der ist einer meiner Lieblingsautoren. Wie @Querleserin gefallen mir die sprachlichen Bilder sehr gut.

Allerdings muss ich denen von euch zustimmen, die finden, dass manches etwas unbeholfen geschrieben ist, wie zum Beispiel die Nutzung der Hausaufgaben von Bird, um Wissen über die im Buch beschriebene Gesellschaft an Lesende weiterzugeben. Ich mag solche Erklärbärpassagen normal überhaupt nicht. Andererseits ist es nicht gänzlich unwahrscheinlich, dass den Kindern durch die stumpfe Wiederholung immer gleicher Propaganda eine Art Gehirnwäsche verpasst werden soll. Im heutigen Amerika müssen die Kinder in den meisten Schulen immer noch jeden Morgen die "Pledge of Allegiance" aufsagen.

Und dadurch, dass wir die Dinge aus Birds kindlicher Sicht sehen, stört mich das Unbeholfene auch nicht so sehr, irgendwie passt das ins Bild. Nur die Tatsache, dass anscheinend jede:r jederzeit alles mit dem Smartphone filmen kann, ohne dass das Smartphone direkt einkassiert und der Besitzer eingesperrt wird, überstrapaziert die Glaubhaftigkeit meines Erachtens etwas zu sehr. Aber wer weiß, vielleicht ist das ja auch Kalkül der Regierung! Den Menschen ein klein bisschen Freiheit lassen, damit sie nicht den Aufstand proben, und die Aufnahmen dann für eigene Propagandazwecke missbrauchen?

Apropos Amerika: wie viele von euch, musste ich auch direkt an Trump denken. Trump und seine dämlichen MAGA-Hüte. Trump und die Kinder in Käfigen, vor allem! Ich begreife sowieso nicht, warum der wieder kandidieren darf, ich dachte ja eigentlich, das hätte sich spätestens dann erledigt, als sie strenggeheime Dokumente bei ihm zuhause entdeckt haben, aber neeeeeeiiiin …

Es gibt zu viele Länder, in denen Kinder instrumentalisiert werde, um die Eltern auf Spur zu halten. Ihr habt ja schon Nordkorea und die DDR erwähnt,

Und ich weiß von amerikanischen Freund:innen, dass Menschen, die asiatisch aussehen, dort oft angefeindet werden, vor allem wegen Corona. "Ihr seid schuld, ihr habt uns das eingebrockt, blahblahblah." Da hat Trump mit seiner Rhetorik ("China virus", "China plague") voll reingekerbt. Dazu kommen die Menschen, für die eh alle Asiat:innen gleich sind und die daher auch noch den Vietnamkrieg mit in den Topf werfen.

Interessanter Artikel aus 2021:

Zur Frage, warum der Vater kein Professor mehr ist: Ich neige zu der Theorie, dass er freiwillig in einen weniger verfänglichen Beruf gewechselt ist. Er scheint ja wirklich panische Angst zu haben, auch noch seinen Sohn zu verlieren, sonst würde er ihn ja nicht so sehr dazu anhalten, so unauffällig wie möglich zu sein.

Meine Theorie ist, dass die Bibliothekarin die Mutter von Bird gut kennt und daher auch weiß, dass die ihrem Sohn früher dieses Märchen erzählt hat. Naja, und als dann ein Junge mit asiatischen Zügen bei ihr auftauchte und erst nach diesem Märchen, dann nach "Unsere verschwundenen Herzen" fragte, lag der Schluss wohl nahe, dass es sich um Bird handeln muss.

Bird und Sadie haben Eltern mit asiatischer Abstammung.

Moment, habe ich da was falsch gelesen? Ich dachte, Sadies Mutter ist/war schwarz? Da muss ich doch gleich nochmal nachlesen …
 

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29. März 2022
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Bei mir war der Abschnitt schon auf Seite 79 zu Ende? Egal.
Bei mir ebenfalls.
Amerika sieht seine Vormachtstellung in der Welt ernsthaft bedroht. Allein deshalb wetterte Trump gegen China. Da hat es ihm gepasst, dass Corona aus Asien kam.
Das war schon in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts so, als Japan auf dem wirtschaftlichen Vormarsch war. Es entstand so etwas wie interkulturelle Trainings, um besser vorbereitet zu sein für Geschäfte im Ausland mit den Fremden - letztlich um wirtdschaftlich Schritt halten zu können.
Bibliothekare sollten zu den Guten gehören.
Ganz meine Meinung.
Die Sache mit den Kindern kam mir irgendwie bekannt vor. Jetzt ist es mir wieder eingefallen. Die indigenen Bevölkerungsgruppen Amerikas und Kanadas, genauso wie die australischen Aborigines hatten auch darunter zu leiden. So wurden die Familien in Reservate verfrachtet, die Kinder allerdings gingen in Schulen, die außerhalb dieser Reservate waren, um sie vor dem negativen Einfluss ihrer eigenen Kultur zu "schützen". Viele dieser Kinder kamen leider nicht mehr nach Hause, weil sie zu ihrem eigenem Besten in "echten" amerikanischen Pflegefamilien oder Internaten untergebracht wurden.
Oh, krass. Das war mir nicht bekannt. Ist aber eine ähnliche Logik, wie das Sanktionieren des Muttersprache-Sprechens an afrikanischen Schulen.
 

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29. März 2022
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So, ich bin nun auch dabei. Mein erstes Buch von Ng - bisher gefällt es mir gut.
Eine Geschichte über Überwachung, vielleicht q984 reloaded?
Hier, wie im realen Leben werden bewusst Andere konstruiert, um die eigene Identität zu schützen. Daher hat man es wohl auf asiatisch-stämmige Menschen abgesehen. Menschen verschwinden, aber auch Bücher.
Die Bibliothekarin weiß doch irgendwas. Kennt sie Birds Mutter?
Bird selbst ist mir ein sympathischer Junge, mit dem ich mitfiebere. Ich bin gespannt, was er über seine Mutter wird herausfinden können.
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Eine gemeinsame Entscheidung der Eltern (vernunftgesteuert)? Oder eine einsame der Mutter, weil sie die Gefahr für ihren Sohn sah?

Die Eltern haben sich vor ihrem Verschwinden gestritten. Vermutlich waren sich beide nicht einig über das Vorgehe. Ich tendiere daher zu letzterer Antwort.

Vielleicht habt ihr kein Leseexemplar? Bei letzterem ist nämlich eine Doppelseite mit Ansprache von Celeste eingefügt.

Dass sich Autoren zwischendurch äußern, war mir neu. Interessant. Nee, dann haben wir keine Leseexemplare.

Ich frage mich, wieso es ausgerechnet gegen die asiatisch-stämmigen Amerikaner geht. Oder ist es, weil China als die große Gefahr angesehen wird?

In wirtschaftlicher Hinsicht gibt es keine größere Konkurrenz als China. Für mich also nur schlüssig, dass es gegen die Chinesen geht.

Endlich mal wieder ein Roman mit jungem Protagonisten, der seine Hauptfigur auch ernst nimmt!

Ja! Auch einer meiner ersten Gedanken. ;-)
 

milkysilvermoon

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13. Oktober 2017
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Ich habe sehr geteilte Meinungen zu diesem Roman im Vorfeld gehört. Deshalb war ich nur vorsichtig optimistisch, aber dennoch nach „Kleine Feuer überall“ mega gespannt und voller Vorfreude. Nach dem ersten Abschnitt bin ich nicht enttäuscht, obgleich ich diesen Roman im direkten Vergleich als weniger literarisch empfinde. Letzteres könnte aber auch einfach am Inhalt liegen.

Nach den ersten Kapiteln stellen sich mir noch viele Fragen. Einiges bleibt im Unklaren. Ich denke, dass das eine oder andere sich vielleicht schon auf den nächsten Seiten klären könnte.
 
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Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Für mein Empfinden liest es sich weniger literarisch, weil es sich über lange Strecken eher wie ein Jugendbuch liest. Es gefällt mir trotzdem, aber manche Dinge erscheinen mir sehr vereinfacht und auch nicht immer hundertprozentig schlüssig. (Aber ich glaube, die Beispiele, an die ich gerade denke, kamen erst im nächsten Leseabschnitt.)
 
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