1. Leseabschnitt: Beginn bis S. 166 (Kapitel 1bis 7)

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Ich bin sehr schnell in das Buch reingekommen: ansprechende Geschichte, leicht geschrieben... praktisch ein Selbstläufer. Die Geschichte wird in zwei Zeitebenen erzählt. Ab 1902 über den jungen Mathis und den Beginn seiner Karriere und ab 1935 über den älteren, gezeichneten Mathis.

Es geht los in Berlin 1935:

Mathis Bohnsack ist Schausteller und lebt mit seiner Partnerin Meta, einer Kraftfrau, und ihrem geistig zurückgebliebenen Bruder Ernsti, in einem Wohnwagen inmitten einer kleinen Kolonie von Schaustellern und Kleinkünstlern am Rande Berlins. Die Nazis haben Deutschland fest im Griff und einzelne offenbar unerwünschte Einwohner der Wohnwagensiedlung wurde verhaftet, weggeschleppt oder sind spurlos verschwunden. Mathis will ein Buch über die Artisten schreiben, damit sie nicht vergessen werden. Meta, eine sehr pragmatische Frau, hat dafür allerdings wenig Verständnis. Sie sieht vor allem das damit verbundene Risiko sowie die Kosten. Eines Tages erhalten Mathis und Meta Besuch von Thorak, einem NS-Staatskünstler. Dieser will von Meta eine Skulptur fertigen und damit Hitlers neues Olympiastadion schmücken. Meta drückt sich zunächst, muss sich aber später Thoraks Wunsch beugen.

Dann geht es zurück in der Zeit nach 1902:

Mathis ist als Sohn eines Bohnenbauern in einem kleinen Dorf, das bezeichnenderweise Langweiler heißt, aufgewachsen. Er ist der 13. Sohn und hat aufgrund einer Kinderlähmung ein lahmes Bein. Da er außerdem gegen Bohnen allergisch ist, hat er einen schweren Stand bei seinem Vater und wird häufig von seinen Brüdern verprügelt. Als Mathis 15 ist, kommt ein Zirkus in das Dorf und Mathis „verliebt“ sich in einen Röntgenapparat. Er reißt von zu Hause aus und schließt sich Meister Bo, dem Eigentümer des Röntgenapparats, als Assistent an.

Die wechselnden Zeitebenen entwickeln eine besondere Spannung. Einiges, was man bereits aus 1935 weiß, ereignet sich gerade erst in 1902 oder muss sich dort erst noch ereignen. Guter Kniff!
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.076
49
Ich bin zwar noch nicht fertig mit dem Abschnitt, finde aber die beiden unterschiedlichen Zeitperspektiven ebenfalls interessant: einmal Mathis als neugieriger Junge, einmal als gestandener Mann. Das Buch ist sehr eingängig geschrieben, das tut mir mal wieder gut!

Spannend, dass es die Künstlerinnen, die Mathis zu seinen Recherchezwecken trifft, wirklich gegeben hat. Man kann bei Wikipedia schauen und sieht Bilder und Lebensgeschichten von Augusta von Zitzewitz, Claire Waldoff usw.
Das gibt dem Roman eine sehr authentische Note.

Beängstigend natürlich das Röntgengerät auf dem Jahrmarkt. So etwas hat es ja tatsächlich gegeben, man will sich nicht ausmalen, welche Schäden sie aus Unwissenheit und völlig zum Spaß angerichtet haben. Mathis selbst verliert ja Finger um Finger als Resultat der Verstrahlung.
 

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.640
4.803
49
62
Essen
Dass es immer noch unerzählte Geschichten aus dem dunkelsten Kapitel unsere Geschichte gibt, ist schon erstaunlich. Und dann auch noch so ein packendes. "Gleichschaltung"- ein Begriff, den uns mein Geschichtslehrer auf verschiedenen Ebenen versuchte, nahe zubringen. Hier gelingt es einem Roman in Bezug auf de bunte Welt der Kleinkünstler und Artisten. Wir springen zwischen zwei Zeitebenen hin und her. 1902: Mathis der verkrüppelte letzte Sohn eines Bohnenbauern und ist mit allen Elementen seines Lebens vom Unglück geschlagen. Das Dörfchen mit dem vielsagenden Titel Langweiler, seine Bohnenallergie bei der allgegenwärtigen Präsenz von Bohnen auf dem Hof, seine 12 Brüder, die "wohlgeratener" sind als er, der Krüppel und Denker unter ihnen. Da verliebt er sich , in eine Maschine, eine Jahrmarktsmaschine, die aus Menschen Skelette zu machen vermag, die wir heute als medizinisches Röntgengerät kennen, das damals aber als Absonderlichkeit auf Jahrmärkten herhalten msste. Als 15 jähriger wagt Mathis die Flucht aus Langweiler und von zu hause und zeht dem Jahrmakt ud der Maschine hiterher. Auch mehr als 20 Jahre später ist er dieser Maschine immer noch verfallen, hinzugekommen ist aber auch noch die Kraftfrau Meta. Mit ihr zusammen (und mit dem versteckt zu haltenden geistig behinderten Bruder Metas, lebt er in einem Jahrmarktwagen und ist inzwischen selbst zum Röntgenmaschinenbesitzer und -betreiber geworden. Wir befinde uns inzwischen im Jahr 1935 und damit in der Zeit, in der die Nationalsozislisten beginnen, das Leben in Deutschland entsprechend ihren eingeschränkten Vorstellungen zu glätten. Jahrmarktsmenschen, Absurditäten und aufmüpfige Reden sind dabei nicht nur nicht vorgesehen, sondern werden versucht, so gut es geht unter den Teppich zu kehren. Menschen der Jahrmarktsgesellschaft werden abgeholt und verschwinden. Und hier kommt Mathis in seiner zweiten Rolle ins Spiel, die ihn schon in Kindestagen zum Außenseiter in Langweiler gemacht hat. Die Rolle des Denkers. In diese gebiert er die Idee, ein Buch zu schreiben, das Buch der vergessenen Artisten, in dem er die Leben der Artisten festhalten möchte, um eben diesem Vergessen-werden entgegenzuwirken. Damit bringt er sich einerrseits in Gefahr, ermöglicht uns als Leser aber auch ein Eintauchen in die vielfältige Künstlerwelt in Berlin zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft, als das Vibrieren des Berlins in den 20ern noch zu spüren ist und noch nicht unter dem Teppich verschwunden ist. Kollisionen mit dem neuen Regime bleiben dabei nicht aus. Alle handelnden Personen sind dabei aus den unterschiedlichsten Gründen gefährdet. Der Grad hin zur Kollaboration mit dem neuen Regime ist sogar für diese Personen sehr schmal. Das wird verdeutlicht an dem Bildhauer Thorak, der Meta zur Zusammenarbeit für ein Denkmal gewinnen will. Wird sie sich langfristig verweigern können?
Weiter geht es mit weihnachtlichem Leseelan in den zweiten Teil.
 

Momo

Aktives Mitglied
10. November 2014
995
1.264
44
Also, mir gefällt das Buch auch außerordentlich gut. Ich finde Mathis interessant, wie er es geschafft hat, sich von zu Hause zu lösen ... Das Buch ist tatsächlich recht leicht geschrieben, aber die Handlungen und die Charaktere der Figuren finde ich alle glaubwürdig dargestellt. Die Geschichte fesselt mich richtig.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.076
49
Ich finde Mathis interessant, wie er es geschafft hat, sich von zu Hause zu lösen
Mathis ist wirklich nicht zu beneiden! Gehandicapt schon durch sein lahmes Bein, wird er vom Vater gedemütigt, die Brüder benutzen ihn als Prügelknaben, um vermutlich eigenen Frust abzubauen.

Dass sein "Freund" Hans in gleicher Weise verfährt... ohne Worte! Mathis hat sich an dessen Ausraster schon gewöhnt. Stillhalten ist seine Devise. Einziger Lichtblick (guter Geist) ist die Mutter, die in diesem männlich dominierten Haushalt aber auch nichts bewegen kann. Heftig.

Dass Mathis nach dieser Nacht der Prügel ausreißt, kann ich gut nachvollziehen. Er hat dabei seine derzeitige Lage ziemlich gut analysiert. Auch seine Schlussfolgerung, dass vermutlich niemand ihn bei Meister Bo zurückholen wird, klingt plausibel. Mathis ist kein dummer, nur ein lebenslang unterdrückter Junge.

Das Elternhaus hat ihn geprägt. Kein Wunder also, dass er in der Beziehung mit Meta auch der Schwächere zu sein scheint. Wie diese in einer Art Affenliebe an ihrem Bruder Ernsti hängt, der ohne Strafe alles zerstören darf, was Mathis gehört und ihm teuer Ist, hat mich innerlich empört. Meta wirkt auf mich sehr kalt, sie scheint nur Gefühle für den Bruder zu haben.
Dass Mathis trotzdem zu ihr hält, ihre klare Bevorzugung des Bruders akzeptiert und sich unterordnet, wird mit seiner Kindheit zusammenhängen.
 

Momo

Aktives Mitglied
10. November 2014
995
1.264
44
Ich wusste nicht mehr, auf welcher Seite es war, als Mathis das Elternhaus verließ, weshalb ich mich erst bedeckt halten wollte,um nicht zu viel zu verraten. Das sehe ich ganz genauso, Literaturhexle.
 
  • Like
Reaktionen: Literaturhexle

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.076
49
Auch den Bildhauer Josef Thorak hat es tatsächlich gegeben. Seine Kunst war parteikonform, er war einer der meistbeschäftigten Bildhauer während des NS-Regimes. Der Boxer Max Schmeling hat über 7 Jahre Modell gesessen, um 1936 auf dem Reichssportfeld als Bronceplastik "Faustkämpfer" ausgestellt zu werden.
Nun bemüht sich Thorak um die Kraftfrau. Klingt schlüssig!
 

Momo

Aktives Mitglied
10. November 2014
995
1.264
44
Trotzdem finde ich es nicht selbstverständlich, dass Mathis sein Heim verlassen hat. Er hat sich von Anfang an zu diesen Artisten hingezogen gefühlt. Er verbringt die meiste Zeit auf dieser Wiese, weshalb die Brüder ihn neidvoll verdroschen hatten. SIe wären auch gerne dagewesen um als Zuschauer an den Shows der Artisten teilzunehmen. Aber sie mussten bis spät abends auf dem Feld arbeiten. Der Vater hatte die Jungs nicht freigegeben.

Ich fand diese Szene auch grausam, dass niemand ihn gegen die Prügel der älteren Brüder verteidigt hat, nicht mal seine geliebte Mutter. Es waren eben zu viele erwachsene Männer, Söhne, im Haus.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.076
49
Mathis ist kein dummer, nur ein lebenslang unterdrückter Junge.
Als erwachsener Mann gehen seine Gefühle aber mit ihm durch, als Meta verhaftet wird: wie kann man sich zu jener Zeit in Frauenkleidern verkleidet in einem Polizeipräsidium einfinden?!? Da hätte die Vernunft gebieten müssen, sich zuvor umzuziehen. Mal sehen, ob sich Mathis im Verlauf des Buches zu weiteren unüberlegten Handlungen hinreißen lässt.
 

Momo

Aktives Mitglied
10. November 2014
995
1.264
44
Auch den Bildhauer Josef Thorak hat es tatsächlich gegeben. Seine Kunst war parteikonform, er war einer der meistbeschäftigten Bildhauer während des NS-Regimes. Der Boxer Max Schmeling hat über 7 Jahre Modell gesessen, um 1936 auf dem Reichssportfeld als Bronceplastik "Faustkämpfer" ausgestellt zu werden.
Nun bemüht sich Thorak um die Kraftfrau. Klingt schlüssig!

Danke, Literaturhexle, für die Infos. Damit bestätigst du, dass die Autorin ziemlich gut recherchiert hat, um dieses Buch zu schreiben.
 

Momo

Aktives Mitglied
10. November 2014
995
1.264
44
Als erwachsener Mann gehen seine Gefühle aber mit ihm durch, als Meta verhaftet wird: wie kann man sich zu jener Zeit in Frauenkleidern verkleidet in einem Polizeipräsidium einfinden?!? Da hätte die Vernunft gebieten müssen, sich zuvor umzuziehen. Mal sehen, ob sich Mathis im Verlauf des Buches zu weiteren unüberlegten Handlungen hinreißen lässt.

Das habe ich mich auch gefragt. Das war schon sehr leichtsinnig. Aber weiß jemand, wieso Meta sich auf Thorak eingelassen hat? Auch das, so finde ich, ist gefährlich, wo man doch weiß, dass Hitler Menschen, die anders leben und anders aussehen, wegsperren lässt.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.076
49
Aber weiß jemand, wieso Meta sich auf Thorak eingelassen hat?
Da blieb ihr aus meiner Sicht wenig übrig, schließlich hat er die Kaution bezahlt, damit sie und Mathis das Präsidium schnell wieder verlassen könnten. Das kam ja fast einer Erpressung gleich.
In jenen Zeiten der Willkür hätte ich auch schnell Fersengeld gegeben, um aus dem Blick der Exekutive zu verschwinden.
 
  • Stimme zu
Reaktionen: MRO1975

Mamskit

Mitglied
6. November 2016
95
231
19
56
Ich klinke mich jetzt erst ein, irgendwie ist mir Weihnachten dazwischen gekommen.
Ich finde dieses Buch ausgesprochen faszinierend. Es liest sich sehr flüssig und die Autorin verfügt über großes Detailwissen. Mich haben vor allem die Welt des Jahrmarktes und die zahlreichen Künstlerinnen, die tatsächlich gelebt haben, fasziniert. Auch ich bin sehr schnell bei Wikipedia gelandet...;)
Ich bin gespannt, wie es weitergeht! Vieles deutet sich ja schon an: der gesundheitliche Schaden durch die ungesicherte Nutzung des Röntgenapparates oder auch die Begegnungen mit späteren berühmten/berüchtigten Personen (Charlie Chaplin, Adolf Hitler...) in Mathis' Vergangenheit.
Der Bildhauer Thorak vermittelt mir äußerst ungute Vorahnungen...Es ist sicherlich kein gutes Vorzeichen, dass Meta gezwungen ist, mit ihm zusammen zu arbeiten.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.480
50.076
49
Mich haben vor allem die Welt des Jahrmarktes und die zahlreichen Künstlerinnen, die tatsächlich gelebt haben, fasziniert.
So ergeht es mir auch! Man wird so richtig in die Atmosphäre der Zeit zurückgeworfen. Sehr gekonnt ist das. Die flippigen 20er Jahre, die die Künstlerkolonie so gerne weiter leben lassen möchte. In den 35er Jahren die eingeschränkte Rolle der Frauen...- ein Mann, der kocht, gilt schon als verdächtig!
Gerade in vermeintlichen Nebensätzen läßt die Autorin die Vergangenheit sehr plastisch auferstehen.
 

Momo

Aktives Mitglied
10. November 2014
995
1.264
44
Da blieb ihr aus meiner Sicht wenig übrig, schließlich hat er die Kaution bezahlt, damit sie und Mathis das Präsidium schnell wieder verlassen könnten. Das kam ja fast einer Erpressung gleich.
In jenen Zeiten der Willkür hätte ich auch schnell Fersengeld gegeben, um aus dem Blick der Exekutive zu verschwinden.

OK, Danke. Das hatte ich icht mehr auf dem Schirm, welche Art von Erpressung es war.
 

MRO1975

Bekanntes Mitglied
11. August 2018
1.538
3.981
49
48
Das Elternhaus hat ihn geprägt. Kein Wunder also, dass er in der Beziehung mit Meta auch der Schwächere zu sein scheint. Wie diese in einer Art Affenliebe an ihrem Bruder Ernsti hängt, der ohne Strafe alles zerstören darf, was Mathis gehört und ihm teuer Ist, hat mich innerlich empört. Meta wirkt auf mich sehr kalt, sie scheint nur Gefühle für den Bruder zu haben.
Dass Mathis trotzdem zu ihr hält, ihre klare Bevorzugung des Bruders akzeptiert und sich unterordnet, wird mit seiner Kindheit zusammenhängen.
Die Beziehung zwischen Mathis umd Meta hat tatsächlich etwas merkwürdiges. Warum die beiden ein Paar sind, ist mir im ersten Abschnitt nicht klar geworden.Wir werden es aber sicherlich noch erfahren.
 

Sassenach123

Bekanntes Mitglied
27. Dezember 2015
4.355
10.656
49
49
Auch in bin begeistert von dem Roman. Mathis war von Anfang ein Sympathieträger. Während des Lesens leidet man förmlich mit, wenn er als Nichtsnutz gesehen wird, von den Brüdern verprügelt, lediglich durch den geringen Einfluss der Mutter vor schlimmeren bewahrt.
Als die Röntgenappartur einfließt wird schnell klar, dass dieses vermeintliche Glück einen hohen Preis von Mathis fordern wird.
Die Einbettung der Fakten über die vergessene Generation ist super gelungen und sehr interessant. Eine Nische, die auch noch nicht ausgereizt ist, ich habe sehr viel Neues erfahren und keinmal das Gefühl gehabt, dass hier nur alte Geschichten aufgewärmt werden.
Ich bin sehr neugierig wie es weitergeht. Wird Meta Model stehen? Wahrscheinlich schon, denn ihr bleibt im Grunde kaum eine Wahl. Zumal sie eine große Verantwortung zu tragen hat bei der Betreuung ihres Bruders?
Schafft Mathis es sein Buch zu schreiben? Viel wichtiger noch, wird es die Nachwelt erreichen? Ich hoffe sehr, dass es im weiteren Verlauf darauf eine Antwort geben wird.