Rezension Rezension (3/5*) zu Die Erfindung des Countdowns: Roman von Daniel Mellem.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Erfindung des Countdowns: Roman von Mellem, Daniel
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Wieder was gelernt...


Zugegeben, ich lese eher selten Biografien. Da dieser Roman im Rahmen einer Leserunde angeboten wurde, machte mich der Klappentext aber neugierig. Wieso hatte ich zuvor noch nie etwas von Hermann Oberth gehört oder gelesen? Wernher von Braun war mir doch schließlich auch ein Begriff, auch wenn ich weder Physik studiert habe noch sonderlich fasziniert bin vom Raketenbau und den damit verbundenen Möglichkeiten.

Dieser Roman beginnt mit der Kindheit und Jugend von Hermann Oberth und arbeitet sich dann meist chronologisch bis in sein hohes Alter. Früh zeigt sich Oberths Hochbegabung, sein Drang zu forschen, verstehen zu wollen. Jules Verne hat es ihm mit seiner 'Reise zum Mond' angetan - und Hermann Oberth selbst ist erstaunt, als ihm bereits als Jugenlichem klar wird, dass der Autor sich bei der Ausgestaltung der Rakete verrechnet haben muss.

Oberth zieht schließlich von seinem Elternhaus in Siebenbürgen nach Göttingen, um Physik zu studieren. Seine Dissertation, in der er sich mit der möglichen Raumfahrt beschäftigt, wird jedoch von sämtlichen Professoren abgelehnt, da sich niemand zuständig fühlt, die Arbeit zu keinem der gängigen Fächer passt. Auch hat Oberth es als Siebenbürger Sachse schwer, als Deutscher anerkannt zu werden - nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er seinen Bruder verloren hat, wurde Siebenbürgen Rumänien zugesprochen.

Der Roman verdeutlicht, dass Oberth seiner Zeit einerseits voraus war, dass er es durch sozial-emotionale Unzulänglichkeiten (schüchtern, unbeholfen, nicht ganz in dieser Welt) aber auch nicht verstanden hat, Menschen von sich zu überzeugen. So forscht er vor sich hin, wann sich ihm eine kleine Möglichkeit auftut, vernachlässigt darüber seine Frau Tilla und seine vier Kinder, kommt aber nie richtig zum Zug und sieht sich plötzlich von anderen Wissenschaftlern wie Wernher von Braun überholt.

Daniel Mellem zeichnet hier das Bild eines Unverstandenen, eines Getriebenen, lässt dabei aber erstaunlicherweise für mein Empfinden nicht unerhebliche Details aus dem Leben des Hermann Oberth aus, die sich beim einfachen Recherchieren im Internet bereits aufdrängen. Das hat mich verwirrt, bis ich im Rahmen der Leserunde erfahren habe, dass es sich bei diesem Roman nicht etwa wie von mir (leichtgläubig) erwartet um eine Biografie handelt, sondern um eine Biofiktion.

Hm? Noch nie gehört, ehrlich gesagt. Also habe ich mich mal auf die Suche gemacht nach dem Unterschied zwischen den beiden Genres. In dem Werk 'Literarischer Narzissmus' von Diana Tappen-Scheuermann bin ich schließlich fündig geworden:

"Während die Biographie über die historische Person Aufschluss gibt, wird in der Biofiktion eine Geschichte anhand einer historischen Figur erzählt. Dabei erscheint die Biographie der historischen Figur gegebenenfalls nur als Ausschnitt oder unter einem bestimmten Aspekt innerhalb der Handlung des Werks."


Also historische Fakten gemischt mit reichlich Fiktion. Wie es hätte sein können, sagt der Autor. Tatsächlich erwartet den Leser genau das hier - nur war mir das zuvor nicht klar. Ich hatte erwartet, der tatsächlichen historischen Person Hermann Oberth nahezukommen, zumindest soweit die bekannten Fakten dies zulassen. Das Gefühl verließ mich jedoch bald, auch wenn Daniel Mellem sich an der Chronik des Physikers orientiert hat. Die Darstellung der Figur und das Auslassen von Details sorgten dafür, dass ich bald den Eindruck erhielt, in eine bestimmte Richtung gelenkt zu werden.

Hermann Oberth wird hier als derart weltfremd, unbeholfen und tölpelhaft geschildert, dass es überspitzt formuliert fast Wunder nimmt, dass er so lange überlebt hat. Manche Szenen wirkten dabei auf mich so übertrieben, dass mir das 'Wie es hätte sein können' nicht einleuchten wollte. Daniel Mellem zeichnet hier das Bild eines unsympathischen, lebensuntauglichen, sozial unbegabten Eigenbrötlers, der sich ständig verkannt fühlt und an dem das Leben vorbei zieht. Nicht nur priavt, sondern auch beruflich wurde ständig die Vergeblichkeit, Umständlichkeit, Forschung auf einem toten Gleis der Wissenschaft betont. Die Verleihung diverser Preise und Ehrungen im fortgeschrittenen Alter wollen da gar nicht mehr ins Bild passen.

Für mich stellt sich die Frage, was der Autor mit diesem Roman erreichen wollte. Die Darstellung einer historischen Figur? Wohl nur zum Teil, denn dafür hätte man mehr bekannte Fakten mit einfließen lassen müssen, die auch das Bild des Lesers womöglich verändert hätten. Er selbst spricht davon, dass er eine widersprüchliche Figur darstellen wollte - aber für mich erfüllte er das ebenfalls nur im Ansatz. Das Tölpelhafte wird stellenweise bis ins Skurrile überzeichnet und überlagert für mich die anderen Eindrücke. So wirkt es beispielsweise fast, als könne er für seinen Beitritt zur NPD nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Grunde nichts, weil er eben einfach nur ein tunnelblickbehafteter Tölpel ist, an dem das Leben irgendwie vorbeiläuft.

Und der Klappentext? Die benannte Frage nach der eigenen Verantwortung für die Geschichte? Nein, der Hermann Oberth, den Daniel Mellem hier vorstellt, übernimmt für sein Handeln und seine Entscheidungen im Leben in meinen Augen keine Verantwortung. Er bleibt notgedrungen hinter den Kulissen, sonnt sich im Licht seiner späten Ehrungen und vesteht gar nicht, weshalb seine Frau Tilla, die im Laufe der Erzählung reifer und selbstbewusster wurde und die einzig sympathische Figur des Romans darstellte, ihn im Grunde zwingt, wieder aus der NPD auszutreten. Die Ethik der Wissenschaft? Sie wurde für mich allenfalls angerissen.

Was fange ich also mit diesem Roman an? Nun, er hat mich neugierig gemacht auf einen Gescheiterten, einen der seiner Zeit offensichtlich voraus war. Und so habe ich einiges selbst recherchiert. Dann fand ich interessant, dass Oberth für den Film von Fritz Lang 'Frau im Mond' als Berater fungierte. Die Szene vom Start der Rakete habe ich bei Youtube entdeckt:


Gelernt habe ich, dass das Genre 'Biofiktion' offensichtlich nichts für mich ist und ich mich dabei eher an der Nase herumgeführt fühle. Allerdings stellt sich die Frage, wie Biografien geschrieben werden, ob wir als Leser da auch nicht einiges an Fiktion zu lesen bekommen? Sehr interessant fand ich die lebhafte Leserunde mit Autorenbeteiligung, bei der teilweise sehr kontrovers diskutiert wurde - es zeigt sich halt immer wieder, dass das Lesen von Romanen bei den Einzelnen etwas ganz anderes auslösen kann.

Leider konnte mich das Debüt des Physikers Daniel Mellem nicht wirklich überzeugen. Doch bedaure ich es auch nicht, den Roman gelesen zu haben, bot er doch so viel Diskussionsgrundlage. Aber möge sich jeder selbst ein Bild machen...


© Parden


 
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