1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 50

Literaturhexle

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1.Leseabschnitt: Beginn bis Seite 50

Letzter Halbsatz: "..., ist es so, dass sie manchmal dabei ist und manchmal nicht."
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Tja, da hat er mich schon wieder, der Gert Loschütz.

Ich brauchte vielleicht fünf bis acht Seiten, um mich in der "Ballade" zurechtzufinden. Ein wenig sprunghaft sind die ersten Strophen, ich musste alles erstmal einordnen. Wer erzählt wem was und wann? Man muss immer ein wenig überlegen. Vera wird immer mit "Du" angesprochen. Aus dem Gespräch mit ihr entwickelt sich die eigentliche Grundlage der Geschichte.

Diese ist in meinen Augen tieftraurig. Karsten Leiser ist voller Trauer und Wut - seit der Kindheit, der Entwurzelung, dem Verlassen der Heimat.

Dieser Tag der Flucht lässt ihn bis ins Erwachsenenalter nicht mehr los. Er ist nicht nur Entwurzelung, sondern in Karstens Augen wohl auch Ursache für den frühen Tod der Mutter nur ein Jahr später.

Die Sprache ist beeindruckend, elegant, gewaltig. Die Atmosphäre, die die Bilder aus Plothow transportieren, finde ich hinreißend. Die Pappeln, der Kanal, das Bellen der Hunde - alles ist so plastisch und strahlt gleichzeitig eine große Melancholie aus.

"Daß es war, als sei der ganze Ort unsere Wohnung gewesen und das Gras hinter der Brücke mein Bett." (S. 46) Kann man eine tiefere Verbundenheit zu seiner Heimat ausdrücken?

Andere Sätze, die hängen bleiben:
"Ging aber einer um, der Unruhe hieß." (u.a. S. 41). Und vielleicht der wichtigste überhaupt: "Sieh dich nicht um." (u. a. S. 20) Eine Forderung, die Karsten auch nach 30 Jahren nicht erfüllen kann.

Bis auf das so häufig auftauchende "ß" in der alten Rechtschreibung deutet für mich übrigens nichts darauf hin, dass der Roman über 30 Jahre alt ist. Den hätte man mir auch als neues Werk verkaufen können. Zeitlose Kunst!

Ich kenne zwar bisher nur zwei Romane von Gert Loschütz (mit diesem), glaube aber schon, so etwas wie einen eigenen Loschütz-Sound herauszuhören. Er hat etwas ganz Besonderes, etwas Eigenes. Eine gewisse Tragik, Melancholie, Traurigkeit.

Vergleicht man seine Lebensgeschichte mit der Karstens fallen einem sofort autobiografische Bezüge auf. Die Flucht aus dem Osten, aus Genthin, wie schon in der "Besichtigung eines Unglücks" ein Thema. Plothow wird also Genthin sein, Wildenburg wohl Dillenburg in Hessen.
 

Literaturhexle

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Ich war überrascht, dass es diesen Ort Plothow, der eine Stunde mit der Bahn entfernt von Westberlin liegt, gar nicht gibt, diesen Sehsuchtsort des Erzählers.

Ich habe etwas Zeit gebraucht, um im Buch anzukommen. Loschütz macht viele Zeitsprünge. Er leidet unter seiner Flucht in den Westen, auf die ihn seinerzeit niemand vorbereitet hat, die gegen seinen Willen vollzogen wurde.

Der Tag der Flucht ist der Tag , der nie vorüber ist.

Jedes Jahr scheint dieses Datum Anfang Mai eine Art Depression im Ich-Erzähler auszulösen. Ehrlich gesagt, kann ich mir das kaum vorstellen. Aber es wird so intensiv, so eindringlich, in so detaillierten Bildern erzählt, dass man den Schmerz fühlen kann.

Diese Details machen es deutlich: Die Großmutter, die vor dem Abschied noch mal neben dem Enkel gehen will, das herrenlose Fahrrad, der Kanal, die Brücke, der Kirchturm. Die Wohnung, die ordentlichst hinterlassen wird, der letzte Rundgang bei Dunkelheit durch den Ort. Das "Dreh dich nicht um", wird zum Mantra eines ganzen Lebens. Tragisch, dass die Mutter die Flucht nur um ein Jahr überlebt. Wie empathielos der Junge aus der Klasse gerufen wird...

Es gibt weitere Bezugsorte: Tipperary, eine Stadt in Irland und Anzio, 50 km südlich von Rom am Mittelmeer gelegen. In Anzio hat der Erzähler das erste Mal das Datum vergessen. Man freut sich, um kurze Zeit später zu erleben, wie er aus dem Hotel geworfen wird, weil er Deutscher ist. Ja, die Kriegswunden sind noch nicht verheilt.

Er hat einen journalistischen Auftrag übernommen. Ist er die Ursache, warum er sich seinem Heimatort wieder nähern will? Das ist mir noch nicht so klar. Auch weiß ich noch nicht, wer Vera ist. Ich nehme an, seine Frau oder Geliebte.

Der Loschütz-Sound ist einmalig, aber nicht einfach. Man muss sich erst einmal eingrooven. Ich habe bereits viele Sätze entdeckt, die in ihrer Ausdrucksstärke kaum zu toppen sind:
"Ich ging diesen Weg nie allein, auch wenn mich niemand begleitete, weil in meinen Gedanken immer die Menschen dabei waren, die ich verlassen hatte oder die mich verlassen hatten."
Dass sich diese Landschaft in mir festgefressen hatte wie eine Krankheit.
Gerade du müsstest doch wissen, dass man nichts mitnehmen kann und das Gepäck leicht halten muss
Womit ich wenig anfangen kann, sind die Träume. Sie unterstreichen das bohrende Heimweh, das den IE nun schon seit Jahren quält. Wer ist der Mann im Zug, der angeblich aus dem Fenster sprang? Ist das nicht eine Phantasie unseres IE selbst?

Ich hoffe, dass manches noch klarer wird während der weiteren Lektüre. Den ein oder anderen Schnipsel kann ich noch nicht einsortieren. Ich befürchte, das wird wieder eins von den Büchern sein, die man gleich noch einmal lesen möchte;)
 

Literaturhexle

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Die Sprache ist beeindruckend, elegant, gewaltig.
Ja. Von der ersten Zeile an fängt einen die Sprache ein, auch wenn man die Handlung noch nicht einordnen kann. Habe ich empfunden wie du.
Den hätte man mir auch als neues Werk verkaufen können. Zeitlose Kunst!
Hat man ja auch;). ich meine, in der Vorschau habe ich nichts von der Neuauflage gelesen. Ich dachte zunächst auch, es wäre ein neuer Roman - obwohl wenn er relativ dicht auf das Unglück folgte.
Aber der Titel ist um Klassen besser ("Flucht" klingt doch völlig banal und passt nicht zum Schreibstil) und das Cover passt optimal zu den beiden anderen Loschützens, die sich schon auf ihren neuen Kumpel im Regal freuen:p
Er hat etwas ganz Besonderes, etwas Eigenes. Eine gewisse Tragik, Melancholie, Traurigkeit.
Hach, Christian! Wie schön du das wieder formuliert hast!
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Inhaltlich kann nichts mehr hinzufügen. Auch ich habe ein wenig gebraucht mich einzufinden. Beim Lesen muss man sehr fokussiert sein, so dicht ist die Sprache mit ihren Bildern. Der Beginn ist fast wie Mantra, immer wieder erinnert er sich daran, was er in an jenem Datum, an dem Tag gemacht hat, wenn sich der Tag der Flucht nähert. Ein Tag, der bis heute tiefe Wunden hinterlassen hat und der Auslöser für Reisen des Protagonisten wird, um der Heimatlosigkeit zu entkommen. Ein Unterfangen, das misslingt, denn er hat das Reisen eingestellt. Wenn ich es richtig verstanden habe, nimmt er aber, weil,der Redakteur ihn für einen anderen, Götz, hält, einen Auftrag an, um Heimat zu schreiben. Dies ist der Auslöser dafür, dass der Ich-Erzähler Vera, Du, all dies erzählt. Ein assoziativer innerer Monolog mit vielen Ortswechseln und verschiedenen Zeitebenen.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Man muss sich einlassen auf diesen Text und akzeptieren, dass nicht alles gleich verständlich ist.
Was mir von Anfang an gefällt sind die Stimmungsbilder, die Loschütz schafft. Landschaften, Menschen, Gefühlsebenen…
Mit Träumen in Büchern tue ich mich generell schwer.
Ein wenig sprunghaft sind die ersten Strophen
Den Begriff „ Strophen“ finde ich sehr stimmig, wäre allerdings nicht selbst darauf gekommen. Passt natürlich zur Bezeichnung „ Ballade“.

In der deutschen Literatur ab dem späten 18. Jahrhundert versteht man unter „Ballade“ ein mehrstrophiges erzählendes Gedicht (mit Versen, Strophen, Reimen und Metrum), das häufig mittelalterlich-märchenhafte, antike oder zeitgenössische Stoffe aufgreift und deren Handlung mit einer Pointe endet. Es gibt keine Thematik, die spezifisch „balladisch“ ist. Balladen können den dargestellten Gegenstand ernsthaft, humoristisch oder ironisch behandeln.
( Quelle: Wikipedia)

Mal sehen, inwieweit dieser Roman dem Gattungsbegriff „ Ballade“ entspricht.

Vergleicht man seine Lebensgeschichte mit der Karstens fallen einem sofort autobiografische Bezüge auf. Die Flucht aus dem Osten, aus Genthin, wie schon in der "Besichtigung eines Unglücks" ein Thema. Plothow wird also Genthin sein, Wildenburg wohl Dillenburg in Hessen.
Die autobiographischen Bezüge sind auf jeden Fall vorhanden. Die Flucht aus Genthin scheint Loschütz‘ Lebensthema zu sein Darum und um die Folgen geht es auch in „ Ein schönes Paar.

Interessanter Gedanke: Der Ich- Erzähler reist nicht gerne, weil ihm sein Rückzugsort fehlt , der Kollege ist ständig auf Reisen und kehrt dann in seinen Heimatort zurück.
Meistens glaubt man doch, der Reisende sei ein Ruheloser, der nirgends daheim ist und der „ Stubenhocker“ genießt sein Heim.
Das "Dreh dich nicht um", wird zum Mantra eines ganzen Lebens.
Doch der Sohn hält sich überhaupt nicht daran. Er wird sich sein Leben lang umdrehen und Rückschau halten. Ist das gut für einen Neubeginn? Sollte man sich nicht verabschieden können, um vorwärts zu sehen?
 

Christian1977

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Ich war überrascht, dass es diesen Ort Plothow, der eine Stunde mit der Bahn entfernt von Westberlin liegt, gar nicht gibt, diesen Sehsuchtsort des Erzählers.
Ich musste das auch suchen und bin bei der "Zeit" fündig geworden. Offenbar hat Gert Loschütz auch in "Ein schönes Paar" aus Genthin Plothow gemacht. Die Wildenburg gibt es hingegen im Kreis Euskirchen, aber nichts spricht dafür, dass dieser Ort gemeint ist. Die Hinweise auf die Großstadt F. und den Flughafen sprechen für Frankfurt, deshalb würde Loschütz' Fluchtort Dillenburg passen. In "Ein schönes Paar" machte er daraus Tautenburg, weiß die "Zeit".
Aber es wird so intensiv, so eindringlich, in so detaillierten Bildern erzählt, dass man den Schmerz fühlen kann.
Das ging mir genauso. Gert Loschütz erreicht mit seiner Sprache, seinem Sound wirklich eine hohe Intensität. Irgendetwas bringt er damit in mir zum Schwingen, wenn man das so sagen kann.
wie er aus dem Hotel geworfen wird, weil er Deutscher ist. Ja, die Kriegswunden sind noch nicht verheilt.
Das hatte ich nicht so verstanden, aber du könntest natürlich recht haben. Diese Ablehnung, weil er Deutscher ist, habe ich zwar auf dieser Feier gespürt, aber ich dachte, dieser Engländer hätte das gesamte Hotel gebucht. Kann auch ein Vorwand gewesen sein.
 

Christian1977

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Interessanter Gedanke: Der Ich- Erzähler reist nicht gerne, weil ihm sein Rückzugsort fehlt , der Kollege ist ständig auf Reisen und kehrt dann in seinen Heimatort zurück.
Meistens glaubt man doch, der Reisende sei ein Ruheloser, der nirgends daheim ist und der „ Stubenhocker“ genießt sein Heim.
Diesen Gedanken musste ich einige Male lesen, um ihn zu verstehen. Ich halte ihn auch für einen der intensivsten Momente des ersten Abschnitts, der in knappen Worten das ganze Dilemma des Protagonisten ausdrückt.
Ist das gut für einen Neubeginn? Sollte man sich nicht verabschieden können, um vorwärts zu sehen?
Doch, das sollte man natürlich. Aber manchmal geht es wohl nicht. Insbesondere wenn diese Entwurzelung bereits in der Kindheit stattfindet, der Junge nichts wiedersieht, weder Freunde noch Landschaft. Zentral ist wohl auch die Verbindung des Datums mit dem Tod der Mutter.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Mir ging es tatsächlich ähnlich wie den meisten hier: ich musste mich einlesen - die ersten 20 Seiten habe ich auch tatsächlich 2x gelesen. Ich habe relativ schnell gemerkt, dass man für die Lektüre eines/dieses Loschütz-Romans wach sein muss; es eignet sich nicht unbedingt als Bettlektüre - dafür ist die Story zu melancholisch. Aber ich bin überwältigt von der bildgewaltigen Sprache; alle Sätze, die ihr genannt habt, habe ich mir auch mit einem Bookdart versehen. Auch diesen hier hab ich mir markiert:
Was ist das, das macht: Pakete schnüren, Koffer packen, Kind belügen, Freunde stehlen, Spielplätze zerstören, Stuhl und Tisch allein lassen, Wohnung abschließen, weggehen? (S. 41)
Sehr intensive Lektüre bisher...
 

Literaturhexle

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Mit Träumen in Büchern tue ich mich generell schwer.
Wie gut, dass ich da nicht die einzige bin! Ich tue mich generell mit psychologischen Deutungen schwer, die über gesunden Menschenverstand hinausgehen.
deshalb würde Loschütz' Fluchtort Dillenburg passen. In "Ein schönes Paar" machte er daraus Tautenburg, weiß die "Zeit".
Gut recherchiert. Da habe ich mich beim Lesen des schönen Paars gar nicht darum gekümmert. Das ist der Vorteil, wenn man in (guter) Gesellschaft liest:)
Diese Ablehnung, weil er Deutscher ist,
Die italienischen Veteranen haben die Befreiung, die Anlandung der Alliierten, gefeiert. Da wollten sie den deutschen "Feind" nicht im Festsaal haben. Der Mann am Strand hat ja noch sein Bedauern geäußert, dass damit kein Rauswurf aus dem Hotel gemeint war. So jedenfalls mein Verständnis.
Diesen Gedanken musste ich einige Male lesen, um ihn zu verstehen.
Dank eich habe ich ihn nun auch verstanden. Zuvor habe ich ihn eher als belanglos abgetan. Aber belanglos ist hier nichts.
 

kingofmusic

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Die Sprache ist beeindruckend, elegant, gewaltig.
Ja, und sehr gewählt, fast vornehm :cool: .
"Sieh dich nicht um." (u. a. S. 20) Eine Forderung, die Karsten auch nach 30 Jahren nicht erfüllen kann.
Halte ich auch ehrlich gesagt für schwierig - man kann glaube ich noch so dagegen anarbeiten; zurückblicken tut man immer. Spätestens wenn man im Sterben liegt.
Er hat etwas ganz Besonderes, etwas Eigenes. Eine gewisse Tragik, Melancholie, Traurigkeit.
Das spürt man in jeder Zeile, jedem Absatz - überwältigend.
Er leidet unter seiner Flucht in den Westen, auf die ihn seinerzeit niemand vorbereitet hat, die gegen seinen Willen vollzogen wurde.
Ich glaube, da leiden viele drunter, die geflohen sind, fliehen mussten...
Ehrlich gesagt, kann ich mir das kaum vorstellen.
Warum nicht?
Wer ist der Mann im Zug, der angeblich aus dem Fenster sprang? Ist das nicht eine Phantasie unseres IE selbst?
Das habe ich auch so empfunden :cool:.
 

Literaturhexle

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Weil ich denken/hoffen/wünschen würde, dass man eine neue Heimat mit neuen lieben Menschen findet und der Schmerz nachlässt. "Die Zeit heilt alle Wunden", heißt es nicht ganz zu Unrecht. Natürlich bleiben Narben, die manchmal auch weh tun. Aber sie schmerzen halt immer weniger.
Allerdings ist Gert Loschütz ein ganz anderer Charakter als ich. Man spürt an seinem Schreibstil, dass er ein zur Melancholie neigender Denker ist, sonst könnte er Gefühle nicht dermaßen intensiv ausdrücken.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
mit-büchern-um-die-welt.de
In Anzio hat der Erzähler das erste Mal das Datum vergessen. Man freut sich, um kurze Zeit später zu erleben, wie er aus dem Hotel geworfen wird, weil er Deutscher ist. Ja, die Kriegswunden sind noch nicht verheilt.
Diese Episode ist die einzige, die mit einer Jahreszahl zu verorten ist, sie muss nach meinen Recherchen 1984 spielen.

Wer ist der Mann im Zug, der angeblich aus dem Fenster sprang? Ist das nicht eine Phantasie unseres IE selbst?
Das muss er sein. Er war also 10 bei der Flucht, seine Mutter 35 und sie starb mit 36.

Aber der Titel ist um Klassen besser ("Flucht" klingt doch völlig banal und passt nicht zum Schreibstil).
1990 hat der Titel sicher gepasst, heute ist er "verbraucht".

Ich habe den ersten Abschnitt zweimal gelesen, weil ich zunächst nicht hineingefunden habe. Nun bin ich bisher zwiegespalten: Einerseits gefallen mir der Ton, die Bilder, die Sprache allgemein und auch das Puzzlehafte mag ich eigentlich gern, andererseits ist es mir doch noch zu unkonkret, es fehlen mir ein paar Daten, mit denen ich das Geschehen besser verorten kann. Mal sehen, ob das noch kommt.

Ansonsten habe ich auch im zweiten Anlauf nicht alles verstanden, beispielsweise die Vertreibung aus dem Hotel oder die Mitnahme des Schlüssels, aber ich hoffe noch auf Aufklärung.

Dass man so gar nicht in der neuen Heimat ankommt, kann ich nicht wirklich nachvollziehen, aber durchaus, dass Karsten der Kindheit nachtrauert, den Großeltern, der märkischen Landschaft. Andererseits verhindert die intensive Zurücksicht hier offensichtlich das Ankommen. Welchen Anteil hat wohl der Tod der Mutter nur ein Jahr nach der Flucht? Und was ist mit dem Vater?

Der fehlende Wille zu Reisen bei seiner Heimatlosigkeit leuchtet mir ein. Er hat seine Wurzeln verloren und hat deshalb keine Flügel.

Der Himmel ist im Westen und im Osten gleich blau, aber im Westen ist es nur Tünche (S. 9). Ein zutiefst pessimistischer Gedanke von einem, der gar nicht ankommen will?

Eine eindrückliche Stelle: "Es ist etwas Merkwürdiges, mit den Gedanken immer zum gleichen Tag zurückkehren zu müssen und alles, was danach geschehen ist, auf ihn zu beziehen." (S. 20) - Es stellt sich aber schon die Fragen, ob es ein Müssen oder ein Wollen ist?
 
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Literaturhexle

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Andererseits verhindert die intensive Zurücksicht hier offensichtlich das Ankommen.
Definitiv! Den Vorwurf muss er sich gefallen lassen. Aber er kommt wahrscheinlich nicht aus seiner Haut raus. Vielleicht macht es die Tatsache schwerer, dass es für ihn so rücksichtslos plötzlich kam und er keine Zeit hatte, Abschied zu nehmen?

Der fehlende Wille zu Reisen bei seiner Heimatlosigkeit leuchtet mir ein. Er hat seine Wurzeln verloren und hat deshalb keine Flügel.
Schöne Erklärung. Mir leuchtet es eigentlich nicht ein. Wenn ich kein Zuhause habe, bin ich doch im Grunde überall daheim- oder nirgends.
 
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Reaktionen: RuLeka und Barbara62

kingofmusic

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Vielleicht macht es die Tatsache schwerer, dass es für ihn so rücksichtslos plötzlich kam und er keine Zeit hatte, Abschied zu nehmen?
Ja, ich glaube an diesem "Überfall" knabbert er sein ganzes Leben. Auf der anderen Seite wollte seine Mutter ihn vielleicht dadurch "schützen" oder verhindern, dass er sie unbewusst verrät. Wir wissen es nicht :cool:.
 

Literaturhexle

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Ja, ich glaube an diesem "Überfall" knabbert er sein ganzes Leben. Auf der anderen Seite wollte seine Mutter ihn vielleicht dadurch "schützen" oder verhindern, dass er sie unbewusst verrät. Wir wissen es nicht :cool:.
Aus Sicht der Mutter ist das Verhalten absolut verständlich. Ein Verplappern hätte weit reichende Folgen gehabt. Aber für den Jungen macht es das schwerer.