Rezension Rezension (4/5*) zu Ihr Königreich von Jo Nesbø.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
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49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
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Wie weit gehen Loyalitäten?

Als die Polizei erneut in dem ungelösten Fall ihres verschwundenen früheren Chefs ermittelt, ist der Automechaniker Roy alarmiert. Die kürzliche Rückkehr seines Bruders Carl in die kleine Stadt Os bringt anscheinend Unglück. Auch dass dessen Frau genau Roys Typ ist macht ihn nervös. Carl hingegen ist voll großer Pläne und verspricht, ganz Os reich zu machen. Doch plötzlich kursieren im Ort Gerüchte und Verdächtigungen zum Unfalltod ihrer Eltern. Roy hat seinen kleinen Bruder immer beschützt, aber jetzt stehen sie sich als Rivalen gegenüber.

Der ältere Bruder Roy fungiert in diesem Roman als Ich-Erzähler - doch er ist ein schweigsamer, eigenbrötlerischer Typ, der nie mehr sagt als unbedingt notwendig. Und so erfährt der Leser auch stets nur genauso viel, wie Roy preisgeben möchte. Bereits im Prolog wird jedoch deutlich, dass Roy als der Ältere immer schon die Rolle des Beschützers für seinen Bruder Carl innehatte, geprägt auch durch ihren Vater:



"Du und ich, wir sind aus demselben Holz geschnitzt, Roy. Wir sind härter als Mama oder Carl. Deshalb müssen wir auf sie aufpassen. Immer. Verstehst du? (...) Wir sind eine Familie. Wir haben einander und sonst niemanden. Freunde, Geliebte, Nachbarn, die Dorfbewohner und Landsleute, alles Illusion. Wenn es eines Tages wirklich darauf ankommt, sind sie nichts wert. Dann heißt es, wir gegen sie, Roy. Wir gegen alle anderen. Absolut alle." (S. 11)



Dies klingt wie ein Versprechen. Und das ist es auch. Roy weiß, worauf es ankommt, wem seine Loyalität zu gelten hat. Und doch...

Roy ist zeitlebens in dem kleinen Ort Os geblieben, einem Bergdorf auf einer norwegischen Halbinsel südlich von Bergen. Dort arbeitet er als Automechaniker und Betreiber einer kleinen Tankstelle, redet wenig aber hört viel. Er schlägt stets als Erster zu, kompromisslos und immer dann, wenn es seiner Meinung nach angesagt ist. Die Menschen im Dorf zollen ihm Respekt, doch Freunde hat er nicht.

Carl ist der smartere Bruder der beiden, ein Frauenschwarm, einer, der mit Charme schon viel erreicht hat. Er hat in den USA studiert, will jetzt aber nach Jahren der Abwesenheit wieder zurückkommen nach Os, große Pläne im Gepäck. Und damit beginnt das Gleichgewicht aus dem Lot zu geraten, das die Dorfgemeinschaft und Roys Leben bislang aufrechterhalten hat.

Carl hat die Absicht, oben in den Bergen ein großes Wellness-Hotel zu bauen, was die Wirtschaft des kleinen Dorfes ankurbeln soll. Doch zuvor sucht er potentielle Geldgeber, und das bringt gewaltige Unruhe in den Ort. Und Carl kommt nicht alleine, sondern mit seiner Frau Shannon - was für Roy eine noch größere Unruhe bedeutet. Denn bereits kurz nach der Ankunft kann er nicht leugnen, dass er sich von ihr sehr angezogen fühlt.

Wer jetzt an Kain und Abel aus der Bibel denkt oder auch an 'Jenseits von Eden' von John Steinbeck, der liegt nicht ganz falsch. Hier geht es ganz eindeutig um das schwierige Verhältnis zweier Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Hier geht es um Schuldgefühle und Verantwortung, aber auch um Liebe, Gier, Neid und Eifersucht. Und es geht um ein Dorfgefüge, das nach und nach gewaltig in Schieflage gerät.

Ein Kriminalroman? Nun, irgendwie schon - über einen Mangel an Toten braucht man sich jedenfalls nicht zu beklagen. Aber gleichzeitig ist es auch ein auf verschiedenen Ebenen angelegtes Psychodrama, das die sich anbahnende Katastrophe schon früh erkennen lässt - ohne dass man jedoch weiß, worum es sich dabei handeln könnte.

Jo Nesbø, wohl am ehesten bekannt durch seinen als Antiheld angelegten Ermittler Harry Hole, zeigt in seinem neuesten Roman sein ganzes schriftstellerisches Können. Er präsentiert hier eine langsame Erzählung, dem beschaulichen Lebenstempo in dem kleinen Dorf Os angemessen. Der Autor ergänzt die Schilderungen der Gegenwart mit Rückblenden in die Vergangenheit der beiden Brüder, was den Charakteren zunehmend Profil verleiht.

Die Spannung entsteht dabei eher unterschwellig - beim Lesen entwickelt sich schnell ein ungutes Gefühl ohne dass der Grund dafür zu fassen ist. Doch als versierter Krimischreiber beherrrscht Jo Nesbø natürlich auch die Kunst der Cliffhanger und der PlotTwists. Das macht das Geschehn unvorhersehbar, was die Spannung wiederum erhöht.

Man muss keinen der Charaktere leiden können - und tatsächlich buhlt hier niemand um Sympathiepunkte - aber das unaufhaltsame Drama sorgt letztlich doch für ein Mitfiebern. Vielleicht doch ein Hoffnungsschimmer? Wie weit können Loyalitäten gehen? Gibt es eine Grenze?

Gefallen hat mir dabei der eher nüchtern-distanzierte Schreibstil, der gut zur Figur des Ich-Erzählers Roy passte. In manchen Szenen wurden dennoch ausreichend Emotionen transportiert, um das Drama auch für den Leser fühlbar zu machen - und aufgelockert wurde das ganze durch immer wieder eigenstreute Sequenzen mit trockenem Humor.


"Klar, Schönheit war kein Menschenrecht, aber bei Grete war der Schöpfer wirklich ausnehmend geizig gewesen." (S. 29)


Auch wenn mich die Erzählung nicht von Anfang an packen konnte, band sie mich doch zunehmend an sich, so dass ich das Buch schließlich gar nicht mehr aus der Hand legen mochte. Kein Pageturner, aber ein außergewöhnlich intensiver Roman, der gut zu langen Herbstabenden auf der Couch passt...


© Parden