Karins Mann Jens ist gestorben - der Mann, mit dem sie den Großteil ihres Lebens verbracht hat, ihre große und einzige Liebe. In tiefe Traurigkeit gestürzt, vernachlässigt sie sich selbst und ihr Zuhause und trinkt zu viel. Ihre drei erwachsenen Töchter Geli, Imke und Anne sind besorgt. Imke hat überdies ihrem Vater auf dem Sterbebett das Versprechen gegeben, "nach Peter zu suchen". Wer ist Peter? Keine der Schwestern weiß es, und auch Karin gibt sich ahnungslos, aber so zugeknöpft, dass Imke ein Geheimnis vermutet. Zu Recht, wie sich herausstellt.
Jede der vier Frauen bekommt in dem Roman einen eigenen Erzählstrang; der Fokus wechselt kapitelweise ab. Karins Strang ist überdies aufgeteilt in die Begebnisse der Gegenwart: ihre Versuche, die Trauer zu bewältigen, den Ansprüchen und Nachfragen der erwachsenen Töchter die Stirn zu bieten und ihre vielen seltsamen Ängste und Zwänge zu meistern. Der andere Erzählstrang der Vergangenheit beginnt im Jahr 1956, mit der sechzehnjährigen Karin und schildert anschaulich die moralinsaure Atmosphäre jener Zeit, in der Prügel (und noch Schlimmeres) als legitimes Erziehungsmittel galten.
Zum Inhalt der Erzählstränge: Von den drei Töchtern nimmt die vernünftige Imke - selbst glücklich verheiratet und Mutter - mit ihren Nachforschungen nach "Peter" den meisten Raum ein. Die älteste Schwester Geli, bereits Witwe und reiche Erbin, genießt ihr Leben und die Jagd nach einem "Neuen"; die Jüngste, Anne, wird von beruflichem Ehrgeiz angetrieben und ordnet diesem Streben alles andere unter. Die Kapitel, die von Imkes Spurensuche in der Vergangenheit ihrer Familie handeln, sind spannend und stellenweise atmosphärisch dicht. Karins Vergangenheitskapitel erschüttern und beklemmen, v.a. weil sie einen üblen (und viel zu wenig bekannten) Aspekt der deutschen Nachkriegsgeschichte zur Sprache bringen. Ich muss jedoch sagen, dass mich diese Stellen weniger gepackt haben, als es wohl beabsichtigt war. Weit intensiver fand ich die Teile in Imkes Erzählstrang, als sie die Geheimnisse der Vergangenheit greifbar und sichtbar aufdeckt.
Ich bin ein wenig hin- und hergerissen bei diesem Buch und habe meine Einschätzung während des Lesens und auch danach mehrfach geändert. Es ist äußerst spannend und auch sprachlich nicht schlecht geschrieben, wenn auch mit jener Schlichtheit, wie sie bei Krimiplots typisch ist. Andererseits sind auch eine Menge Klischees im Spiel. Imkes solidarische Kleinfamilie, Gelis Lebensgenuss, Annes Managerinnen-Ehrgeiz sind über weite Strecken allzu plakativ, wie Rahmen ohne Inhalt. Das gilt besonders für Anne, die ein so verstiegener Charakter ist, dass sie eher eine Karikatur darstellt.
Die Autorin hat sich große Mühe gegeben aufzuzeigen, wie die Verdrängungen und Ängste, die Karin aus ihren traumatischen Jugenderlebnissen davongetragen hat, die Erziehung ihrer Töchter beeinflusst haben, z.T. sogar bis in die Folgegeneration hineinwirken. Das schwierige Thema der Vergangenheit, das hier wohl zu einem zeit- und gesellschaftskritischen Roman aufbereitet werden sollte, ist dieser Personenführung in weiten Teilen nicht angemessen. So erschütternd es ist, was man da zu lesen bekommt, es fehlt an Tiefe. Andererseits ist "Die Schweigende" wohl auch kein Roman, der als gehobene Literatur betrachtet werden möchte, sondern ein Familiendrama mit einer Menge "Psycho" und finsteren Geheimnissen.
"Man muss bei der Bewertung berücksichtigen, was ein solcher Roman leisten will" wurde in der Leserunde zutreffend bemerkt. Ich kann mich weder zu einer guten noch zu einer schlechten Bewertung durchringen und vergebe eine mittlere. Am liebsten hätte ich eine 3,5 gegeben, was nicht geht, und zu einer 4 hat es dann doch nicht gereicht.