1. Leseabschnitt: Beginn bis Seite 41

Literaturhexle

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2. April 2017
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Beginn bis Seite 41 (Letzter Satz: "Ich öffnete es und sah, dass es seine Sparkasse war.")
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Wir lauschen hier der Erzählung eines Anwalts, der eine Kanzlei an der Wallstreet betreibt. Er beschreibt sich selbst als Anwalt, der sich nur mit den ruhigen Dingen dieser Arbeit befasst, und das macht er gründlich und gewissenhaft wie Namensaktie Menschen bezeugen. Ein Pladoyer vor Geschworen will er indes nicht führen.
Nun erzählt er uns als Leser in diesem Abschnitt von seinen Angestellten. Er berichtet recht amüsant von ihrem Arbeitstempo und von ihrer Gesinnung zu den unterschiedlichen Tageszeiten. Es ist irgendwie komisch und doch erfrischend wieviel Energie er in diese Beschreibung legt, obwohl er von Anfang an betont, dass es hier um Bartlebey gehen soll, der erst später als Schreiberling in seiner Kanzlei beginnt. Dieser erledigt die Abschriften zwar sauber und Effizient, aber alle anderen Anliegen lehnt er mit der Bemerkung “ Ich möchte lieber nicht ab”. Sehr skurril, da man meinen sollte, dass der Erzähler als Arbeitgeber sich Gehör verschaffen müsste. Doch er lässt es ihm durchgehen, schätzt seine anderen Fähigkeiten und Eigenschaften wohl,Sommerhit, dass er sich arrangieren kann. Nun bemerkt er außerdem, dass der Gehilfe im Büro übernachtet, eine Tatsache die ein Chef normalerweise auch nicht duldet. Ich bin gespannt was uns dieses merkwürdige Gespann noch an Absonderlichkeiten zu bieten haben wird.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
Melville liefert uns eine umfassende Einleitung, in der er uns quasi erklärt, wie Literatur aufgebaut zu sein hat.
…. Ist es zweckmäßig, dass ich einiges über mich selbst ….. sage; denn eine solche Schilderung ist unerlässlich, damit man die Hauptperson, die hier dargestellt werden soll, hinreichend versteht.
Das fand ich zugegebenermaßen etwas aufgesetzt. Bin aber sehr schnell wieder froh gestimmt worden, denn ich gebe Melville recht: diese Klasse von Menschen (Aktenkopisten und Schreibgehilfen) ist auch nach meiner Leseerfahrung bisher unterbelichtet in der literarischen Darstellung und birgt doch wirklich viel Potential für gute Geschichten und unvergleichliche Charaktere. Solche erschafft Melville dann auch gleich mehrfach. Das Duo Turkey und Nippers - der eine nur am Vormittag, der andere nur am Nachmittag zu gebrauchen - bietet da schon einiges an Kuriositäte, die mich auch gleich durch die Art von Humor, die Melville hier an den Tag legt, gepackt haben. Und dann kommt noch Bartleby dazu und mit ihm ein wohl noch größeres Maß an Kuriosum. Wobei: der wirklich kuriose Typ ist doch hier am ehesten der Erzähler, der Kanzlist, der sich da so bodenlos auf der Nase herumtanzen lässt. Einfach köstlich!
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Diese Anwaltskanzlei wirkt nicht so als ob sie der Norm entspricht. Der Chef lässt es eher ruhig angehen und seine Mitarbeiter sind entweder vormittags oder nachmittags zu gebrauchen. Und Bartleby ist garnicht zu gebrauchen, nicht richtig jedenfalls. Allem Anschein nach hat er sich auch noch in der Kanzlei eingenistet. Ob er tatsächlich obdachlos ist? Vielleicht kann er auch nicht lesen, nur kopieren. Das würde einiges erklären. Dass er andere Wünsche auch nicht erfüllt, ist nur Tarnung. Ob es heutzutage Chefs gibt, die sich das bieten lassen?
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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denn ich gebe Melville recht: diese Klasse von Menschen (Aktenkopisten und Schreibgehilfen) ist auch nach meiner Leseerfahrung bisher unterbelichtet in der literarischen Darstellung und birgt doch wirklich viel Potential für gute Geschichten und unvergleichliche Charaktere.
Ich muss da sofort an Flaubert denken, der in seinem letzten, unvollendeten Roman "Bouvard und Pécuchet" ebenfalls zwei Schreiber zu Hauptfiguren macht. Die beiden Herren, berufliche "Abschreiber", sind vielseitig interessiert und kaufen, als sie durch eine Erbschaft zu Geld kommen, ein Gut auf dem Land. Fortan beschäftigen sie sich mit verschiedenen Wissenschaften, Literatur, Theater, Geschichte, versuchen Konserven herzustellen, Schnaps zu brauen und Melonen zu pflanzen, alles gleich erfolglos, weil sie letztlich ganz planlos drauflos wirtschaften. Am Ende haben sie fast ihr ganzes Geld verloren und beschließen: sie möchten "wieder abschreiben, wie früher!"

Interessant an der Person des Erzählers finde ich übrigens, dass er keine rechte Freude am Fleiß Bartlebys empfinden kann, weil es kein "freudiger" Fleiß ist. Bartleby schreibt "stumm, bleich und mechanisch". Da es in der ganzen Geschichte letztlich um mechanische, unkreative Arbeit geht, finde ich diese Unterscheidung eigentlich recht außergewöhnlich für den Arbeitgeber.

Übrigens habe ich eine Biographie Melvilles neben mir liegen, die ich mir gekauft habe, als ich vorletztes Jahr die Moby Dick-Übersetzung von Rathjen gelesen habe. Ich habe sie damals auch gelesen, heute aber vieles wieder vergessen, außer dass Melville sich im großen und ganzen sein Leben lang für Familienpflichten aufgerieben hat und nie so recht das machen konnte, wozu er sich eigentlich berufen fühlte.
 

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Mir gefällt die Erzählung bisher richtig gut. Melvilles Schreibstil ist so einnehmend wie unterhaltsam, die Figuren ganz wunderbar verschroben.

Den stillen Humor habe ich genossen und zudem immer wieder kluge Sätze entdeckt.

"Ich bin ein Mann, der von Jugend auf zutiefst von der Überzeugung durchdrungen war, dass die bequemste Lebensführung die beste ist." Kann ich so zu 100 Prozent unterschreiben. Auch wie der Ich-Erzähler sich ansonsten charakterisiert ist verblüffend ehrlich und so überrascht es wenig, dass er diesen kuriosen Haufen um sich gescharrt hat.

Da es in der ganzen Geschichte letztlich um mechanische, unkreative Arbeit geht, finde ich diese Unterscheidung eigentlich recht außergewöhnlich für den Arbeitgeber.
Ist es auf jeden Fall, doch sein ganzes Verhalten zeigt in meinen Augen diese Außergewöhlichkeit.

Ich freue mich richtig auf die zweite Hälfte und habe zudem keinen Schimmer, wie sich die Geschichte entwickeln wird. Super!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich kann mich euren Lobeshymnen nur anschließen! Von der ersten Seite an bin ich gepackt. Wir haben es hier mit einer Kanzlei voll mit kuriosen Gestalten zu tun. Der Anwalt selber ist ein grundgütiger Mensch, der seinen Gehilfen enorm viel Empathie und Verständnis entgegenbringt. Er schätzt deren Vorteile und kann über die Nachteile großzügigst hinwegschauen. In seinen Ausführungen bekommt man nicht nur ein gutes Bild seines Personals, sondern eben auch von ihm selbst. Ich stimme momentan mit @wal.li überein und vermute, dass Bartleby nicht lesen kann und das zu kaschieren versucht - wäre es doch bei einem normalen Arbeitgeber der Dolchstoß... Nun lebt der arme Kerl auch noch in der Kanzlei. Unser Erzähler braust aber nicht auf, sondern fühlt sich "von einer brüderlichen Schwermut" erfasst - welch ein Menschenfreund!

Ich liebe mal wieder die Sprache, habe ich bis jetzt noch nichts von Melville gelesen. Wie hast du den Moby Dick empfunden, @wal.li ? Ich hörte, er geht sehr ins Detail, was den Walfang betrifft, und der Roman hätte etliche Längen. Für andere ist er wiederum das "Buch für die Insel".

Manche Formulierungen liebe ich und freue mich auf die zweite Hälfte. Was eine tolle Neuentdeckung für mich!
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Ich liebe mal wieder die Sprache, habe ich bis jetzt noch nichts von Melville gelesen. Wie hast du den Moby Dick empfunden, @wal.li ? Ich hörte, er geht sehr ins Detail, was den Walfang betrifft, und der Roman hätte etliche Längen. Für andere ist er wiederum das "Buch für die Insel".
Von Moby Dick kursieren ja etliche gekürzte Fassungen. Ich hatte letztes Jahr eine vollständige Übersetzung von Rathjen und finde, es ist ein sehr philosophisches Buch, das sich um viele wichtige Themen annimmt, zb auch über Rassismus und Zerstörung der natürlichen Lebensräume. Es hat seine Längen, ich fand es aber lohnend.
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Ich liebe mal wieder die Sprache, habe ich bis jetzt noch nichts von Melville gelesen. Wie hast du den Moby Dick empfunden, @wal.li ? Ich hörte, er geht sehr ins Detail, was den Walfang betrifft, und der Roman hätte etliche Längen. Für andere ist er wiederum das "Buch für die Insel".
"Moby Dick" habe ich als Kinderbuchversion gelesen (schon lange her) und als Film gesehen. Ich fand es etwas unheimlich und grausam.