Rezension Rezension (5/5*) zu Die Unvollkommenheit der Liebe: Roman von Elizabeth Strout.

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28. Oktober 2019
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Baden Württemberg
lieslos.blog
Der Schatten, den die Herkunft auf das Leben wirft…

Schon nach wenigen Seiten hat mich Elizabeth Strout mit ihrem 205-seitigen Roman völlig in ihren Bann gezogen.
Meine ersten Eindrücke: So lebendig und frisch, so tiefgründig und gehaltvoll.

Aber jetzt erst einmal ein paar Worte zum Inhalt:

Nach einem operativen Routineeingriff Mitte der 1980-er Jahre bekommt die Ich-Erzählerin Lucy, Ehefrau und Mutter zweier kleiner Töchter, aus ungeklärter Ursache Fieber, weshalb sie neun Wochen lang stationär in einem Krankenhaus in New York, mit Blick auf das imposante Chrysler Building (googeln lohnt sich ;-)), behandelt werden muss.
Genauso plötzlich wie das Fieber kam, verschwindet es nach dieser Zeit auch wieder, aber während dieser Wochen passiert so Einiges und genau davon erzählt Lucy uns rückblickend.

Eines Tages bekommt Lucy im Krankenhaus Besuch von ihrer Mutter, die nun einige Tage bei ihr bleibt und Geschichten von früher oder von alten Bekannten erzählt.

Lucy verspürt Freude und ein „warmes, flüssiges Gefühl“ (S. 11), weil sie ihre Mutter nach Jahren endlich wiedersieht. Sie ist glücklich, über „diese ganz neue Art, miteinander zu reden“ (S. 43). „Oh, war ich glücklich, wie ich da lag und mit meiner Mutter schwatzte!“ (S. 43)

Die teilweise aufwühlenden, aber auch amüsanten Geschichten ihrer Mutter bringen Lucy auf andere Gedanken und lassen sie abschweifen und assoziieren.

Auf diese Weise erfahren wir, dass Lucy zusammen mit ihren beiden älteren Geschwistern in äußerst ärmlichen und lieblosen Verhältnissen und als Außenseiterin bei ihren Eltern in einem abgelegenen Haus in Illinois aufgewachsen ist.
Wir erfahren auch, wann, wodurch und weshalb die erfolgreiche Schülerin Lucy den Wunsch, Schriftstellerin zu werden, entwickelt hat und dass ihr, der naiven, aber wissbegierigen und sympathischen Unschuld vom Lande, aufgrund ihrer vorbildlichen Noten ein kostenloser Studienplatz in der großen weiten Welt, in Chicago, angeboten wurde.
Und wir erleben mit, wie Lucy im zweiten Studienjahr ihren künftigen Mann William, Laborassistent bei ihrem Biologieprofessor kennenlernte und wodurch es zu dem Kontaktabbruch mit ihrer Ursprungsfamilie kam.
Zu alledem möchte ich keine Details verraten, weil ich niemandes Lesevergnügen mindern möchte.

Nur so viel: Im Wechsel lauschen wir im Folgenden den Geschichten und Erinnerungen der Mutter, den Unterhaltungen zwischen Mutter und Tochter im Krankenzimmer und Lucys Erinnerungen und Anekdoten aus ihrem bisherigen Leben.

Und dann kippt Lucys Stimmung. Unliebsame Erinnerungen tauchen auf und mit ihnen verdrängte Gefühle ... Sie spürt, was ihr gefehlt hat und fehlt.

Ich möchte noch einige tiefgründige, wahre oder amüsante Formulierungen zitieren:

„„Du hast mehr Substanz, aber Irene hat mehr Stil.“
Ich sagte: „Aber Stil IST Substanz.““ (S. 33)

„Ich sagte: „Es gab ziemlich oft Dosenbohnen bei uns.“ Und er sagte: „Und dann habt ihr alle um die Wette gefurzt, oder wie?“ Und da wurde mir klar, dass ich ihn nie heiraten würde. Seltsam, wie ein Satz ausreichen kann, um einem so etwas klarzumachen. Man kann bereit sein, auf die Kinder zu verzichten, die man sich eigentlich wünscht, man kann bereit sein, Kommentare über seine Vergangenheit, seine Kleidung an sich abprallen zu lassen, und dann – eine kleine Bemerkung, und die Seele fällt in sich zusammen und sagt: Oh.“ (S. 34)

„Abgesehen von Ihrer Krankheit sind Sie gesund...“ (S. 146)

„Aber letztlich, so glaube ich, heißt rabiat sein, auf sich selbst zu hören, zu sagen: Hier stehe ich, und ich gehe nicht an einen Ort, gegen den sich alles in mir sperrt...“ (S. 191)

Und last but not least: „Leben, denke ich manchmal, heißt Staunen.“ (S. 205)

Mir wurde keine Sekunde langweilig, in der ich Lucy, eine tiefgründige, ehrliche, beschädigte und starke Frau begleitete.
Sie hat so etwas Bescheidenes, Weltfremdes, Kluges, Offenes, Verletzliches und Ursprüngliches an sich, das gleichermaßen fesselt und erstaunt.
Und sie ist bewundernswert selbstkritisch!

Ein Hauch von Schwermut und Melancholie schwebt über der Geschichte, aber ebenso Zuversicht und Vertrauen ins Leben.

Das war mein erster, aber sicherlich nicht letzter Roman von der 1956 in Maine geborenen Elizabeth Strout. Er wurde 2016 für den Man Booker Prize nominiert.

Ich empfehle den Roman sehr gerne weiter!