1. Leseabschnitt: Anfang bis Seite 72

Yolande

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13. Februar 2020
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Dann werde ich mal starten :).
Ich weiß bisher fast nichts über Äthiopien und bringe das Land eigentlich nur mit Hungersnot und Krieg in Verbindung.
Krieg herrscht aktuell, aber auch in der Zeit, in der das Buch spielt. Es ist ein gebeuteltes Land.
Es beginnt mit einem Prolog. Hirut wartet am Bahnhof in Addis Abeba auf einen Mann namens Ettore, um ihm eine Kiste mit Fotos zu übergeben. Ettore ist wahrscheinlich Italiener und das macht die Sache interessant, weil Italien und Äthiopien Kriegsgegner waren. Hirut hat die Ereignisse in ihren Erinnerungen verdrängt, aber nun kommen sie wieder an die Oberfläche.
Die Geschichte beginnt 1935. Nach dem Tod ihrer Eltern kommt die junge Hirut zu Kidane, einem Freund ihrer Mutter. Man weiß nicht genau, wie alt Hirut zu diesem Zeitpunkt ist, auf jeden Fall scheint sie noch sehr jung und klein zu sein. Aster, Kidanes Frau, ist eifersüchtig auf Hirut und hasst sie, das gipfelt zum Ende des Abschnitts sogar in einen schrecklichen Gewaltexzess. Es gibt immer wieder Rückblenden, mal in Hiruts, mal in Asters Vergangenheit. Aber es wird auch ein Blick auf Kaiser Haile Selassie geworfen, der von den Italienern gestürzt werden soll.
Der Schreibstil ist nicht ganz flüssig, aber trotzdem noch gut zu lesen.
Ich werde mich heute dem 2. Abschnitt widmen und bin gespannt, wie es weitergeht...
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
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Über das Verhältnis Äthiopien und Italien geht es auch in Francesca Melandris Roman „ Alle, außer mir“ .
Dabei v.a. aus der Sicht der Italiener. Nun bin ich gespannt, wie es hier eine Autorin mit äthiopischen Wurzeln darstellt.
Sie baut ihren Roman spannend , aber konventionell auf. Es beginnt auf einer Gegenwartsebene, um danach in die Vergangenheit zu blenden. Der Leser stellt sich die Frage, warum nochmals die Begegnung mit diesem Ettore, der vermutlich Italiener ist. Was verbindet die beiden Figuren?
Rückblick ins Jahr 1935. Das Land scheint sich auf einen Krieg vorzubereiten. So auch Kidane, der Mann, bei dem die junge Hirate nach dem Tod ihrer Eltern untergekommen ist.
Warum ist ihr der Verlust ihres Gewehres so wichtig? Nur weil es eine Erinnerung an ihren Vater ist? Oder verspricht sie sich dadurch mehr Schutz?
Bisher lese ich mit Interesse weiter.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Ich habe den ersten Leseabschnitt auch durch und ich bin etwas zwiegespalten. Einerseits interessiert mich dieses Buch thematisch und es ist auch ganz gut geschrieben, andererseits ist dieses etwas Auseinandergehackte, vielleicht durch die Erinnerungen Verzerrte auch etwas gewöhnungsbedürftig und nicht ganz so einfach zum Konsumieren.

Von den Namen mal ganz abgesehen. ...

Im Prolog wartet Hirut 1974 auf Ettore und im Text wird deutlich, dass eine interessante Geschichte auf den weiteren Seiten zu finden ist.

Dann befindet sich die Handlung im Jahre 1935, Hirut ist noch sehr jung und kommt bei Kidane und Aster nach dem Tod ihrer Eltern Getey(Mutter) und Fasil(Vater) unter. Ihre Stellung im Haus ist mir noch recht unklar. Ist sie nur die Haushaltsgehilfin/Dienerin, oder ist da mehr? Kidane nähert sich ihr an. Und Aster ist eifersüchtig, so eifersüchtig, dass es nach dem Diebstahl zu diesem Gewaltexzess kommt. Und was bedeutet diese Erinnerung von Hirut? Ist dies eine Initiation, oder ist dies ein Vollzug einer Ehe durch Kidane an Hirut. Auch hier bin ich mir unsicher. Und ich frage mich ob ihre Eltern wirklich tot sind. Die Mutter berichtet Hirut, dass Kidane ihr wie ein guter Freund, ja fast wie ein Bruder vorkommt und bittet Kidane gut für Hirut zu sorgen. Also war dies schon eine abgemachte Sache. Vielleicht sind sie nur rituell tot. Aber was bedeutet dann das Gewehr und Hiruts Bindung an dieses? Dies deutet ja wieder auf einen realen Verlust hin.

Weiter im Haushalt zu finden sind die Köchin und Berhe, mal sehen ob diese noch eine Rolle spielen werden.
 
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Adel105

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1. August 2021
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Anfang der 70er Jahre ist Äthiopien in einer Krise - Inflation, Ölpreiskrise, Bauern leiden unter den Abgaben an Großgrundbesitzer etc. dies führt zu Massenprotesten und Streiks in der Bevölkerung. 1974 steigen auch Teile der Armee in die Revolten ein und im September wird Haile Selassie gestürzt. Dies ist die Situation im Land zu Beginn des Romans (Prolog) als sich Hirut in Addis Abeba befindet. Wir wissen bisher nur, dass sie sich mit dem Italiener Ettore treffen möchte.
Im Oktober 1935 erklärt Mussolini Äthiopien den Krieg. Es kam zu Giftgaseinsätzen, Haile Selassie wurde vertrieben. Italien führte ein System der Rassentrennung ein (ähnlich zu Südafrika). Äthiopien wurde von einheimischen und britischen Truppen wieder befreit, Haile Salassie kam 1941 wieder zurück. Dies in Kürze die Situation zu Beginn von Buch 1 (Invasion).
Es findet auch ein Rückblick zu Asters Vermählung statt.
Mir geht es ähnlich wie renee - ich habe nach diesen ersten Seiten viele Fragen, deren Beantwortung mich interessieren. Aber andererseits muss ich wohl erst noch mit dem Schreibstil anfreunden. Ich musste einige Stellen nochmals lesen, um sie zu verstehen.
 

Renie

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renies-lesetagebuch.blogspot.de
Diesmal verschlägt es uns nach Äthiopien. Ich weiß, dass es in diesem Roman um die Zeit des Abessinienkrieges geht, der 1935 begann. Die Italiener marschierten in Äthiopien ein, da sie wohl ein Stück des afrikanischen Kolonialkuchens abhaben wollten. Der erste Versuch Ende des 19. Jahrhunderts scheiterte, der italienische Goliath wurde seinerzeit vom äthiopischen David geschlagen, was man nicht auf sich sitzen lassen konnte.

Daher kam es 1935 zu einem erneuten Versuch.

Der Roman beginnt jedoch mit einem Prolog, der fast 40 Jahre später einsetzt. Hirut, die 1935 noch ein Kind war, will sich in Addis Abeba mit dem Italiener Ettore treffen. Beide haben den Krieg erlebt, in welcher Beziehung die beiden zueinander stehen, ist nicht ganz klar. Doch Hirut hat eine Kiste voller Fotos und Erinnerungen für Ettore aufbewahrt, die sie ihm in Addis Abbeba übergeben will. Und während sie auf das Treffen wartet, erleben wir Hiruts Geschichte, die eng verbunden mit dem Krieg ist.

1935 lebte Hirut als „Leibeigene“ bei einem Paar der äthiopischen Oberschicht: Aster und Kidane.

Kidane hatte zu Hiruts Mutter eine besondere Verbindung, da diese ihn wie einen Sohn behandelt hat, womit Hirut quasi eine kleine Schwester für ihn war, und er sie in seinen Haushalt geholt hat, nachdem Hirut zur Waise wurde. Hirut hat also einen besonderen Stellenwert in Kidanes Leben, sehr zum Unwillen seiner Frau Aster, die dieser Verbindung misstraut, was sie in erster Linie an Hirut auslässt. Das Mädchen hat kein leichtes Leben im Haushalt von Kidane. Sie wird wie eine Sklavin gehalten, was mich zunächst verwundert hat. Denn aufgrund der Zuneigung von Kidane und seinem Verantwortungsgefühl ihr gegenüber, hätte ich anderes erwartet. Doch entweder kann Kidane den Standesdünkel nicht ablegen oder er steht unter der Fuchtel von Aster, die Hirut die Rolle der Leibeigenen zugewiesen hat.

Als Frau hatte man sowieso nichts in diesem Kulturkreis der damaligen Zeit zu lachen. Die Männer hatten das Sagen und behandelten die Frauen wie Eigentum, mit dem man machen kann, was mann will (ob sie will oder nicht). Der Rückblick auf die Hochzeitsnacht von Aster und Kidane macht klar, dass es zum guten männlichen Ton dazugehörte, seine Angetraute zu vergewaltigen. Dieses Kapitel trägt den Titel „Chor“ Durch die Einteilung in die Leseabschnitte weiß ich, dass „Chor“-Kapitel häufiger in diesem Roman auftauchen. Genauso wie Kapitel mit der Bezeichnung „Zwischenspiel“ oder „Foto“. An irgendetwas erinnern mich diese Kapitelbezeichnungen, insbesondere „Chor“. Doch ich komme noch nicht darauf.

„Zwischenspiel“ stellt uns in diesem Leseabschnitt den Kaiser Selassie vor. Mit dem Wissen, dass Selassie Größenwahn nachgesagt wurde, und er in den letzten Jahren seines Lebens geistig nicht mehr auf der Höhe war, lese ich dieses Kapitel natürlich voreingenommen und bin auf der Suche nach Vorzeichen für seine bröckelnde Geistesverfassung. Auffällig ist der Kontrast zwischen der normalen Bevölkerung, die sich auf die drohende Invasion der Italiener vorbereitet und dem Kaiser, der in Luxus schwelgt. Letztendlich haben wir es mit zwei Kaisern zu tun. Denn auch die Darstellung von Mussolini erinnert mich an einen feudalen Herrscher: Benito auf weißem Pferd vor Statue von Julius Cäsar. Ein sehr imposantes Bild!

Ich komme nochmal auf Hirut zurück. Die Sache mit ihrem Gewehr hat mir verdeutlicht, wie selbstverständlich es offenbar war, dass kleine Mädchen lernen, mit Waffen umzugehen. Was für ein Land.

Der Roman fesselt mich bisher, weil hier vieles passiert, das für mich unvorstellbar ist. Für mich ist es eine Herausforderung, mich in diese völlig fremde Welt hineinzudenken.
 

ThomasWien

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Wien
So auch ich habe nun den ersten Leseabschnitt durch. Vieles ist von euch schon gesagt worden, wie z.B. die spezielle Verbinung zu dem Gewehr des verstorbenen Vaters bzw. die Stellung der Frau zur damligen Zeit (ich bin mir allerdings nicht sicher, ob sich diese Stellung in der Gegenwart drastisch verbessert hat - kenn mich allerdings mit Äthiopien gar nicht aus muss ich sagen, weder geschichtlich noch politisch) Äthiopien ist für mich ein ähnliches Land wie Afghanistan, seit ich denken kann herrscht dort Krieg und Armut.

Da ich mich weder mit dem Abessinienkrieg noch mit dem Land beschäftigt habe, hätte ich mir eine klarere Sprache gewünscht. Ich finde den Schreibstil etwas Sing Sang-mässig, als ob versucht wurde melodisch zu wirken. Ich finde das Thema und die Figuren interessant, aber mit dem Schreibstil werde ich noch nicht ganz warm. Ich finde ihn nicht schlecht, im Gegenteil, ich finde ihn nur nicht passend.

Werde mal in kleinen Häppchen weiterlesen.
 

Literaturhexle

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So, ich bin jetzt auch da:) und völlig angetan von dem Sprachstil. Ich habe keine Ahnung, was man da kritisieren könnte. Vermutlich kommt mir mein langsamer Lesefluss zu Gute.
Es gibt keine Redezeichen, dadurch muss man immer genau schauen, wer was sagt.

Offensichtlich führen Kidane und Aster keine glückliche Ehe. Aster kann den Tod ihres Sohnes nicht verwinden. Sie ist frustriert und versucht, ihren Frust an Hirut auszulassen. Hirut kommt mir noch sehr kindlich vor. Ihre Bindung zum Gewehr halte ich für völlig stimmig: Ihr Vater ist tot (das nehme ich als gegeben hin, so klein war sie ja auch nicht), sein einziges Vermächtnis ist das Gewehr, das Hirut nachts neben sich legt und sich einbildet, es wäre der Arm der Mutter... Das Gewehr ist die Verbindung zu den Eltern, zu einem liebevollen Zuhause, zur Vergangenheit. Wer würde sich das einfach wegnehmen lassen? Außerdem hat sie dem Vater versprochen, gut auf es aufzupassen, damit es sie eines Tages beschützen kann.

Hirut macht den Fehler mit den Klauereien. Das fliegt auf. Diebe haben einen ganz schlimmen Stand. Endlich kann sich Aster ihre Eifersucht aus der Seele prügeln. Niemand steht Hirut bei. An dieser Stelle sind alle meine Sympathien bei ihr.

Nun der Ortswechsel: Auch Aster ist ein Opfer! Selbst noch in den Kinderschuhen wird sie verheiratet und brutal vergewaltigt - unter dem Applaus der Hochzeitsgäste und der Billigung ihrer Mutter... Schlimm! Auch sie versucht sich wegzubeamen, um der Erniedrigung zu entkommen. Durch diese Untat erscheint nun auch Kidane in einem zweifelhaften Licht.
Dazu beachte man den Satz der Köchin, aus dem ich schließe, dass Kihane durchaus ein Auge auf Hirut geworfen hat, was sich an der Kussszene im Büro auch zeigt:
Du kannst Aster an vielem die Schuld geben, aber nicht an allem.33
und bin auf der Suche nach Vorzeichen für seine bröckelnde Geistesverfassung
Die konnte man doch hier schon feststellen: Der Kaiser lässt sich Filme ohne Ton zeigen, immer wieder dieselben Filme, sodass sich der Sekretär weit weg wünscht, während im Nebenraum Leute auf seine Entscheidungen warten. Das wirkte auf mich schon ziemlich desorientiert, überfordert und geistesschwach/ krank;)


Ich danke euch, dass ihr ein bisschen recherchiert habt. Ich habe das nicht getan (und auch keinen Klappentext gelesen :p ), aber der Roman funktioniert bislang ohne jedes Vorwissen, was ich als ausgezeichnetes Zeichen werte.

Ist euch dieses "WIR" aufgefallen?
Im Prolog: "Sie will die Kiste schließen, um UNS zum Schweigen zu bringen. 16
Im Chor: WIR sehen die junge Aster. WIR sehen, wie sie mit einem Chor wehklagender Frauen im Rücken die Treppe hochkriecht. 63
Sind das die Geister, die (Un)Toten? Zumindest hat dieses Wir etwas Geheimnisvolles!
Oder sind es die Erinnerungen (eher unwahrscheinlich)? Denn um Erinnerungen ging es schon in diesem Abschnitt einige Male...

Außerdem wird bereits auf Seite 15 der titelgebende Schattenkönig erwähnt, dessen treueste Soldatin Hirut war...

Ursprünglich hat mich dieser Roman thematisch gar nicht interessiert. Dann sprach mich aber der Einband an sowie die Tatsache, dass das Buch auf der Booker-Shortlist stand (Ich stehe ja auf den Bookerpreis, wie ihr wisst). Außerdem kann ich den netten LR mit euch nur schwer widerstehen...
Und jetzt bin ich total geflasht von diesem Einstieg. Drückt mir mal die Daumen, dass es so bleibt!
 
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Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Also dieser Roman - verzeiht, dass ich leserisch diesmal so nachhinke - ist auf alle Fälle einmal etwas anderes. Das Los der Frauen ist grausam. Auf ihre Gefühle nimmt niemand Rücksicht. Wie soll man so zu einem empathischen Wesen werden?

Angesichts der Hochzeitsnacht finde ich es seltsam, dass Aster so eifersüchtig ist. Hat sie Kidane doch noch lieben gelernt? Oder ist er einfach ihr Bollwerk gegen die böse Welt?
Immerhin gehen die Eheleute relativ ebenbürtig miteinander um. Aster kann lesen. Kidane und sie diskutieren die politische Lage. Das hat mich nun doch sehr verwundert. Andererseits gehen die "Befindlichkeiten" Asters Kidane auf die Nerven. Er möchte nicht mit Frauenzeug belästigt werden. Was ein männliches Privileg ist.

Hirut ist in keiner beneidenswerten Lage: sie ist allem ausgeliefert. Sogar ihr einziger Besitz, das Gewehr ihres Vaters, zur letzten Selbstverteidigung von ihm geschenkt, wird ihr einfach weggenommen. Kein Wunder, dass ihre Loyalität brökelt. Dafür wird sie schrecklich bestraft.

Die Leute kennen keine Empathie. Vllt können sie sich keine leisten. Das wird sich noch herausstellen.

Der Kaiser scheint unfähig zu sein.

Erster Eindruck: sehr gut.