1. Leseabschnitt: Anfang bis S. 84

Bibliomarie

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10. September 2015
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Eigentlich wollte ich nur mal die Folie abmachen und in wenig hineinblinzeln. Das wunderschöne Diogenes Cover und auch die ganze Aufmachung des gebundenen Buches haben mich gereizt. Aber kaum hatte ich die erste Seite umgeblättert, gab es auch schon kein Halten mehr.

Elegante Leichtigkeit - so empfinde ich die Sprache. Der Stotterer hat mich eingewickelt, ich weiß, er ist ein Manipulator und er weiß, wie er seinen Leser - den Padre - bei der Stange halten kann. Aber gleichzeitig hält er mich auch an der Leine und immer wieder überlege ich, wie geschickt er mit den Erwartungen spielt. Die schlimme Kindheit bei sektiererischen Eltern, es mag ein Kern oder sogar mehr Wahrheit dahinter stecken, aber gleichzeitig bedient er auch die Erwartungen seines Lesers. Auch wenn ich die Antworten des Gefängnispfarrers nicht kenne, so merke ich aus den folgenden Notizen des Stotterers genau, wie er reagierte.

Seine Geschichten enden oft mit einer kleiner Moritat. "Sein Würstchen hat ihn zum Würstchen gemacht" beim ausgefeilten Streich gegen seinen Mitschüler und immer steht der Stotterer Ende als Opfer da, das sich endlich mal wehrte.
Dabei wickelt er mich und auch stellvertretend den Padre mit seinem Charme um den Finger

Die ausgedachte Wahrheit ist manchmal realistischer, als die tatsächliche.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich habe auch mit dem Roman begonnen. Faszinierend, dass der Stil so ganz anders ist als bei "Melnitz", meinem aktuellen Hörbuch.

Der einsitzende Erzähler berichtet dem Gefängnispfarrer. Seine Berichte strotzen vor Sarkasmus und Verbitterung, trotzdem erzählt er leichtfüßig, als sei er über den Schmerz seiner Jugend hinweg.

Spannend, dass bereits "Ich aber, weil ich die Wahrheit sage, so glaubet mir nicht.", sowie eine weitere Entsprechung als Vortext abgedruckt wurden. Der Erzähler spielt mit der Wahrheit, macht selbst Einlassungen, dass vieles wohl nicht der Wahrheit entspräche. Das gefällt mir, zumal die Schilderungen auch inhaltlich so interessant sind, dass man weiter lesen möchte.

Soweit mein erster Eindruck: Daumen hoch!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Der erste Abschnitt ist nun beendet. Er beinhaltete ausschließlich Briefe des Herrn Stärckle an den Gefängnispfarrer. Im Wesentlichen berichteten sie von unterschiedliche Episoden aus dem Leben Stärckles. Immer wieder ging es um das Fälschen von Schriften: zunächst war es ein erdachter Bibelvers, dann Liebesbriefe, schließlich erfundene Mails von erfundenen Frauen in einer Dating-Agentur... Dabei ist niemals sicher, ob er die Wahrheit berichtet oder nicht.

Offensichtlich hat der Pfarrer diese Aufzeichnungen angefordert, im Gegenzug sollte Stärckle einen neuen Job in der Bibliothek erhalten. Hier setzt ich der zweite, in der Gegenwart spielende Handlungsstrang an: zunächst wird Stärckle von seinen Mitgefangenen gemieden und isoliert, bis er sich bereit erklärt, stillschweigend bei einem Schmuggelgeschäft (bezeichnenderweise durch den Schelmenroman Simplicius Simplicissimus als Medium) mitzumachen. Den Bericht über diese Erpressung gibt er aber nicht an den Pfarrer weiter.

Ich habe zunehmend mit dem Stil Probleme: weder Brief- noch Schelmenromane sind mein Genre und ich fühle mich von der Leichtigkeit der Sprache sowie dem unsympathischen Erzähler, der meint, alle Welt manipulieren zu können, leicht genervt. Es könnte jetzt mal ein bisschen mehr Tiefe ins Geschehen Einzug halten.
 
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KrimiElse

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26. Januar 2019
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Der Stotterer monologisiert und reflektiert mit dem Ziel, etwas vom Padre zu bekommen. Einen Pakt mit dem Vertreter Gottes, nachdem er in seinem bisherigen Leben offenbar (oder vielleicht) teuflisch paktierte durch Lügen und Manipulation. Interessant finde ich, dass er den Padre genau so manipuliert wie mich als Leser, obwohl sowohl der Gottesmann als auch ich wissen, dass alles, was er schreibt, eine Lüge sein könnte...

Ich bin dieser Art des Schreibstils nicht sehr zugetan, obwohl kein reiner Briefroman ähnelt die Form doch sehr daran. Spannend ist hier, dass die Antworten fehlen, die man sich jedoch sehr leicht zusammenreimen könnte.

Mir gefällt die Geschichte an sich prinzipiell sehr: ein „Aussätziger“, in Kindertagen auch als solcher behandelt und bestraft für sein angebliches Manko, der den Spieß umkehrt, andere manipuliert und im Verborgenen Fäden zieht, die bisher zumindest niemand wirklich entwirren und rückverfolgen konnte.
Es ist verwerflich und verständlich zugleich, was er tut. Doch durch sein Tun katapultiert er sich in meinen Augen noch mehr ins (zumindest moralische) Abseits und an den Rand. Doch genau dort fühlt er sich offenbar wohl, denn alle seine Versuche als Kind, mehr in der akzeptierten Mitte der Gesellschaft zu stehen, schlugen fehl, wurden verlacht, mit Prügeln und Spott bestraft.
Logischerweise verlagert er sein Handeln an den Rand, mit allen Konsequenzen sowohl in moralischer Hinsicht als auch mit Blick auf soziale Geborgenheit - denn einen sozialen background, ein Netz das ihn auffängt und schützt hat er nicht. Das kennt er aber auch nicht aus Kindertagen in der sektiererischen Familie
(Ich habe überlegt, welche Sekte/Glaubensrichtung gemeint sein könnte, mir fällt aber nichts ein).

Ich mag die Wortspiele, die Hintersinnigkeit und die Zweideutigkeit in der Sprache sehr, mit der die einzelnen Berichte an den Padre oft enden. Elegant und leicht, mit einem Augenzwinkern.
Ich hoffe, dass mich die fast-Briefform in ihrer Einseitigkeit nicht auf Dauer stören wird. Im Moment ist es nur wie ein kleines Jucken, an das ich mich durchaus gewöhnen könnte.
 
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KrimiElse

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Eigentlich wollte ich nur mal die Folie abmachen und in wenig hineinblinzeln. Das wunderschöne Diogenes Cover und auch die ganze Aufmachung des gebundenen Buches haben mich gereizt. Aber kaum hatte ich die erste Seite umgeblättert, gab es auch schon kein Halten mehr.

Elegante Leichtigkeit - so empfinde ich die Sprache. Der Stotterer hat mich eingewickelt, ich weiß, er ist ein Manipulator und er weiß, wie er seinen Leser - den Padre - bei der Stange halten kann. Aber gleichzeitig hält er mich auch an der Leine und immer wieder überlege ich, wie geschickt er mit den Erwartungen spielt. Die schlimme Kindheit bei sektiererischen Eltern, es mag ein Kern oder sogar mehr Wahrheit dahinter stecken, aber gleichzeitig bedient er auch die Erwartungen seines Lesers. Auch wenn ich die Antworten des Gefängnispfarrers nicht kenne, so merke ich aus den folgenden Notizen des Stotterers genau, wie er reagierte.

Seine Geschichten enden oft mit einer kleiner Moritat. "Sein Würstchen hat ihn zum Würstchen gemacht" beim ausgefeilten Streich gegen seinen Mitschüler und immer steht der Stotterer Ende als Opfer da, das sich endlich mal wehrte.
Dabei wickelt er mich und auch stellvertretend den Padre mit seinem Charme um den Finger

Die ausgedachte Wahrheit ist manchmal realistischer, als die tatsächliche.
ich bin wie du eingewickelt worden...und man Ende jedes kleinen Abschnitts an den Padre weckt er auch bei mir unwillkürlich Erwartungen und ich muss sofort weiterlesen. Obwohl er anfangs schreibt, dass er mit Cliffhangern arbeiten wird, falle ich immer wieder darauf herein. Das ist toll gemacht.
 
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Immer wieder ging es um das Fälschen von Schriften: zunächst war es ein erdachter Bibelvers, dann Liebesbriefe, schließlich erfundene Mails von erfundenen Frauen in einer Dating-Agentur... Dabei ist niemals sicher, ob er die Wahrheit berichtet oder nicht.
Das ist schon faszinierend, wie alles seinen Anfang nimmt. Mit einem Bibelvers. Und ausgerechnet einem Pfarrer berichtet er darüber.
 

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Hier setzt ich der zweite, in der Gegenwart spielende Handlungsstrang an: zunächst wird Stärckle von seinen Mitgefangenen gemieden und isoliert, bis er sich bereit erklärt, stillschweigend bei einem Schmuggelgeschäft (bezeichnenderweise durch den Schelmenroman Simplicius Simplicissimus als Medium) mitzumachen.
Ich bin gespannt, wie und ob dieser Strang weiterverfolgt wird, denn da es dem Padre gegenüber nicht erwähnt wird, kann es zukünftig schlecht in den Berichten an ihn stehen...
Der Simplicissimus als Medium hat mich auch aufmerksam gemacht. Ich denke, da steckt noch irgendwas dahinter...mal sehen.


Off topic: ich bekomme das Zitieren zwar inzwischen auch mit Tablet hin, aber mehrere Zitate in einem Beitrag geht hier irgendwie nicht. Und das Notebook zum probieren ist fern.
 
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Literaturhexle

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Einen Pakt mit dem Vertreter Gottes,
Gut erkannt!
Es ist verwerflich und verständlich zugleich, was er tut.
Stimmt.
Ich mag die Wortspiele, die Hintersinnigkeit und die Zweideutigkeit in der Sprache sehr, mit der die einzelnen Berichte an den Padre oft enden. Elegant und leicht, mit einem Augenzwinkern.
Ja, das ist gut gemacht. Trotzdem stören mich die Berechnung des Protagonisten und seine Überheblichkeit. Von daher ist das Augenzwinkern für mich mit leichtem Grimm verbunden ;)
Stark finde ich, wie sehr der Stil Lewinskys in diesem Roman von "Melnitz" abweicht. Der Autor muss sein Metier wirklich beherrschen!
 

KrimiElse

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Ja, das ist gut gemacht. Trotzdem stören mich die Berechnung des Protagonisten und seine Überheblichkeit. Von daher ist das Augenzwinkern für mich mit leichtem Grimm verbunden ;)
Stark finde ich, wie sehr der Stil Lewinskys in diesem Roman von "Melnitz" abweicht. Der Autor muss sein Metier wirklich beherrschen!
Da stimme ich dir zu, sympathisch ist das nicht, sondern tatsächlich berechnend.

Ich habe noch nichts von Lewinsky gelesen, du machst mich neugierig. Das Hörbuch liegt für das nächste Guthaben schon im Audible-Warenkorb nach deiner Schwärmerei :D
 
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Momo

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Ich bin noch nicht allzuweit, bin gerademal auf der Seite 24, weshalb ich noch nicht alle Beiträge hier im Abschnitt gelesen habe.

Die Gedanken des Protagonisten finde ich sehr interessant, sein Sarkasmus gegenüber der Kirche (Bibel, Padre) und gegenüber seinem Vater sind nicht zu überhören. Aber seine Beweggründe sind für mich plausibel, denn ein Kind wird geschlagen, weil es stottert, um es erstmal an einem Beispiel zu benennen. Wo bleibt hier die Vaterliebe, wo bleibt hier die göttliche Liebe gegenüber Menschen mit großen Schwächen?

Ein Kind stottert nicht einfach so um die Welt zu verärgern, es stottert aufgrund diverser Ängste ...

Mal schauen, wohin die Geschichte mich noch hintreiben wird.
 

ulrikerabe

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Ja, das ist gut gemacht. Trotzdem stören mich die Berechnung des Protagonisten und seine Überheblichkeit.

Wenn ihn nur seine Überheblichkeit nicht zu Fall gebracht hat, immerhin sitzt er ein. Was schreibt er über Nils? Eitelkeit macht dumm und Dummheit eitel.
Er ist ein Blender, ein Zündler. Wie er schreibt, er wäre ein guter Pfarrer geworden! Man müsse sich nur in die Menschen hineindenken können. Das verbinde den Pfarrer mit dem Trickbetrüger. Das ist mal mit Sicherheit wahr :), was man ja sonst von seinen Ergüssen nicht immer behaupten kann.
 

Bibliomarie

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Jetzt wollte ich das Buch gemütlich im Urlaub lesen und habe beim Einzug in die fewo den Laptop vom Tisch gestoßen. Deshalb kurz dieses Lebenszeichen vom geliehenen Smartphone. Anfang nächster Woche stelle ich meine Notizen ein.
 

Bibliomarie

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Der Stotterer monologisiert und reflektiert mit dem Ziel, etwas vom Padre zu bekommen. Einen Pakt mit dem Vertreter Gottes, nachdem er in seinem bisherigen Leben offenbar (oder vielleicht) teuflisch paktierte durch Lügen und Manipulation. Interessant finde ich, dass er den Padre genau so manipuliert wie mich als Leser, obwohl sowohl der Gottesmann als auch ich wissen, dass alles, was er schreibt, eine Lüge sein könnte...

Das faszinierte mich auch und ich bemerke auch, dass ich mich manipulieren lasse. Immer wieder kommt bei mir die Sympathie für den Schreiber durch, bis ich mir wieder klarmache, dass ist alles nur ein Mittel zum Zweck.
 
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Bibliomarie

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Das ist schon faszinierend, wie alles seinen Anfang nimmt. Mit einem Bibelvers. Und ausgerechnet einem Pfarrer berichtet er darüber.

Damit versucht er den Padre auf seine Seite zu ziehen und ihm vielleicht ein Unbehagen zu verursachen, denn ist es ja ein Amtsbruder der für Stärckles Leiden in der Jugend verantwortlich ist. Aus einem schlechten Gewissen kann man manches herauskitzeln.
 
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Momo

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Ich bin leider noch im ersten Abschnitt, aus Zeitmangel komme ich nicht so schnell voran, aber mir gefällt das Buch noch immer recht gut. Die Geschichte mit Stärkles Schulkamerad, wie er ihm hintergangen ist, finde ich richtig spannend.

Ein wenig anstrengend finde ich Stärkle trotzdem. Die vielen intellektuellen Gedanken kann man nicht so flüssig lesen, man benötigt Zeit, sie in der Seele wirken zu lassen.
 

parden

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13. April 2014
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Ich habe den ersten Abschnitt nun auch gelesen - und mir gefällt es! Zwar ist auch hier wieder ein unzuverlässiger Erzähler (Himmel, Erinnerungen werden wach! :confused:), aber irgendwie bin ich doch gespannt, worauf das alles hinausläuft. Der Stotterer (interessant die Anmerkungen zum 'Sprachfehler') wickelt den Padre sowie den Leser mit Geschichten ein, um - ja, was? Und weshalb greift er immer wieder darauf zurück, Wahrheiten zu erfinden? Selbst im Gefängnis? Ich hoffe, wir erhalten die Antworten darauf...
 
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