1. Leseabschnitt: Anfang bis Kapitel 12 (Anfang bis S. 96)

Lesehorizont

Bekanntes Mitglied
29. März 2022
2.570
9.714
49
53
Mainz
Ich bin auch der Meinung, dass die ganze Geschichte wahr ist und lese das Buch so, als wäre alles wirklich passiert.
Dieser Punkt wurde schon mehrfach angesprochen. Meine Position ist dabei, dass es auf die Qualität der erzählten Geschichte ankommt. Ob die dann so passiert, fiktional oder halb-fiktional ist, ist für mich eigentlich sekundär. Die Geschichte wird als Roman verkauft und so lese ich sie auch erst mal.
In "Die Überlebenden" werden die Eltern als verantwortungslose Trinker dargestellt, und wenn ich damals gewusst hätte, dass Schulman seine eigenen Eltern meinte, hätte mich das - hm - ziemlich abgestoßen. Gibt es denn dazu eine Erklärung irgendeiner Art?
Mmh - ich glaube, ich bin anderer Meinung. Knausgard hat in seiner sechsbändigen Romanautobiografie ja auch eigene Erlebnisse, insbesondere das schwierige Verhältnis zum Vater thematisiert. Dennoch sehe ich eher die große literarische Leistung dahinter. Ich moralisiere da nicht, ob man über andere negative Geschichten veröffentlichen darf (obwohl eine Anoymisierung ggfs. sinnvoll und notwendig erscheint). Was mich allerdings sehr stört, wären Jammerorgien oder blinde Schuldzuweisungen. Das ist bei Schulmans Buch nicht der Fall.
Ich bin zwar auch der Meinung, dass Verhaltensmuster weitergegeben werden. Aber versucht man dann nicht diese Manieren, die besonders gestört haben, zu vermeiden?
Ich glaube, das wird sehr kontrovers diskutiert. Was wird vererbt, und was wird durch das Umfeld geprägt? Sicher schwer zu entscheiden. Ich denke, es gibt vielleicht so etwas wie Anlagen, die Risiken mit sich bringen, die aber dennoch beeinfluss- und veränderbar sind.
Sonst zum Buch selbst. Man kann es wunderbar lesen, die Geschichte weckt von Anfang an viele Emotionen
Das stimmt. Ich lese das Buch auch sehr interessiert und wurde schnell hineingezogen.
Da nutzt ein Autor seine Reichweite, um eine Geschichte seiner Familie zu verbreiten, aus seiner persönlichen Sicht. Diejenigen Menschen, die er beschreibt, haben diese Reichweite womöglich nicht. Und solange wir nur seine Sicht der Dinge kennen, können wir in keiner Weise beurteilen, ob es die ganze Wahrheit ist. Ich habe oft beobachten können, wie einfach es ist, im Nachhinein Erinnerungen zu verfälschen - das muss keineswegs böse Absicht sein, das geschieht manchmal ganz von selbst.
Ich lese das Buch anders - eben als fiktives Werk. Für mich ist es erst mal unerheblich, ob die Geschichte auf wahren Gegebenheiten beruht oder nicht.
Nicht umsonst werden Kinder von Alkoholikern überdurchnittlich häufig selbst zu Trinkern und Töchter prügelnder Väter heiraten gewalttätige Ehemänner.
Das stimmt schon. Es gibt ein höheres Risiko. Eine Zwangsläufigkeit gibt es jedoch nicht. Daher stellt sich für mich nicht die Alterantive von Vererbung oder nicht. Man kann Einfluss nehmen und sich ändern. Dafür gibt es auch genügend Beispiele.
Noch etwas, ganz am Rande: Bei der Beschreibung am Anfang, wie genau die Kinder ihren Papa beobachten und seine Stimmungen deuten, musste ich daran denken, was ich mal in einem Krimi gelesen habe, da ging es um Aussagenexperten - also Leute, die besonders gut darin sind, Lügen und Ausflüchte zu erkennen. Das sind angeblich oft Kinder von drogensüchtigen oder anderweitig unberechenbaren Eltern, zum Beispiel auch Borderlinern. Deren Kinder bilden von klein auf eine besondere Beobachtungsgabe aus, was Gesichtausdrücke und Körpersprache angeht.
Interessanter Aspekt. Sicher auch so eine Art "Überlebensstrategie" bzw. ein Selbstschutzmechanismus.
 

Lesehorizont

Bekanntes Mitglied
29. März 2022
2.570
9.714
49
53
Mainz
Vieles wurde bereits angesprochen, Anderes habe ich kommentiert.
Ich habe den ersten Abschnitt mit großem Interesse gelesen - und zwar als Roman. Schulman hat mich mit seiner Schreibe in den Bann gezogen. Ich finde das Buch durchaus mutig, besonders, wenn es auf wahren Gegebenheiten in der Familie beruht.
Die schnörkellose Erzählung mitsamt alller Widersprüche, die die Charaktere auszeichnen, gefällt mir sehr. Widersprüche sind das reale Leben. Gut, dass dies hier deutlich wird.
Ich freue mich sehr, weiterzulesen.
 
  • Like
Reaktionen: RuLeka und Die Häsin

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.618
16.618
49
Rhönrand bei Fulda
Ich lese das Buch anders - eben als fiktives Werk. Für mich ist es erst mal unerheblich, ob die Geschichte auf wahren Gegebenheiten beruht oder nicht.
Ich hatte mir vorgenommen, das Buch genau so zu lesen, als fiktionales Werk. Leider funktioniert es bei mir nicht wirklich. Zum Beispiel der Sohn von Lagercrantz - das ist, stellt sich im zweiten LA heraus, der Lagercrantz, der Stieg Larssons Millennium-Trilogie anhand Larssons Notizen "fortgesetzt" hat. Meine persönliche Einstellung zu dieser Millennium-Trilogie beeinflusst natürlich meine Einstellung zu dieser Figur Lagercrantz. Das ist natürlich nur marginal von Bedeutung, aber es beeinflusst jedenfalls meine Lesart. Ich war geradezu erschrocken, als mir dieser Punkt klar wurde.

(Nehme mir den Vorgriff an dieser Stelle nicht übel - dass Lagercrantz junior Stieg Larsson weiterschrieb, ist für die Handlung unseres Buches ja ohne große Bedeutung.)
 

Eulenhaus

Aktives Mitglied
13. Juni 2022
329
1.547
44
Ich denke, dass der Großvater auch schon vor der Affäre ein eher autoritärer Mensch war, wie es zu der Zeit und auch noch später nicht selten üblich war (eigene Erlebnisse).
Ähnlich Bettina Flitner Meine Schwester.
Dass er über seine Familie schreibt, ist bei so einer Berühmtheit natürlich auch ein Garant für Bucherfolge.
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.325
5.536
49
53
Ich wollte nur mal kurz einen Blick in das Buch werfen - tja, und schwupps hatte ich den ersten Leseabschnitt durch. Jetzt muss ich mich disziplinieren und erst einige andere Dinge erledigen, weil ich fürchte, hängen zu bleiben. Schulman gelingt es mit wenigen Worten und kurzen, prägnanten Szenen ein lebendiges Bild von der Situation des Ich-Erzählers und seiner Familie zu zeichnen. Ich habe die das Bild der geraden und gezackten Linien, das während der Therapie entstand, direkt vor Augen. Es ist klar, dass diese geballte Disharmonie innerhalb der Familie mütterlicherseits, die ständigen Streitereien, der häufige Wechsel zwischen Abbruch und Wiederaufnahme von Kontakten etwas mit allen Beteiligten macht. Sehr gut gefallen hat mir in diesem Zusammenhang auch die Szene der Cousins und Cousinen, die sich treffen, weil sie als Erwachsene erkennen, dass sie nicht verantwortlich für die Streitereien ihrer Eltern waren - trotzdem schwingt bei ihrem Treffen die Familiengeschichte mit.
Der Großvater, ein talentierter, egozentrischer, selbstverliebter, unnahbarer Tyrann, dem es an Empathiefähigkeit mangelt, dem es Vergnügen bereitet, andere zu demütigen. Ganz schlimm finde ich, wie er die Gedichte seines Sohnes ins Lächerliche zieht, aber auch wie er mittels seines Spazierstockes mit seiner Frau kommuniziert. Ich frage mich, ob er bereits vor dem „sexuellen Attentat“, wie er es nennt, so war? Anzeichen dafür, dass er bereits zuvor kein umgänglicher Mann war, sehe ich schon. Seine Schnelllesefähigkeit is enorm - ich vermute ein fotografisches Gedächtnis, eine besondere Begabung, die ihm zugeflogen ist für die er dankbar sein kann - aber es ist nicht sein Verdienst. Ich bin sehr neugierig, die näheren Umstände des Treuebruchs zu erfahren. Wie ich Schulmann kenne, kommt da noch etwas - 70 Jahre lang Alpträume, eine Besessenheit Olof Lagercrantz fertig zu machen - was ist da wirklich passiert?
 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
1.325
5.536
49
53
Das traumatische Erlebnis muss die Untreue der Großmutter gewesen sein. Für alle drei Beteiligten folgenschwer.
Der Großvater versucht in all seinen Romanen diese Untreue zu verarbeiten, anscheinend vergeblich.
Der Liebhaber träumt sein Leben lang von dieser Frau.
Und die Großmutter Karin bleibt schuldbewusst und demütig an der Seite ihres Ehemanns.
Ich frage mich die ganze Zeit, was da tatsächlich vorgefallen ist. Untreue, ok - aber es muss schon sehr speziell gewesen sein, wenn einen dieses Ereignis 70 Jahre lang jeden Tag verfolgt, obwohl Karin bei ihm geblieben ist. Er hat gegenüber diesem Thema ein solche Besessenheit entwickelt, dass mir das weniger nach Verarbeitung, sondern nach immer weiter Hineinsteigern vorkommt. Hat Karin wohl seine Romane gelesen?
Allein diese Geschichte ist spannend. Was das Ganze aber spektakulär macht, ist das unverschlüsselt Autobiographische.
Alle Figuren werden mit ihren echten Namen genannt. Allesamt bekannte Persönlichkeiten in Schweden.
Oh, das wusste ich gar nicht.
So interessiert wie ich das verfolge, frage ich mich doch, ob man so etwas darf. Als Enkel die eigene Familie so bloßstellen. Ich fühle mich als Leser wie ein Voyeur.
Vielleicht käme ich mir wie eine Voyeurin vor, wenn ich einen Bezug zu den beiden hätte. So lese ich es tatsächlich als fesselndes Psychogramm einer Familie, fiktiv oder autobiografisch - das ist für mich gerade unbedeutsam.
Ich frage mich ja, ob die Wut selbst tatsächlich vererbt werden kann oder doch eher die Veranlagung, in Wut zu geraten?
Ich glaube, es gibt unterschiedliche Ebenen: Das vererbte Temperament (Veranlagung), erlernte Verhaltensweisen, aber auch vererbte Traumata (in diesem Fall die Konfrontation mit unvorhersehbarer Wut, die seit Generationen besteht, verletzte und nie verarbeitet wurde.)
Ehrlich gesagt interessiert mich das nicht sonderlich. Das ist eine Entscheidung, die der Autor treffen muss, ja. Aber wenn ich mich im Wissen um den biographischen Charakter entscheide, dieses Buch zu lesen, dann geht es für mich um die Qualität, den Erkenntnisgewinn, kurz, um den Roman an sich.

Ich halte moralisierende Überlegungen in diesem Kontext eher für kontraproduktiv.
Dem stimme ich zu.
Unglaublich armselig ist andererseits, wie er seine eigenen Bücher mit Anmerkungen wie "brillant" und "genial formuliert" versieht und dass er seinen Rivalen konsequent überall verreißt, und das sogar - finde ich geradezu unglaublich - in einem extra zu diesem Zweck geschriebenen Buch (S. 92). Ich wundere mich, dass ihn anscheinend niemand gefragt hat, warum er diesen Autor (Lagercrantz) so ausführlich behandelt, wenn er ihn für eine Niete hält. Darüber müsste man doch kein Buch schreiben. Die Selbstentlarvung, die mit solchen Aktionen verbunden ist (auch die Anmerkungen in seinen eigenen Büchern), entgeht ihm anscheinend völlig - meiner Meinung nach macht er sich damit selbst zur lächerlichen Figur,
Gut, dass du das nochmal auf den Punkt bringst.
Was ich mich frage - er behauptet ja, Opfer eines "sexuellen Attentats" gewesen zu sein. Damit kann doch nicht die Erkenntnis gemeint sein, dass seine Frau ihn betrog? Unter einem sexuellen Attentat würde ich jedenfalls was anderes verstehen. Jetzt bin ich doch recht gespannt.
Das ist auch mein größtes Fragezeichen bisher.
Auch die Ehefrau ist für mich voller Widersprüche. Einerseits die unterwürfige Ehefrau, liebe Oma und Mutter (?). Andererseits eine Frau, die wahre Liebe erfahren (?) und auf sie verzichtet hat. Ich hoffe, wir erfahren mehr darüber.
Voller Widersprüche, die sich vermutlich auflösen, wenn wir mehr über das sogenannte "sexuelle Attentat" erfahren.