Rezension Rezension (4/5*) zu Unter uns das Meer: Roman von Amity Gaige.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wo genau nimmt ein Fehler seinen Anfang?

Juliet und ihr Mann Michael haben etwas erreicht in ihrem Leben. Sie bewohnen ein hübsches Vorstadthaus und haben zwei gesunde Kinder. Sybil ist sieben, der kleine George zwei Jahre alt. Michael ist erfolgreich bei einer Versicherung tätig, Juliet kümmert sich primär um die Familie, möchte jedoch eines Tages ihre Dissertation über die Lyrikerin Anne Sexton noch zu Ende bringen, was ihr aufgrund der täglichen Verpflichtungen sehr schwer fällt. Hinzu kommt, dass sie seit der letzten Geburt unter Depressionen leidet. Sie fühlt sich als Versagerin und sieht sich permanentem Erwartungsdruck und Ängsten ausgesetzt. Es ist offensichtlich, dass sich die Ehe der Partlows in einer Krise befindet. Beide sind sehr verschieden: Juliet ist der Schöngeist, Michael der ausgeglichene konservative Familienvater, der seine Frau aber aufrichtig liebt.

„Michael und ich hatten weitaus schwerwiegendere Probleme. Es ging uns nicht gut. Als Paar, meine ich. Wir sahen die Welt nicht auf dieselbe Weise. Wir waren fundamental uneinig. Wir waren nicht – wie soll ich das in Worte fassen?“ (S. 37)
Eines Tages kommt Michael mit einer außergewöhnlichen Idee nach Hause: Er möchte einen Traum verwirklichen, mit der ganzen Familie eine Auszeit nehmen, um mit einer Segelyacht die Welt kennenzulernen. Zunächst reagiert Juliet abweisend, kann dann aber der Euphorie ihres Mannes nichts entgegen setzen – zumal sie hofft, dass ihnen ein Tapetenwechsel gut tut.

Bereits am Anfang des Romans ist klar, dass diese Reise kein gutes Ende genommen hat. In der Gegenwart wird Juliet oft in einem Kleiderschrank sitzend vom Kummer niedergedrückt, denn Michael ist offensichtlich nicht lebend mit nach Hause zurückgekehrt. Was genau passiert ist, bleibt lange unklar. Juliet kann den Alltag nicht bewältigen, ihre Mutter wohnt bei ihr und den Kindern und muss ihr fast alles abnehmen. Im Schrank liest sie „das Logbuch der Yacht Juliet“.

Nach und nach blättert sich die Geschichte vor dem Leser im Wesentlichen aus zwei Perspektiven auf, die durch unterschiedliche Formatierung unterscheidbar sind und sich abwechseln. Michaels Sichtweise wird durch das Logbuch kolportiert, in dem er umfangreiche Reiseaufzeichnungen als Kapitän festgehalten hat, die Tagebuchaufzeichnungen ähneln. Sie legen vergangene Ereignisse und viel Privates offen. Juliets Gedanken befassen sich einerseits mit der tristen Gegenwart nach Michaels Tod, andererseits schwadronieren ihre Gedanken aber auch in der Zeit zurück. Der Leser bekommt ihre Version der Segeltour erzählt. Juliet versucht dabei, sich selbst und ihre Motivation zu ergründen. Sie wandert auch zurück in ihre Kindheit und Jugend, wo sie sich bemüht, erlittene Verletzungen zu reflektieren. Dabei spürt man immer wieder ihre tiefe Verunsicherung und ihr mangelndes Selbstbewusstsein, das seine Ursache offensichtlich in einem Kindheitstrauma hat.

Beide Perspektiven werden sprachlich unterschiedlich gestaltet. Juliet benutzt eine sehr poetische Sprache, mit der sie Naturereignisse wunderbar beschreiben kann: „Die Meeresoberfläche anzuschauen hat etwas Hypnotisierendes. Die Zeit dehnt sich. (…) Wenn sich eine Böe nähert, kann man sehen, wie sie die Oberfläche aufrauht, eine Stampede herbeihastender Gespenster, Fußabdrücke, die über die Weller springen und verschwinden, kurz bevor die kühle Gewalt der Abwesenheit durch sie hindurchweht.“ (S. 91)

Man kann vor Problemen nicht davon segeln. Es scheint logisch, dass auf dem engen Raum manches zutage tritt, was auch zu Hause einen Keil zwischen die Eheleute getrieben hat. „Ehen haben ihre Schwachstellen, genau wie Boote, sagte sie. Man segelt mit einem Boot durch ein Unwetter, und schon werden die Schwachstellen sichtbar, nicht wahr? Oder wär´s dir lieber, sie gar nicht erst zu kennen?“ (S. 119) Mit der Zeit scheint die wunderschöne Umgebung jedoch auch die verschwundene Leichtigkeit in die Beziehung zurückzubringen.

Mich hat der Roman über weite Teile begeistert. Mir hat die Abwechslung zwischen den Charakterstudien der Protagonisten und der Seereise als solcher sehr gut gefallen. Die Karibik, ihre Küsten sowie die Ursprünglichkeit der Natur wurden sehr bildlich beschrieben. Die Familie kommt an traumhafte Strände, lernt verschiedene Kulturen und Menschen kennen. Ebenso erscheinen auftretende Probleme während der Reise wie technische Pannen, Proviant-/Wasserknappheit, Wetterwidrigkeiten, Geldsorgen oder Krankheiten sehr realistisch in ihrer Darstellung. Wenn man dafür offen ist, kann man auch einiges über das Segeln lernen.

Die stimmig aufeinander zugeschnittenen Perspektivwechsel machten einen besonderen Reiz des Buches aus. Man erfährt nach und nach, wo die Probleme des Ehepaares liegen, was sie sich verschweigen, wovon sie träumen. Gegen Ende wird die Geschichte noch um die Perspektive der Tochter Sybil ergänzt, die mit ihrer Therapeutin spricht. Außerdem bekommt der Roman eine zusätzliche kriminalistische Note.

„Unter uns das Meer“ ist entgegen der wunderschönen Aufmachung kein leichtfüßiger Roman. Ich konnte ihn nur sehr langsam und konzentriert lesen. Wie erwähnt weiß man von Beginn an, dass die Reise keinen guten Ausgang nimmt, die Stimmung ist überwiegend getragen-melancholisch. Ich würde das Buch als eine Kombination aus gelungenem Psychogramm einer Familie und Abenteuerroman verstehen. Beides ist fesselnd und glaubwürdig, sämtliche Charaktere sind stimmig. Ich habe den Roman sehr gerne gelesen. Er beinhaltet viele schöne Formulierungen und ist für Lesekreise bestens geeignet.