Rezension Rezension (5/5*) zu Der Halbbart von Charles Lewinsky.

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Buchinformationen und Rezensionen zu Der Halbbart von Charles Lewinsky
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Der Halbbart

Leicht macht es Charles Lewinsky seinen Lesern in seinem neuen Roman „Der Halbbart“ nicht gerade, gespickt mit Schweizer Mundartausdrücken und der Historie der Schweizer Gründungslegende im Hintergrund, die sich nur schwer erschließt. Aber es ist ein Schmökerroman im allerbesten Sinne, ein Schelmenstück und ein Balanceakt, der sprachlich und erzählerisch absolut gelungen ist, wenn man es schafft, sich auf den Autor und seine Geschichte einzulassen.

Sebi, ein einfacher Schweizer Bube um 1300, wächst auf als Halbwaise mit seinen Brüdern Geni und Poli, bevor er auch noch seine Mutter verliert. Er hat es nicht leicht in einem Dorf, in dem Gut und Böse verschwägert sind und der Totengräber immer reichlich zu tun hat. Ein misstrauisch beäugter Fremder, äußerlich versehrt und weit gereist, nimmt den Sebi unter seine Fittiche und erzählt ihm in Bruchstücken seine Geschichte, die immer wieder eng mit den Geschicken des Dorfes verwickelt ist, geprägt von Schicksalsschlägen und Intrigen und Gewalt.

Sebi, der Sensible, hat es schwer, seinen ihm angedachten Platz einzunehmen. Die Klosterobhut endet traumatisch, beim Dorfschmied findet er zwar Geschwisterersatz bei dessen Tochter, doch ohne Bestand. Durch den Widerstreit zwischen den Habsburgern und Wittelsbachern gibt es Gemetzel, Plünderungen und viel Leid, das Sebi gottesfürchtig aber nicht realitätsblind zu ertragen weiß. Schließlich führt ihn sein Weg zum Teufels-Anneli, wo er zum Geschichtenerzähler ausgebildet wird.

Der Geschichtenerzähler Eusebius, oder Sebi, lässt den Leser teilhaben an der mittelalterlichen Welt mit großem Leid, Glaubenssätzen und einem von Not und Krieg geprägtem Alltag, bei dem das große Ganze verwischt, aber nie aus dem Auge verloren wird. Mit bestechend klarem Ton, der Neugier eines Kindes und der Klarsicht eines Erwachsenen erzählt Sebi, mit Witz und Verstand.

Lewinsky präsentiert in diesem Roman schelmisch und fast philosophisch seine Fabulierlust, seinen Sprachwitz und seine Klugheit mit Themen, die erst auf den zweiten Blick augenscheinlich werden. Neben der frechen Neuerzählung der Gründungsgeschichte der Schweiz reibt er sich an der Gewaltfrage, an Gottesfürchtigkeit und Glauben und am Teufelsbild, ohne dabei zu moralisieren. Verspielt, nachdenklich über einer andere denkbare Realität und doch wenig utopisch, ist das Buch ein sehr gelungenes Gegenstück zu althergebrachter historisch geprägter Literatur mit all ihrer Schwere.

Die von Lewinsky neu erzählte Vorgeschichte der Schlacht von Morgarten im Jahr 1315 ist gut recherchiert, auch wenn man als Leser die Fakten keinesfalls vom Autor serviert bekommt, sondern sich diese selbst erarbeiten muss. Seine Figuren, der jüdische Flüchtling Halbbart und der Geschichtenerzähler Sebi, scheinen auch nicht unbedingt jener Zeit entsprungen, sondern entsprechen in ihrem Denken, Fühlen und Handeln eher dem individuellen und modernen Menschen. Beide stehen dem frommen Glauben und Aberglauben skeptisch gegenüber. Das Geflecht der Gesellschaft, in der sich die beiden bewegen, ist aber mit allen existenziellen Nöten, Konflikten und Gewalttaten durchaus der historischen Epoche des Mittelalters zuzuordnen und wirkt authentisch.

Naiv, mit Augenzwinkern und bestechender Leichtigkeit trotz der sprachlich durch die Schweizerdeutschen Ausdrücke etwas rustikalen Atmosphäre führt Lewinsky den Leser durch die Geschichte um den Marchenstreit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Landleuten des Ortes Schwyz. Er verpasst den historischen Ereignissen einen familiären Touch, macht aus der großen Schlacht bei Morgarten ein eher unheroisches Gemetzel und läßt seinen fulminanten Roman clouhaft durch die Macht des Wortes ein rundes Ganzes werden, das man beim Lesen kaum weglegen möchte. Bravo!

von: Lauren Groff
von: Mathias Grüner
von: Anne von Canal