Rezension Rezension (5/5*) zu Die Unschärfe der Welt: Roman von Iris Wolff.

petraellen

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11. Oktober 2020
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Eine bewegte Geschichte

Mein Eindruck

Iris Wolff stellt ihrem Roman einem Gedicht des in Berlin lebenden Richard Wagner aus seiner letzten Sammlung von 2017 voraus.

„Ich sah
den Stein schmelzen
und die Liebe gehen

ruft der Vogel
aus dem Baum

Wir sagen:
Er singt“.

-Richard Wagner-

Richard Wagner (* 10. April 1952 in Lovrin, Banat, Volksrepublik Rumänien) ist ein rumänisch-deutscher Schriftsteller.
Wikipedia

Sieben Episoden

Iris Wolff erzählt auf hervorragende Weise eine bewegte Geschichte einer deutschen Familie im rumänischen Banat über vier Genrationen. Der Roman spannt einen Bogen eines Zeitraums von etwa einem Jahrhundert beginnend vom Ende der Monarchie, die Zeit der Volksrepublik und sozialistischen Republik bis etwa zur Jahrtausendwende.
In sieben Episoden wechseln die Figuren, die im Mittelpunkt des Romans stehen.
Die erste Episode beginnt mit den zentralen Figuren Florentine und Hannes und mit der Geburt ihres Sohnes Samuel.
Der Pfarrer Hannes und seine Frau Florentine leben in einem Dorf im Banat. Florentine ist in der Stadt aufgewachsen und bald hat sie sich an das Landleben gewöhnt. Sie freundet sich mit Nika an, die verheiratete ist und drei Kinder hat. Nika und Florentine verbringen ihre Zeit gerne bei Kaffee und Sauerkirschlikör, bis Nika an einer versuchten Abtreibung stirbt.
Zu den anderen Dorfbewohnern findet Florentine kaum Kontakt, denn sie spricht nicht gerne.

„Ihr Schweigen musste wirken, als hielte sie sich für etwas Besseres. Florentine spürte Worten gegenüber ein nie ganz aufzulösendes Unbehagen. Die Unschärfe der Aussagen verunsicherte sie. Wie sehr sie sich auch bemühte: Sprechen reichte nicht an die Wirklichkeit der Erfahrungen heran.“ (S.21/22)

Auch ihr Sohn Samuel spricht spät und nicht viel. Das erste Wort das er spricht, „»Zăpadă«“ – Schnee.

Iris Wolf beschreibt in weiteren Episoden einen schillernden Mikrokosmos der unterschiedlichsten Figuren. Ruth und Severin und Echo, ihren Sohn, der in der Marosch ertrunken war, Samuels Freund Oswald, die Freundinnen Livia und Stana, der Spitzel Konstanty und dessen integre Frau Malva, das homosexuelle Besucherpaar aus der DDR und auch Liv. Das Leben zeigt sich in allen Facetten, ihren Hoffnungen, Sehnsüchten, Ängsten, Abschied, Verlust.

„Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte, und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einzelner Augenblick.“ (S.41)

Karline, Hannes‘ Mutter, sehnt manchmal die frühere Zeit zurück, als ihre Familie noch wohlhabend war und der König ihr einmal die Hand gegeben hatte. Nun lebt sie im Sozialismus und erzählt ihrem Enkel Samuel Geschichten aus dieser Zeit.

Themen

Ihre Figuren sind eingebettet in Themen wie Familie Kommunikation, Freundschaft, Verlust Zugehörigkeit, Einsamkeit, Heimat und Sprache.
„Die Unschärfe der Welt“ ist kein politischer Roman aber doch zeigt er genau das Leben unter der Herrschaft von Ceausescu. Iris Wolf lässt in ihrem Roman Samuel das erste Wort sprechen und das ist kein deutsches: „Zapada" bezeichnet auf Rumänisch den Schnee. Der Schnee, der Stille hervorruft und alles unter sich bedeckt. Der Schnee als Metapher für das unterdrückte Volk unter der Herrschaft von Ceausescu, das brutalste kommunistische Regime des gesamten Ostblocks.
Iris Müller spart diese Thematik nicht aus. Aber statt eines direkten, anklagenden Tons, wählt sie den Sarkasmus. „Der Sohn der Sonne liebte sein Volk.“ (S.130)
Titulierungen seiner Selbstverherrlichung: „Sohn der Sonne", „Genie der Karpaten", „Conducator", „Titan", „Auserwählter", „großer Navigator“. (Vgl. S.129 ff.)
„Das Genie der Karpaten lebte bescheiden.“ (S.130)

Wie selbstverständlich leben die Spitzel des Geheimdienstes Securitate mitten unter ihnen im Dorf. Die Menschen ahnen und kennen diese. Trotz der Gefahr werden Gäste im Pfarrhaus beherbergt und Folgen in Kauf genommen.

Stil und Sprache

Der Roman beginnt mit Samuels Geburt in den 1960er Jahren. In personaler Erzählform aus Sicht von Samuels Mutter Florentine wird seine Kindheit und Jugend erzählt wie Samuel sie unter dem stalinistischen Conducător Nicolae Ceausescu und dessen Geheimdienst Securitate erlebt hat. Die nächsten Kapitel erzählen von seinen Großeltern, Freunde und Dorfbewohnern. Im Schlusskapitel kommt Liv, die Tochter Samuels, zu Wort.

„Die Erinnerung ist ein Raum mit wandernden Türen. Manchmal trifft dich der Schatten eines Berges, manchmal ein Wort.“ (S. 69)

Dabei hat Iris Wolf eine sensible Schreibweise und ihr Stil über dem Banat zu schreiben ist lebensnah, hat sie doch selbst ihre ersten acht Jahre in Siebenbürgen und Banat verbracht, ehe die Familie 1985 in die Bundesrepublik ausreiste.
Ihre Sprache in poetischen Bildern, stilsichere Sätze und Worte schaffen Raum für viel Stoff zum Nachdenken.

Fazit
Sieben Protagonisten über vier Generationen erzählen von ihrer Biografie, die alle miteinander verwoben sind, vor dem Hintergrund in einer geschichtlich bedeutsamen Zeit des 20. Jahrhunderts.
Iris Wolff erzählt in ruhiger, klarer Sprache bildhaft unzählige Kleinigkeiten des Lebens. Lebenswege, die sich kreuzen, Perspektiven, die sich verschieben. Sie schreibt völlig unaufgeregt und trifft damit genau die authentische Atmosphäre.
Es ist ein leises Buch, manchmal sarkastisch, dann wieder ganz behutsam und hinterlässt eine angenehme Erinnerung.

„Etwas kann sooft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern. Einige Geschichten werden immer wieder erzählt, Sinnzusammenhänge erneuern sich, bislang unbekannte Deutungen tauchen auf – und mit Erzählen verändern sie sich, stetig, unmerklich.“ (S. 183)
Schlusskapitel Prestigio.

Ein beindruckender Roman. Ein außergewöhnlicher Roman.