Rezension Rezension (4/5*) zu Jahresringe: Roman von Andreas Wagner.

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.854
7.736
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Wohin gehört man im Leben?

Heimat, das ist für Leonore Klimkeit vor allem der Wald nahe des kleinen Dorfes, in dem die aus Ostpreußen Vertriebene Zuflucht gefunden hat. Zwischen den hohen Bäumen findet sie Trost und neuen Lebensmut. Doch als Leonores Sohn Paul zwölf Jahre alt ist, muss der Wald dem Braunkohle-Tagebau weichen, das Dorf wird umgesiedelt. In einer Neubausiedlung am Rand der Kreisstadt versucht Leonore, für Paul und später die Enkel Jan und Sarah eine neue Heimat zu schaffen. Die immer weiter fortschreitende Rodung des Waldes treibt jedoch einen tiefen Keil in die Familie – bis sich die Geschwister schließlich als Gegner gegenüberstehen: Denn während Jan einen der gigantischen Schaufelradbagger des Braunkohle-Konzerns steuert, schließt sich seine Schwester Sarah den Wald-Besetzern im Hambacher Forst an.

Unaufgeregt und einfühlsam erzählt Andreas Wagner eine berührende Familien-Geschichte, die immer wieder die Frage stellt, was Heimat bedeutet. Gleichzeitig porträtiert sein Roman auf anschauliche Weise die Nachkriegs- und Wirtschaftswunder-Zeit in Deutschland, die Folgen des Braunkohle-Abbaus nicht nur für die Landschaft und die Ereignisse rund um den Hambacher Forst.

Ein melancholischer Ton begleitet die Drei-Generationen-Erzählung von Andreas Wagner, was nicht verwundert, denn sie handelt immer wieder vom Verlust der Heimat und der Suche nach einer neuen Verwurzelung. In drei Zeitabschnitten wird hier eine Familiengeschichte präsentiert, die sich mit Lebensentscheidungen befasst, mit dem Versuch, einen Platz im Leben zu finden. Und mit der Frage: Wer wollen wir eigentlich sein?

Der erste Teil spielt im Nachkriegsdeutschland - für die 13jährige Leonore ist das Dorf zwischen Köln und Aachen ein Neuanfang, auch wenn niemand ihr als Flüchtling aus Ostpreußen wohlwollend gegenübertritt. Außer dem alten Hannes. Bei ihm und seiner Mutter findet sie ein Dach über dem Kopf und eine Aufgabe, denn Hannes führt die kleine Dorfbäckerei und seine Spezialität sind die traditionellen Moppen.

Leonore fügt sich in die neuen Lebensumstände, kommt trotz aller feindseligen Reaktionen der Dorfbewohner allmählich an. Dabei hilft ihr der Wald als Rückzugsort, eine riesige, unberührte Fläche mit altem Baumbestand, in dem sie ganz zur Ruhe kommen kann. Der Wald bedeutet mehr 'Heimat' für sie als es das Dorf jemals werden kann.

Als Leonore schwanger wird, rätselt das Dorf, wer der Vater sein könnte. Ehemänner werden verdächtigt, auch Hannes, der sich sämtlichen Versuchen heiratswilliger Frauen gegenüber abweisend verhält, kommt in den Augen der Dorfbewohner in Betracht. Doch als Paul geboren wird, sieht er niemandem im Dorf ähnlich - und Leonore hütet das Geheimnis.

Von Paul handelt der zweite Abschnitt, der 1976 beginnt. Erzählt wird von seinem Leben im Dorf, von seiner Kindheit und Jugend mit Leonore in dem kleinen Haus mit der Bäckerei, und vor allem von seiner Freundschaft zu Wilfried, genannt John, der irgendwie immer schon da war. Doch nichts währt ewig, das muss auch Paul erfahren. Der Braunkohletagebau fordert seinen Tribut: das alte Dorf wird abgerissen, eine Umsiedlung steht an. Doch welchen Preis ist Paul dafür bereit zu zahlen?

Der letzte Teil beginnt im Jahr 2017 und hat die Kinder von Paul im Fokus, Sarah und Jan. Sie wuchsen im Neubaugebiet auf, in einem Haus mit Paul und ihrer Großmutter Leonore. Paul hatte als alleinerziehender und berufstätiger Vater wenig Zeit für die Kinder, während Leonore sich liebevoll um sie kümmerte. Doch nun als Erwachsene gehen Sarah und Jan getrennte Wege. Während Jan den riesigen Schaufelradbagger steuert, engagiert sich Sarah in der Protestbewegung gegen die Zerstörung des Hambacher Forsts...

Lebenswege. Entscheidungen. Sinnfindung.

Dies sind die Stützpfeiler der Erzählung, die wichtigen Themen neben dem Begriff der Heimat und wo diese zu finden ist.

Eigentlich eine gute Idee aufzuzeigen, dass dies generationenübergreifende Themen sind. Allerdings hat mir die episodenhafte Erzählung durch die großen Zeitsprünge und den jeweiligen Perspektivwechsel doch etwas den Lesefluss erschwert. Immer wenn ich gerade warm geworden war mit einem Erzählstrang, kam der Wechsel und ich musste mich wieder neu orientieren.

Zudem finde ich, dass einzelnen Schwerpunkten dadurch zu wenig Raum gegeben wurde. Das Vertriebensein und die erlebten Kriegsgräuel von Leonore beispielsweise, das Verschwinden eines ganzen Dorfes bzw. gar eines Landstrichs durch politische Entscheidungen, die Bedeutung des Braunkohletagebaus für den einzelnen, Naturschutz usw. Vieles konnte so nur angerissen werden und verlor durch die nächste Episode gleich wieder an Bedeutung.

Auch das Einflechten von einzelnen übersinnlich angehauchten Szenen hat mich doch etwas irritiert. Es mag sein, dass hier die Sagen- und Mythenwelt des beschriebenen Landstrichs aufgegriffen wurde, doch fand ich das in diesem Zusammenhang doch etwas eigenartig. Glücklicherweise gab es diese Szenen nur vereinzelt, so dass ich letztlich darüber hinweg lesen konnte.

Alles in allem jedoch ein gelungenes und ambitioniertes Debüt von Andreas Wagner, das sich flüssig lesen lässt und für einige Denkanstöße sorgt. Für denjenigen, der Familiengeschichten mag, die in Verbindung mit historischen bzw. aktuellen gesellschaftlich-politischen Zusammenhängen stehen, ist dieser Roman zu empfehlen.


© Parden

 
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