Thema "Die Vögel" von Tarjei Vesaas ab 6. Dezember 2020

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Vögel von Tarjei Vesaas
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Tarjei Vesaas (1897–1970) ist mit zwei meisterhaften Romanen unsterblich geworden: »Das Eis-Schloss« und »Die Vögel«.

In »Die Vögel« erzählt er von dem Außenseiter Mattis, der sich in eine kindliche innere Welt zurückgezogen hat und von den anderen Dorfbewohnern als zurückgeblieben verlacht wird. Seinen Lebensunterhalt versucht er mit kleinen Hilfsarbeiten auf dem Feld und im Wald zu bestreiten. Mattis lebt in einer Hütte am See mit seiner Schwester Hege, die den Haushalt führt und ihn versorgt, und er fühlt sich mit der Natur ringsum verbunden. Besonders ziehen ihn die Waldschnepfen an, deren frühlingshaften Balzflug er als Zeichen sieht, als Verheißung, die er nicht entschlüsseln kann. Als eines Tages der Holzfäller Jørgen auftaucht, sich in Hege verliebt – und dann auch noch eine Schnepfe erschossen wird, wirft es Mattis aus der Bahn. In sparsamer, eindringlicher Sprache und in unvergesslichen Bildern beschreibt Tarjei Vesaas das Innenleben des Sonderlings Mattis und seinen Blick auf die Welt, und dabei auch sein Unvermögen, sich auszudrücken, sich mit anderen Menschen zu verständigen. Das Ungesagte zwischen den Zeilen, das im Grunde Unsagbare fügt Vesaas in einzigartiger, unverwechselbarer Weise ins feine Netz der Erzählung und erzeugt damit poetische Spannung und ein unbedingtes Mitgefühl für Mattis. Hinrich Schmidt-Henkel versteht es auf fast magische Weise, die Zwischentöne, Auslassungen und die Verknappung in der deutschen Übersetzung nachzubilden und uns die Geschichte mit ihrer ganz eigenen Melodie so nahezubringen, dass uns gar nichts übrig bleibt, als den Roman und seine Hauptfigur Mattis tief ins Herz zu schließen. (Quelle: Amazon)

Spontan haben wir uns zu einer kleinen Leserunde verabredet, um diese Neuerscheinung des Guggolz Verlages miteinander zu lesen. Da wir nur einen Diskussionsstrang haben, bitte ich euch, immer die Seite obendrüber zu schreiben, auf der ihr gerade seid.
Wer später einsteigen möchte: Kein Problem, das Thema bleibt ja geöffnet.
Ich bin sicher, dass dieser Roman Gesprächsstoff bietet. Er wird bislang sehr positiv aufgenommen.
Uns allen viel Freude bei der Lektüre:reader3!
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Tja, nee, Seitenzahl? Mehr so allgemein.

Warum heißt dieser Roman ausgerechnet "Die Vögel", das scheint mir dann doch ein wenig "aus der Luft" gegriffen... aber das würde dann ja wieder passen!o_O

Da ist der Schnepfenflug, ja, aber da ist doch noch soviel mehr!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Seite 72:
Mattis wird allgemein als Dussel bezeichnet. Er scheint retardiert zu sein, zurückgeblieben. Viele seiner Gedankengänge wirken kindlich, es mischen sich aber auch erwachsene Gefühle mit hinein. Diese Mischung macht seine Innensicht so berührend, weil er bewusst spürt, wo seine Grenzen liegen. Er möchte anders sein, wie die anderen. Er möchte nicht verlacht werden und dazu gehören.

Mattis ist 37 und lebt mit seiner um drei Jahre älteren Schwester Hege zusammen in einem Häuschen am See. Eines Abends bemerkt er, dass die Schnepfen in ihrer Balz über das Haus ziehen. Diese Beobachtung bringt ihn völlig durcheinander. Er weckt seine Schwester, die sich in der Situation überfordert fühlt. Später hat er einen Traum, aus dem seine Sehnsucht nach (auch körperlicher) Liebe hervorgeht. Der Schnepfenstrich soll für ihn alles anders und neu machen, er schöpft Hoffnung.

Hege besteht darauf, dass Mattis sich eine Arbeit sucht, um zum Lebensunterhalt etwas beizutragen. Er geht los, findet einen Bauern, der ihn zum Rübenverziehen einstellt. Zusammen mit dem Bauern und einem jungen verliebten Paar gehen sie los. Anfangs kann Mattis mithalten. Schnell verknoten sich aber seine Gedanken, das Liebesglück der beiden lenkt ihn ab, macht ihn so konfus, dass er Unkraut stehen lässt und Rübenpflanzen auszupft....
Trotzdem ist der Bauer nicht böse. Mattis darf mit den anderen mitessen. Dadurch fühlt er sich gewertschätzt. Die Bauersfrau ist nett zu ihm. Offensichtlich kennt sie Mattis und seine Schwester. Nachdem er den Nachmittag verschlafen hat, bekommt er sogar noch einen "ordentlich vergoltenen Lohn".

Matthis hätte gern die drei Dinge: Klugheit, Schönheit und Kraft. Darum beneidet er andere Menschen. Seine Unzulänglichkeit nimmt er als dunkle Wolke wahr, die sich über sein Gesicht stülpt. Die Schnepfengeschichte soll alles verändern. Ich bin sehr angetan vom ersten Viertel, es ist erstaunlich, wie es dem Autor gelingt, die Figur Matthis so empathisch zu beschreiben. Absolut glaubwürdig, ohne Schönfärberei.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Trotzdem ist der Bauer nicht böse. Mattis darf mit den anderen mitessen. Dadurch fühlt er sich gewertschätzt. Die Bauersfrau ist nett zu ihm. Offensichtlich kennt sie Mattis und seine Schwester. Nachdem er den Nachmittag verschlafen hat, bekommt er sogar noch einen "ordentlich vergoltenen Lohn".

Das ist einer der Punkte, die diesen Roman so besonders macht. Eigentlich erwartet man mehr "Gemeinheit" und Ungeduld von den Dorfbewohnern, aber sie arrangieren sich mit Mattis Unbeholfenheit, soweit es ihre wirtschaftliche Lage zulässt. Eigentlich ist Mattis dort sehr gut aufgehoben.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Mattis ist 37 und lebt mit seiner um drei Jahre älteren Schwester Hege zusammen in einem Häuschen am See. Eines Abends bemerkt er, dass die Schnepfen in ihrer Balz über das Haus ziehen. Diese Beobachtung bringt ihn völlig durcheinander. Er weckt seine Schwester, die sich in der Situation überfordert fühlt. Später hat er einen Traum, aus dem seine Sehnsucht nach (auch körperlicher) Liebe hervorgeht. Der Schnepfenstrich soll für ihn alles anders und neu machen, er schöpft Hoffnung.
Das fand ich so schön beschrieben ;) Bin jetzt auf S. 38. Er ist gerade aus seinem Traum erwacht.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Seite 170
Ich lese das Buch sehr gerne. Es plätschert unaufgeregt dahin und gibt Tiefe Einblicke in Mattis Seelenleben. Er hat etwas Kindliches, Naives, aber auch Autistisches. Er klammert sich an manchen Gedanken fest. Dann hat nichts anderes mehr Platz in seinem Kopf. Der Schnepfenstrich hat ihn so glücklich gemacht, dass er allen Leuten davon erzählen muss. Zu spät merkt er, dass er sein Geheimnis auch mit dem Jäger geteilt hat, der es sofort für sich ausnutzt. Mattis leidet darunter, kann den Abschuss des Vogels nicht verhindern, aber für ein Begräbnis sorgen.

Die meisten Menschen im Dorf sind Matthis zugetan. Sie spotten zwar hinter seinem Rücken, wollen ihm aber nichts Böses und akzeptieren die Schwächen. Nur der Kaufmann tut des Guten zuviel, weil er ihm Bonbons schenkt: als Kind möchte Mattis nicht gelten...

Mattis sieht hinter den Naturerscheinungen Zeichen, die sich auf sein Glück/Unglück auswirken können. Er hat unsagbare Angst, Hege zu verlieren. Hege beruhigt ihn immer wieder, weiß, wie sie ihn von einem Thema ablenken kann.

Das Buch lebt von seiner Szenerie. Bis jetzt passiert nicht viel. Man freut sich an den schönen Erlebnissen des Protagonisten. Die beiden Mädchen haben ihn beeindruckt. Interessant, dass er mit ihnen öffentlich auftreten wollte. Er kann also schon in gewisser Weise vorausschauend planen. Ich bin gespannt, ob es ihm gelingt, mit dem Rudern Geld zu verdienen.

Die Lektüre strahlt eine wunderbare Art von Frieden aus. Ideal zur Entspannung. Ob das so bleibt? Oder ob da noch ein Höhepunkt folgt?
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Er hat etwas Kindliches, Naives, aber auch Autistisches.

Für einen Autisten ist er mir nicht "rational" genug, eben weil er in allem ein Zeichen sieht.

Nur der Kaufmann tut des Guten zuviel, weil er ihm Bonbons schenkt: als Kind möchte Mattis nicht gelten...

Da ist Mattis regelrecht zerissen, weil ihm die Bonbons ja auch Trost sind. Aber gleichzeitig zeigt es auch sehr schön, dass er weiß, was zum Erwachsen sein dazugehört.... oder hat er sich diese Grenzen nur aus Heges Bemerkungen zusammengeschustert?

Ideal zur Entspannung. Ob das so bleibt?

Spätestens seit der Szene mit dem Jäger und der toten Schnepfe, war ich innerlich aufgeregt, ob Mattis nicht doch mal ausrastet, also nix mit Entspannung!;)
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Spätestens seit der Szene mit dem Jäger und der toten Schnepfe, war ich innerlich aufgeregt, ob Mattis nicht doch mal
Ja, das ist nicht von der Hand zu weisen. Das Buch arbeitet ja mit einer vielfältigen Symbolik (die ich gewiss nur ansatzweise entschlüsseln kann). Die tote Schnepfe mit ihren toten, geschlossenen Augen taucht in Grenzsituationen immer wieder in seinem Kopf auf. Ich hatte geschwind Angst um Jørgen im Wald, als Mattis spürt, dass sich sein Leben ändern könnte und er auch etwas vom Pilz isst in seiner inneren Raserei.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ende
Chapeau! Tatsächlich gibt es einen Höhepunkt. Aber ganz anders als ich ihn erwartet hätte.
Der Einsame verlangt ein Gottesurteil, er gibt die Dinge aus der Hand. Ähnlich wie im Eisschloss hält Vesaas kein gutes Ende für uns bereit.

Aber man kann Mattis' Gedankengänge nachvollziehen. Hege ist nicht seine Mutter. Sie hat ein Recht auf ein eigenes Leben. Mattis passt da nicht wirklich rein.

DIE ganze Zeit hatte ich Angst um Jorgen. Die Pilze rings um das Haus, über deren Giftigkeit Mattis Bescheid wusste....
Doch kann Mattis so etwas nicht konsequent zum Ende denken. Die Geschichte mit dem Boot und den Rudern allerdings schon. Ich befürchte, auch bei gutem Wetter wäre der Arme nicht an Land gekommen.

Das Nachwort hat mir hier gut gefallen und einige Symbole mehr aufgelöst. Den Schnepfenflug zum Beispiel. Ein wirklich feines Buch, das man mehrfach lesen kann. Mich hat es wirklich entspannt: das wenige Personal, Mattis zumeist naiver Gedankenstrom, die Landschaft, die guten, einfachen Menschen... Gegen Ende dann doch noch ein Finale.
Sehr empfehlenswert!
 
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Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
querleserin.blogspot.com
Ich bin froh, dass ich den Roman, wenn auch verspätet, gelesen habe. Die Sprache ist wunderbar, sehr knapp und reduziert, aus der Sicht Mattis, der die Welt mit ganz anderen Augen sieht. Autistisch ist er für mich auch nicht, verträumt, abwesend, nicht zielorientiert. Er lebt im Einklang mit der Natur, sieht in allem Zeichen, v.a. im Flug der Schnepfe, die die Beziehung zwischen Jörgen und Hege ankündigt, aber auch sein Erlebnis mit den Mädchen. Sein Wunsch danach, mit einem Mädchen zusammen zu sein, wird leider nicht erfüllt. Das war aber auch nicht anders zu erwarten.
Seine Art und Weise zu reden, einerseits Dinge direkt zu benennen, andererseits seine Deutungen preiszugeben, hat der Autor sehr einfühlsam wiedergegeben. Gleichzeitig wertet er Mattis Verhalten nicht, er bleibt fast ausschließlich in der personalen Perspektive.
Ein starkes Ende, sehr glaubwürdig. Mattis hat Angst, alleine zurechtkommen zu müssen. Er weiß, dass er Hege verloren hat. Ihrer Bitte, ihr dies zu gönnen, möchte er entsprechen, obwohl sie dies sicher nicht gewollt hat.
Ein lesenswerter Roman, ich hoffe, dass auch die anderen Werke des Autors ins Deutsche übertragen und herausgegeben werden.