So, den ersten Abschnitt habe ich durch. Ich hatte etwas Schwierigkeiten, in den Roman hineinzukommen. Durch den von @Sassenach123 angesprochenen Perspektivwechsel brauchte ich rund 40 Seiten, um den Zusammenhang zu erfassen.
Man kann das Buch definitiv nicht "verschlingen". Die Autorin beschreibt die Geschichte ihrer Figuren sehr eindringlich. Es gibt nur wenige Dialoge bislang. Ich kann mir die Orte der Handlung und die geschilderten Schicksale sehr gut vorstellen. Sie gehen mir nah.
Der betagte Leo lebt in einem Kibbuz in Israel. Er ist zusammen mit seiner Enkeltochter Nira angereist, um Erbschaftsangelegenheiten zu regeln. Berlin kommt ihm fremd und vertraut gleichermaßen vor. Immer wieder gleitet er in Erinnerungen ab, die wunderbar geschildert werden, auch wenn es überwiegend tragische Ereignisse sind. Schließlich lebte er als U-Boot, also als Untergetauchter, in der Stadt, in der er seinen besten Freund Manfred und seine Familie einst verlor.
Immer wieder begegnet ihm Laila, eine junge Frau, die aus Polen stammt, aber auch deutsche Wurzeln hat. Sie gehört zum Volk der Roma. Laila wohnt heute in dem Haus, das Leo damals als Zuflucht und Versteck diente.
Dort lebt heute noch Gertrud Romberg. Sie scheint die damalige Freundin seines Freundes Manfred zu sein, der 1943 von der Gestapo erwischt worden war und in Folge ein schlimmes Ende genommen hat. Bis jetzt scheut Leo davor zurück, Gertrud aufzusuchen.
Das Haus, das auch selbst zu Wort kommt, gehört heute einer skrupellosen Immobliengesellschaft, die versucht, die Wohnungen mit unlauteren Methoden zu entmieten, so dass die Bewohner auch aktuell Zukunftssorgen/Ängste haben.
Mir fällt positiv auf, dass die Autorin das gesamte Milieu des Wedding sehr gut einfangen kann. Die Figuren wirken authentisch. Bislang könnte ich noch keine Stereotype entdecken, obgleich wir es mit einer Fülle von Nationalitäten/Kulturen zu tun haben.
Die Enkeltochter Nira sorgt für ihr eigenes Vergnügen: die hat eine alte Liebschaft aufgewärmt, bei der sie auch die Nächte verbringt. Leo hat dazu ambivalente Gefühle: einerseits hat er sich die Reise anders vorgestellt, andererseits gönnt er der jungen Frau die Sorglosigkeit in der Stadt, die ihm selbst so sehr zu schaffen macht.
Erstes Urteil: Mein Daumen zeigt eindeutig nach oben!
Sehr schöne Zusammenfassung, es gibt nichts hinzuzufügen.
Mir ist noch aufgefallen, dass Leo bestimmt denkt, Gertrud hätte seinen Freund Manfred verraten, als er kurz vor Kriegsende erwisch5 wurde und im Gefängnis umkam (durch Bomben oder ermordet ist unklar)
Was ich ein bisschen seltsam finde ist, dass Rosa, Manfreds Schwester, kein Testament gemacht haben soll bzw. offenbar nie eine Rückforderung gestellt hat auf das Haus in der Utrechter Straße? Sie starb kinderlos in London, habe ich überlesen, wann das gewesen ist oder wurde es nicht erwähnt?
Ich habe trotz der Schwere, die über dem Geschehen hängt, das Gefühl, dass sich das Schicksal von einigen Menschen im Wedding wenden wird.
Erdrückt von der Gentrifizierung, unter Druck gesetzt von Immobilienhaien, die bedingt durch die Nähe zum Stadtbezirk Mitte (der in Berlin inzwischen absolut unbezahlbar geworden ist - ich kann mich noch gut an die Rumpelbuden dort bis Anfang der 2000er Jahre erinnern) richtig viel Geld machen wollen, stehen die meist alten oder ärmeren Bewohner ganz nahe am Abgrund. Das Leben in dieser Ecke Berlins ist übrigens so passend eingefangen. Der Gegensatz zwischen Inn-Kneipen und alten hilflosen Menschen auf der anderen Straßenseite...
Es ist erstaunlich, wie viel Lebensmut hinter den Geschichten der einzelnen Charaktere stehen. Es genügt schon ein kleiner Teil dessen, was eine der Figuren erleben musste, um zu verzagen. Aber Leo, Edith, Flora, Laila und Gertrud bleiben stehen und leben weiter. Leo sagt an einer Stelle sogar, dass es nur um die Zukunft geht (als er in Israel landete), geheult hat er nach dem Krieg nur in der Synagoge, und er konnte mit dem Gejammer der Besiegten nichts anfangen. Das treibt mir die Tränen in die Augen, ehrlich.