1. Leseabschnitt: Anfang bis Seite 37 (Letzter Satz: Dr. B. .... begann:))

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Die Novelle spielt ausschließlich auf einem "großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte" (5). Der Ich-Erzähler, ein Österreicher, erfährt von einem Freund, dass der Weltschachmeister Mirko Czentovic an Bord ist, dessen ungewöhnlicher Werdegang im Folgenden geschildert wird. Der 12-jähriger Slawe wurde als Waise von einem Pater aufgenommen. Er lernt weder korrekt zu schreiben noch zeigt er sich in Mathematik fähig, aber es stellt sich per Zufall heraus, dass er eine Begabung fürs Schachspielen hat, obwohl er nicht in der Lage ist, Partien blind zu spielen. Das verrät "einen Mangel an imaginativer Kraft" (12), trotzdem steigt er zum Weltmeister auf. Der Freund des Ich-Erzählers stellt fest, dass Czentovic nur an Schach und Geld interessiert sei und vor allem von sich überzeugt ist.
Die Neugier des Ich-Erzählers ist geweckt und er will dieses Genie kennenlernen, was ihm auch gelingt, als er selbst mit einem reichen Schotten McConnor Schach spielt, um den Weltmeister anzulocken. Dieser wiederum lässt sich vom Geld anlocken und spielt gegen einige "drittklassigen Spielern", die er natürlich besiegt. Bis ein Unbekannter ins Spiel kommt, der dem Weltmeister ein Remis entlockt. Neugierig geworden sucht der Ich-Erzähler diesen Schachvirtuosen auf, der ihm wiederum seine Geschichte erzählt.
Hier mache ich mal einen Punkt, da diese Geschichte inhaltlich auch zusammengehört, fasse ich sie im nächsten LA zusammen. ;)
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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"... je mehr sich einer begrenzt, um so mehr ist er andererseits dem Unendlichen nah; gerade solche scheinbar Weltabseitigen bauen in ihrer besonderen Materie sich termitenhaft eine merkwürdige und durchaus einmalige Abbreviatur der Welt.” (S. 14 f.)

Darüber habe ich eine ganze Weile gerätselt und versucht, mir vorzustellen, was damit gemeint sein könnte ...
Ich kenne leider keinen solchen Menschen, nicht mal von weitem, deshalb kann ich mich da irgendwie nicht einfühlen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Da ich vor kurzem den Roman "Das Damengambit" gelesen habe, sind mir die Passionen rund um das Schachspiel, von dem ich gar nichts verstehe, in guter Erinnerung. Manches erkenne ich wieder;)

Der Weltmeister hat sich das Spiel autodidaktisch beigebracht. Er ist ein unsozialer, wenig gebildeter Sonderling. Ein Nerd.

Unser Erzähler will ihn kennenlernen und stellt ihm eine Falle. Prompt kommt er herbei, lässt sich auf das lukrative Spiel gegen McConnor ein. Letzterer gerät in eine Art Schachfieber: er will unbedingt einmal gewinnen, koste es, was es wolle. Der Erzähler mutmaßt schon, dass der Schotte sein gesamtes Vermögen verspielen könnte, da tritt eben der Unbekannte hinzu, der im nächsten Abschnitt seine Geschichte erzählt.

Ich bin überrascht, wie leicht sich die Novelle bislang lesen lässt. Über die Ausführungen über die Jugend des WM kann man sich amüsieren, die Beschreibungen über seine Absonderlichkeiten, die Hirne von Schachmeistern oder das Spiel im Allgemeinen sind mit einer Prise Humor gewürzt.
Mit derselben selbstverständlichen Geste, mit der unsereiner in einer Buchhandlung einen angebotenen schlechten Detektivroman weglegt, ohne ihn auch nur anzublättern, trat er von unserem Tische fort... 'Gewogen und für zu leicht befunden', dachte ich mir...S.21
Das können wir uns doch sehr gut vorstellen;)

Die maßgeblichen Figuren werden sehr bildlich beschrieben. Ebenso die Veränderung, die sich ergibt, als der WM es auf einmal mit einem ernstzunehmenden Gegner zu tun hat. Die Spannung steigt, zumal der Unbekannte sehr bescheiden auftritt, was im Kontrast zu Czentovic und auch McConnor steht.
Ich bin nun sehr gespannt, welches Verhältnis Dr. B. zum Schachspiel hat. Seine Einleitung wirkt etwas dubios.

Gewundert habe ich mich über die Vokabel "Match" auf S. 36, ich hätte sie damals noch nicht im Sprachgebrauch vermutet.
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Ich fand es sehr interessant, dass Centovicz' Agent ihm angeblich verboten hat, zu seiner eigenen Freude, also für umme, Schach zu spielen. Ob das überhaupt stimmt? Es gibt eine Menge Videoclips mit dem Tenor Rolando Villazon, wie er zum Spaß in der U-Bahn, am Gate des Flughafens oder in irgendwelchen Fluren und Treppenhäusern singt. Der hat wohl keinen so geschäftstüchtigen Agenten, oder er ist ungehorsam. Vielleicht ist diese Ansage von Centovicz auch bloß eine Ausflucht.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Da ich vor kurzem den Roman "Das Damengambit" gelesen habe, sind mir die Passionen rund um das Schachspiel, von dem ich gar nichts verstehe, in guter Erinnerung. Manches erkenne ich wieder;)
Als der Begriff Sizilianische Eröffnung viel, musste ich auch direkt an. "Das Damengambit" denken. Das ist nicht die einzige Paralelle, auch die Tasache das beide Waisen bzw Halbwaisen waren, verbindet sie. Hier ist der Schachmeister allerdings nicht in der Lage sich die Züge gedanklich vorzustellen.
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich muss gestehen, dass mir bisher nur der Titel des Werkes geläufig war. An den Schreibstil musste ich mich erst ein wenig gewöhnen, doch nun finde ich die Sprache sehr ansprechend. Zu Beginn ahnte ich nicht welche Tiefe uns hier noch erwartet, doch das bemerkt man erst im weiteren Verlauf, wenn es um die eigentliche Geschichte geht.
Wie der Erzähler es geschafft hat, den zurückgezogenen Mann in ein Gespräch zu locken, war sehr interssant. Ob er vorher schon geahnt hat, dass der Ehrgeiz des einen und die Geldgier des anderen ihm dies ermöglichen wird?
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Ich fand es sehr interessant, dass Centovicz' Agent ihm angeblich verboten hat, zu seiner eigenen Freude, also für umme, Schach zu spielen. Ob das überhaupt stimmt? Es gibt eine Menge Videoclips mit dem Tenor Rolando Villazon, wie er zum Spaß in der U-Bahn, am Gate des Flughafens oder in irgendwelchen Fluren und Treppenhäusern singt. Der hat wohl keinen so geschäftstüchtigen Agenten, oder er ist ungehorsam. Vielleicht ist diese Ansage von Centovicz auch bloß eine Ausflucht.
Gute Frage. Erscheint unlogisch, da auch Spiele zum Spaß den Spieler Schulen, es gibt ja so viele verschiedene Züge und Taktiken, dass es sicher nicht geschadet hätte
Beim Damengambit wurde davon nichts erwähnt, dort trafen sich die befreundeten Spieler sogar um gemeinsam zu spielen und zu üben. Wenn dies eine verbreitete Sitte ist, hätte es dort vielleicht auch Erwähnung gefunden
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich fand es sehr interessant, dass Centovicz' Agent ihm angeblich verboten hat, zu seiner eigenen Freude, also für umme, Schach zu spielen. Ob das überhaupt stimmt? Es gibt eine Menge Videoclips mit dem Tenor Rolando Villazon, wie er zum Spaß in der U-Bahn, am Gate des Flughafens oder in irgendwelchen Fluren und Treppenhäusern singt. Der hat wohl keinen so geschäftstüchtigen Agenten, oder er ist ungehorsam. Vielleicht ist diese Ansage von Centovicz auch bloß eine Ausflucht.
Da mag zum einen das Geschäftsinteresse ein maßgeblicher Grund sein. Der andere mag im Wesen von Centovicz liegen. Dieser Mann ist zu einem normalen Umgang mit anderen Menschen kaum fähig. Ich habe auch keine Anzeichen entdecken können, dass ihm das Spiel wirklich Spaß macht. Er wirkt wie eine Maschine, der sein Schachspiel absolviert und seinen Sieg als sicher voraussetzt.
 

Die Häsin

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Ich empfinde die Sprache als so präzise und glasklar, dass ich mich beim Lesen förmlich erleuchtet fühle, wie bei einer Detox-Kur fürs Hirn.
Ich habe eine Schwäche für un-szenisches Erzählen, das habe ich sicher schon ein paarmal erwähnt - die narrativen Teile; die Bögen, die einen größeren Zeitraum in einigen Sätzen charakterisieren. Deshalb lese ich auch so gerne ältere Bücher; moderne Erzähler sind ja inzwischen stark vom filmischen Erzählen beeinflusst und erzählen nach dem Salamiprinzip, Scheibe für Scheibe.

Als Beispiel nenne ich mal die Passage, wo der Erzähler quasi als Leimrute für Czentovic einige Partien mit O'Connor spielt, ab Seite 18. Ich liebe diese Art des Erzählens. Die Passage ist beliebig herausgegriffen, fast das ganze Buch ist auf diese Weise erzählt.

(Mein persönlicher Meister, was das betrifft, ist übrigens Gottfried Keller - bester Erzähler ever.)
 

Emswashed

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Mit dem Schachspiel, quasi als Vorwand, oder Nagel, an dem die Geschichte hängt, zeichnet Zweig mit verschiedene Charakterstudien.
Czentovic als Idiot Savant, McConnor als reicher Machtmensch, der sich bei jeder Gelegenheit beweisen will, aber auch der Erzähler selbst, der sich Listen ausdenkt, um sein Ziel, Mirko kennenzulernen, zu erreichen.

Ich weiß nur, dass ich mich auf einem Schiff von New York nach Buenos Aires befinde, aber ich weiß nicht wann. Nun wird Dr. B. mir vielleicht Hilfestellung geben.
Ich fand es sehr interessant, dass Centovicz' Agent ihm angeblich verboten hat, zu seiner eigenen Freude, also für umme, Schach zu spielen. Ob das überhaupt stimmt?

Das klingt in meinen Augen sehr glaubwürdig. Der Agent sieht das Potential und ist mit Sicherheit am Gewinn beteiligt. Das Wohl seines Schützlings ist ihm egal. Der Agent wird um die soziale Inkompetenz seines Mandanten wissen und keine Angst vor Sinneswandel haben.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich habe eine Schwäche für un-szenisches Erzählen, das habe ich sicher schon ein paarmal erwähnt - die narrativen Teile; die Bögen, die einen größeren Zeitraum in einigen Sätzen charakterisieren.

Ich weiß nicht, on ich es so hätte ausdrücken können, aber Zweig kann eine ganze Situation in ein Wort packen und trotzdem weiß jeder, was gemeint ist.
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Ich kenne leider keinen solchen Menschen, nicht mal von weitem, deshalb kann ich mich da irgendwie nicht einfühlen.
Ist Lesen bzw. sind Bücher nicht Deine Obsession ;)? Wenn Du Dich damit beschäftigst, versinkst Du dann nicht völlig in der Lektüre, kaum greifbar für den Rest der Welt? Und nun musst Du Dir nur noch vorstellen, dass das immer so wäre. Und schon bis Du jemandem wie Czentovic recht nahe ;)
Ich bin überrascht, wie leicht sich die Novelle bislang lesen lässt.
Weshalb? Weil sie so alt ist ;) ? Oder müssen gute Bücher immer schwer zu lesen sein ;)?
Das können wir uns doch sehr gut vorstellen;)
Wohl wahr. Den ungefähr gleichen Gedankengang hatte ich auch beim Lesen dieser Textpassage.
Gewundert habe ich mich über die Vokabel "Match" auf S. 36, ich hätte sie damals noch nicht im Sprachgebrauch vermutet.
Ich habe mal nachgeschaut: Match wurde tatsächlich bereits im 19. Jahrhundert aus dem Englischen übernommen.

Bei mir ist es gar nicht so lange her, dass ich die Schachnovelle gelesen habe - na ja ok, fünf Jahre, ist ja nicht sooo lange ;) Aber ich lese es ebenso gerne wie damals und finde Zweigs Beschreibungen wirklich toll. Beispielsweise die des Schachspiels:
Ist es nicht auch eine Wissenschaft, eine Kunst, schwebend zwischen diesen Kategorien wie der Sarg Mohammeds zwischen Himmel und Erde, eine einmalige Bindung aller Gegensatzpaare; uralt und doch ewig neu, mechanisch in der Anlage und doch nur wirksam durch Phantasie, begrenzt in geometrisch starrem Raum und dabei unbegrenzt in seinen Kombinationen, ständig sich entwickelnd und doch steril, ein Denken, das zu nichts führt, eine Mathematik, die nichts errechnet, eine Kunst ohne Werke, eine Architektur ohne Substanz und nichtsdestominder erwiesenermaßen dauerhafter in seinem Sein und Dasein als alle Bücher und Werke...
 

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Ist Lesen bzw. sind Bücher nicht Deine Obsession ;)? Wenn Du Dich damit beschäftigst, versinkst Du dann nicht völlig in der Lektüre, kaum greifbar für den Rest der Welt? Und nun musst Du Dir nur noch vorstellen, dass das immer so wäre. Und schon bis Du jemandem wie Czentovic recht nahe ;)
Ich glaube, das ist etwas anderes als die "Begrenzung", die Zweig gemeint hat ... Lesen ist ja eigentlich eher so etwas wie eine Entgrenzung, ein Ausbrechen aus der unmittelbaren Umgebung.

Ich verstehe die Passage eher so, dass sich jemand aus der unendlichen Zahl von Möglichkeiten, womit man sich beschäftigen könnte, einen bestimmten Bereich heraussucht - ja, ich denke gerade über einen Artikel nach, den ich vor Jahren mal gelesen habe, über "art brut", die Kunst von Geisteskranken. Da gab es ein berühmtes Beispiel eines schizophrenen Mannes, der über Jahre hinweg wie ein Besessener malte, und zwar ausschließlich Katzen, und diese Katzengemälde wurden mit dem Fortschreiten seines psychischen Zerfalls immer abgedrehter. Am Ende sahen seine Katzengesichter aus wie irre Fetische, richtig gruselig.
 

Xirxe

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19. Februar 2017
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Ich glaube, das ist etwas anderes als die "Begrenzung", die Zweig gemeint hat ... Lesen ist ja eigentlich eher so etwas wie eine Entgrenzung, ein Ausbrechen aus der unmittelbaren Umgebung.
Aber nur in Gedanken. Die vielfältigen Möglichkeiten des 'realen' Lebens lässt Du außen vor, das ganze Sinnliche. Zwar hast Du beim Lesen unendliche Welten zur Auswahl, aber doch nur in eingeschränkter Form. Du weißt zwar aus der schriftlichen Form, wie beispielsweise eine (?) Madeleine riechen und schmecken muss, aber tatsächlich weißt Du es eben doch nicht.
Die Beschränkung aufs Schachspiel oder die Katzen (was für eine Wahl :)) ist natürlich deutlich begrenzter, aber in beiden Fällen klammern diese Menschen weite Teile der Welt aus.