Rezension Rezension (4/5*) zu Die Erfindung des Countdowns: Roman von Daniel Mellem.

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Erfindung des Countdowns: Roman von Mellem, Daniel
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Zwiespältige und tragische Figur

Daniel Mellem, promovierter Physiker, beschäftigt sich in seinem Debutroman, mit einem eher wenig bekannten Pionier der Raketenforschung, Hermann Oberth. Er erzählt in 11 Kapiteln ( rückwärts gezählt wie beim Countdown) chronologisch und episodenhaft dessen Leben von der Kindheit bis ins Jahr 1969.
Hermann Oberth, 1894 in Hermannstadt geboren, wächst in Schäßburg, einer Stadt in Siebenbürgen, auf. Sein Vater ist Chirurg und der Direktor der örtlichen Klinik. Hermann ist anders als sein jüngerer, wesentlich geselligerer Bruder und seine Mitschüler. Er ist ein Träumer und Einzelgänger, mit einer Neigung zum Jähzorn. Schon früh interessiert er sich für die Naturwissenschaft, versucht den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Schule ist ihm ein Graus, zu rückwärtsgewandt die Lehrinhalte. Viel lieber liest er Jules Verne, v.a. dessen „ Reise um den Mond“ oder beobachtet durch sein Teleskop den Sternenhimmel. Hermann‘s Interesse gilt der Zukunft. Er möchte eine Rakete entwickeln und damit zum Mond fliegen.
Doch zuerst fordert der Erste Weltkrieg seinen Einsatz. Hermann kommt als Sanitäter an die Front und erlebt dabei die grausamen Folgen des Krieges. Auch der Tod seines Bruders an der Front bestätigt ihn in seinem Vorsatz. „ Seine Rakete konnte nicht nur in den Weltraum fliegen. Sie konnte Frontlinien , Schützengräben und Schlachtfelder überflüssig machen.“ Der Krieg sollte dadurch kürzer werden, ja ihn vielleicht sogar durch Abschreckung verhindern. Später sollte er erkennen: „ Nichts hatte man mit der Rakete erreicht. Der Krieg war nicht ausgeblieben, er war auch nicht schneller vorübergegangen. Die Rakete war lediglich ein Werkzeug gewesen.“
Gegen den Wunsch seines Vaters, der für den ältesten Sohn eine Medizinerlaufbahn vorgesehen hatte, beschließt Hermann Physik zu studieren.
Noch während des Krieges lernt er Tilla kennen, eine Schneiderin aus einfachen Verhältnissen und im letzten Kriegsjahr heiraten die beiden.
Nach Ende des Krieges zieht es Hermann an die Universität von Göttingen; hier waren die führenden Köpfe der Forschung, die modernsten Institute. Doch bei der Wohnungssuche für seine junge Familie stößt Hermann auf Ablehnung. Als Siebenbürger Sachse ist er kein Reichsdeutscher, sondern ein „ Rumäne vom Balkan“.
Auch an der Universität findet seine Arbeit keine Zustimmung. Seine Dissertation „ Die Rakete zu den Planetenräumen“ wird abgelehnt. Erst nachdem er das Manuskript auf eigene Kosten veröffentlicht, wird es ein Bestseller.
Für seinen Lebensunterhalt arbeitet Herman zeitweise als Gymnasiallehrer in seiner Heimat. Dann, Ende der Zwanziger Jahre, holt ihn der berühmte Regisseur Fritz Lang als Berater für seinen Film „ Frau im Mond“. Für 10.000 Reichsmark soll Hermann die erste Rakete der Welt bauen. Allerdings scheitert Hermann auch hier und muss erkennen, dass ihn Fritz Lang letztendlich nur benutzt hat. Doch ein junger Student, der ihm als Assistent zur Seite gestellt wird, soll später eine wichtige Rolle für ihn spielen, Wernher von Braun. Der wird ihm nach Jahren, in denen Hermann vergeblich für seine Projekte geworben hat, an die Heeresversuchsanstalt nach Peenemünde holen, wo Wernher von Braun und seine Mitarbeiter an der Aggregat 4 - Rakete arbeiten. Die sollte dann als V2 für unsägliches Leid in England sorgen.
Und nach dem Krieg holt ihn der berühmte Raketeningenieur nach Alabama, wo die Amerikaner alle Kraft daran setzten, die Ersten im Weltraum zu sein ( was sie allerdings nicht schafften).
Am Ende des Romans sitzt Oberth mit Frau Tilla auf der Zuschauertribüne in Cape Canaveral und beobachtet den Start von Apollo 11, dem ersten bemannten Flug zum Mond.
Daniel Mellem beschreibt aber nicht nur den Wissenschafter Oberth, der zeitlebens verbissen seinen Traum von der Mondrakete verfolgt , aber letztendlich von anderen überholt wird. Erst im Alter wird seine Pionierarbeit anerkannt und er erhält zahlreiche Ehrungen.
Der Autor lässt ebenso den Menschen Oberth lebendig werden. Dabei zeichnet er ihn als Theoretiker, der für Alltagsdinge nicht zu gebrauchen ist. Für seine Ehefrau war das Leben an seiner Seite nicht leicht. Die ganze Arbeit und die Verantwortung für die sechsköpfige Familie lag bei ihr. Mellem schildert sie als zupackende und starke Frau, die ihren Mann unterstützt, aber auch kritisiert und korrigiert. „ Ob die Rakete endlich fertig sei? Sie wolle ihn gern auf den Mond schießen“. Tilla ist die eigentliche Sympathieträgerin im Roman.
Bei den Kindern versucht Hermann anfangs noch, die Fehler seines Vaters nicht zu wiederholen, aber zusehends verliert er den Kontakt zu ihnen.
Auch harte Schicksalsschläge hat das Ehepaar zu verkraften. Der älteste Sohn Julius meldet sich freiwillig zur Wehrmacht und wird später als vermisst gemeldet; die älteste Tochter stirbt bei einem Arbeitseinsatz.
Oberth war aber nicht nur ein schwieriger Zeitgenosse, sondern auch politisch eine sehr umstrittene Figur. Als Siebenbürger Sachse entwickelt er ein übertriebenes Zugehörigkeitsgefühl zu Deutschland. Er glaubt an die Überlegenheit der Deutschen, bietet Hitler seine Dienste an und ist einige Jahre Mitglied der neugegründeten NPD .
Mellem schreibt nüchtern und präzise, fängt gut die Atmosphäre der Zeit ein. Seine Figuren sind vielschichtig und komplex und wirken, gerade durch ihre Brüche, authentisch.
„ Die Erfindung des Countdowns“ ist keine Biographie, sondern ein Roman, der auf der langjährigen Beschäftigung des Autors mit seiner Figur beruht. Mellem genehmigt sich deshalb einige Freiheiten, d.h. er verdichtet, schmückt aus und lässt weg. Aber dadurch ist ein lebendiges Portrait dieses eher unbekannten Wissenschaftlers gelungen. Oberth erscheint als tragische, aber auch zwiespältige Figur. Dabei wertet Mellem nicht, sondern überlässt das dem Leser.
„ Die Erfindung des Countdowns“ ist ein lehrreicher und zugleich unterhaltsamer Roman, den ich gerne weiterempfehle.