Rezension Rezension (4/5*) zu Hannah und Ludwig: Heimatlos in Tel Aviv von Rafael Seligmann.

Yolande

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13. Februar 2020
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Heimatlos in Tel Aviv


Wir haben unser Zuhause und damit die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein. Wir haben unsere Sprache verloren und damit die Natürlichkeit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Wir haben unsere Verwandten in den polnischen Ghettos zurückgelassen, unsere besten Freunde sind in den Konzentrationslagern umgebracht worden, und das bedeutet den Zusammenbruch der privaten Welt
Hannah Arendt, Wir Flüchtige (1934), das Eingangszitat des Buches

Ludwig und Heinrich Seligmann haben ebenfalls alles zurückgelassen, als sie im Sommer 1934 in Palästina ankommen. Nur mit zwei Koffern und einer geringen Barschaft müssen sie sich dem unbekannten Land, dem ungewohnten Klima und der fremden Sprache stellen.

Der deutsch-jüdische Politologe und Historiker Rafael Seligmann hat die Geschichte seiner Eltern aufgeschrieben. Im ersten Teil "Lauf, Ludwig, lauf! (erschienen 2019 im Verlag LangenMüller) berichtet er über die Kindheit und Jugend seines Vaters Ludwig in Deutschland. Als die Ressentiments und Gewaltausbrüche gegenüber den Juden stärker werden, muss er mit seinem Bruder Heinrich fliehen.

In diesem Buch, das sehr passend mit "Heimatlos in Tel Aviv" untertitelt ist, beschreibt Seligmann das Leben seiner Eltern als Einwanderer in einem fremden Land. Es ist ein hartes Leben. Durch die sich verschärfende Situation der Juden in Deutschland und Europa drängen immer mehr Menschen in das britische Protektorat in Palästina. Es gibt wenig Arbeit, es herrscht das Recht des Stärkeren. Trotz aller Widrigkeiten gelingt es Ludwig und Heinrich Unterkunft und Arbeit zu finden. Zunächst nur als Zeitungsausträger und Putzkraft, aber Ludwig gelingt es sich durch seine Energie und Überzeugungskraft in eine leitende Stellung hochzuarbeiten. Sein menschenfreundlicher Chef unterstützt in tatkräftig, so dass es den Brüdern möglich ist, die restliche Familie aus Deutschland herauszuholen, bevor die britischen Besatzer die Einwanderung stoppen. Heinrich sieht den Aufenthalt eher als Übergangsphase, er ist der Überzeugung, dass der Spuk in Deutschland bald vorüber ist und alle in ihre geliebte Heimat zurückkehren können. Er wird immer fremd in Israel bleiben.

Die politischen und historischen Ereignisse in Europa und Palästina werden ebenso geschildert, ebenso wie das unrühmliche Verhalten der Briten. Im Schmelztiegel der verschiedenen Religionen und Kulturen kommt es immer wieder zu gewalttätigen Zusammenstößen. Die deutschstämmigen "Jeckes" mit ihrer deutschen Ordnungsliebe und ihrem Hang zu Pedanterie blicken auf die in ihren Augen faulen und hintertriebenen Ostjuden herab. Die einheimischen Araber sehen sich im Angesicht der ansteigenden Flüchtlingswelle immer mehr in der Minderheit und kämpfen gegen ihre jüdischen Feinde. Gemeinsam ist der Kampf gegen die britischen Besatzer.

Trotz allem geht das normale Leben weiter. Ludwig trifft Hannah und ist sofort verliebt, während sie zunächst hauptsächlich einen Ausweg aus ihren prekären Verhältnissen sucht. Sie kam als Touristin und lebt nun illegal im Land, abhängig vom Ehemann ihrer Schwester, der diese Situation gnadenlos ausnutzt. Seligmann wechselt ab hier die Erzählstimme. Wurde der Beginn ausschließlich aus der Sicht seines Vaters Ludwig geschildert, kommt nun auch die Sichtweise seiner Mutter Hannah hinzu. Der Wechsel zwischen den Stimmen wird nicht gekennzeichnet und kann für manchen Leser etwas verwirrend sein.

Der Krieg in Europa geht zu Ende, aber in Israel gehen die Kämpfe weiter. Nachdem sich die Briten auf Druck der UNO zurückgezogen haben, wird der junge Staat bereits einen Tag nach seiner Gründung von den umgebenden arabischen Staaten angegriffen. Trotz dieser unsicheren Lage bekommen Hannah und Ludwig einen Sohn, Rafael. Während Hannah völlig in ihrer Mutterrolle aufgeht und Ludwig sich, nach dem Tod seines Chefs und Mentors in einer schwierigeren Arbeitssituation sieht, entfremden sich die Eheleute. Ludwig ist im Herzen noch in Deutschland verhaftet, er spricht kaum "Irwith", das moderne Hebräisch und Landessprache, er überlegt in die alte Heimat zurückzukehren. Hannah hingegen möchte niemals in das Land der Nazis und Mörder.

Meine Sympathien für die einzelnen Protagonisten haben während der Lektüre ständig gewechselt, was natürlich den unterschiedlichen Perspektiven geschuldet war. Die Sprachlosigkeit in der Ehe wird durch beide Partner verschuldet, aber jeder ist von seinem Standpunkt überzeugt und fordert das Verständnis des anderen, ohne dies jedoch auszusprechen. Im Angesicht einer wirtschaftlichen Katastrophe für die Familie findet das Paar doch wieder zueinander.

Rafael Seligmann ist es gelungen ein Gesamtbild zu schaffen. Ein Gesamtbild der politischen und historischen Ereignisse der Zeit, die für die Menschen in Palästina, bzw. Israel von existenzieller Bedeutung waren, aber auch die Lebensituationen der Einwanderer wird packend erzählt. Der Verlust der Heimat dringt durch jede Zeile:

Damals begriff ich noch nicht, das man Heimat nicht wie ein gebrauchtes Hemd wechseln kann. Durch unsere vertraute Muttersprache und die Traditionen waren wir unser Lebtag unentrinnbar mit Deutschland verbunden

Fazit: Eine packende Familiengeschichte vor historischem Hintergrund, sehr lesenswert.




 
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