Rezension Rezension (5/5*) zu Ich an meiner Seite: Roman von Birgit Birnbacher.

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Ich an meiner Seite: Roman von Birnbacher, Birgit
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Wiedereinstieg ins Leben

Arthur Galleij ist 22 Jahre alt und wird nach 26 Monaten aus der JVA Gerlitz entlassen. Was ihn dorthin gebracht hat, bleibt lange im Unklaren. Abgeholt wird er von der ehemaligen Schauspielerin Grazetta, selbst todkrank und doch eine wichtige Stütze für den jungen Mann. Arthur hat einen Platz in einer Wohngemeinschaft ergattert, von wo aus die Wiedereingliederung in die Gesellschaft innerhalb eines Jahres erfolgen soll. Betreut wird er von seinem unkonventionellen Therapeuten Konstantin Vogl, genannt Börd, der selbst seine Baustellen und eine bewegte Vergangenheit zu haben scheint. Nach Börds Philosophie soll sich Arthur ein neues Ich an seine Seite stellen, ein rechtschaffenes, ideales Ich, das in schwierigen Situationen Hilfe und Beistand leisten kann:
“Also träumen Sie erst mal einen Entwurf von sich. Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können. Verstehen Sie den Unterschied?”⠀

Parallel dazu wird Arthur aufgefordert, über sein bisheriges Leben zu reflektieren. Zu diesem Zweck bespricht er ein Aufnahmegerät.
Der Leser wechselt nun zwischen der Gegenwart, der Vergangenheit Arthurs als Kind und Jugendlicher sowie seinen Tonbandaufnahmen. Alle drei Ebenen sind gut verzahnt und verständlich. Die einzelnen Abschnitte sind mit jeweiliger Ort/Zeit überschrieben. Man nimmt starken Anteil an Arthurs Leben.

Arthurs Kindheit ist durch Verluste gekennzeichnet. Früh hat der Vater die Familie verlassen. Die Mutter und der neue Lebensgefährte Georg bauen sich eine neue Existenz in Andalusien auf, indem sie dort ein Hospiz für wohlhabende Todgeweihte gründen. Für Arthur und seinen älteren Bruder Klaus heißt das, aus dem gewohnten Umfeld herausgerissen zu werden. Arthur arrangiert sich, passt sich an. Mit Hospiz-Bewohnerin Grazetta bekommt er eine verständnisvolle Ersatzmutter an die Seite, darüber hinaus hängt Arthur immer öfter mit Princeton und Milla, zwei Gleichaltrigen, ab. Diese Dreier-Freundschaft ist nicht unkompliziert und gipfelt letztlich kurz vor Studienbeginn in einem tragischen Ereignis, in dessen Folge Arthur zurück nach Österreich geht und auf die schiefe Bahn gerät…

Birgit Birnbacher versteht es, diese verschiedenen Ebenen wunderbar zu verbinden. Sie schildert, wie ein normaler junger Mann in Konflikt mit dem Gesetz kommen kann. In Rückblicken erfährt der Leser vom Weg in die Kriminalität, vom harten Leben in der JVA, wo das rigide Gesetz des Stärkeren gilt, und von den emsigen Bemühungen des Protagonisten, anschließend wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Das ist zeitweise sehr bedrückend. Arthur ist ein sympathischer, nachdenklicher und ruhiger junger Mann. Es sollte eigentlich kein Problem für ihn sein, den ersehnten Arbeitsplatz zu bekommen - wenn, ja wenn der Gefängnisaufenthalt nicht wäre… Immer wieder stößt er auf Vorurteile und Ablehnung. So unkonventionell Therapeut Börd auch sein mag, er hat hehre Ziele: „Ich bin jemand, der sich um Ihre Geschichte kümmert. Ein Schutzvogel vielleicht. Nichts ist vor meinem Schutz sicher! Ich rette Menschen, und Dinge rette ich auch. Aber glauben Sie mir eins: Die Dinge sind dankbarer.“
Es wird nicht einfach für Arthur, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden, zumal auch Versuchungen am Wegesrand lauern. Ein großes Themenspektrum wird im Laufe des Romans behandelt, der mich begeistert hat.

Birnbacher erzählt sachlich, unsentimental und empathisch. Sie wertet zu keiner Zeit. Man spürt, dass die Autorin sich als Soziologin mit schwierigen Situationen auskennt. Schreibstil und Handlung haben mich kontinuierlich gefesselt, immer wieder gibt es neue Wendungen. Manche Szenen warten mit feinem Humor auf, doch nie übertrieben und zur Gesamtkonstruktion passend. Die Charaktere sind glaubwürdig, haben ihre Ecken und Kanten, das Themenspektrum ist breit angelegt. Man kann lange über diesen Roman sinnieren, man findet immer wieder weitere Aspekte beim erneuten Durchblättern. Die Nominierung für die Longlist des DBP 2020 ist mehr als gerechtfertigt.

Große Lese-Empfehlung!


 

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Wiedereinstieg ins Leben


Arthur Galleij ist 22 Jahre alt und wird nach 26 Monaten aus der JVA Gerlitz entlassen. Was ihn dorthin gebracht hat, bleibt lange im Unklaren. Abgeholt wird er von der ehemaligen Schauspielerin Grazetta, selbst todkrank und doch eine wichtige Stütze für den jungen Mann. Arthur hat einen Platz in einer Wohngemeinschaft ergattert, von wo aus die Wiedereingliederung in die Gesellschaft innerhalb eines Jahres erfolgen soll. Betreut wird er von seinem unkonventionellen Therapeuten Konstantin Vogl, genannt Börd, der selbst seine Baustellen und eine bewegte Vergangenheit zu haben scheint. Nach Börds Philosophie soll sich Arthur ein neues Ich an seine Seite stellen, ein rechtschaffenes, ideales Ich, das in schwierigen Situationen Hilfe und Beistand leisten kann:
“Also träumen Sie erst mal einen Entwurf von sich. Nicht, wer wir sein wollen, ist entscheidend, sondern wen wir darstellen können. Verstehen Sie den Unterschied?”⠀

Parallel dazu wird Arthur aufgefordert, über sein bisheriges Leben zu reflektieren. Zu diesem Zweck bespricht er ein Aufnahmegerät.
Der Leser wechselt nun zwischen der Gegenwart, der Vergangenheit Arthurs als Kind und Jugendlicher sowie seinen Tonbandaufnahmen. Alle drei Ebenen sind gut verzahnt und verständlich. Die einzelnen Abschnitte sind mit jeweiliger Ort/Zeit überschrieben. Man nimmt starken Anteil an Arthurs Leben.

Arthurs Kindheit ist durch Verluste gekennzeichnet. Früh hat der Vater die Familie verlassen. Die Mutter und der neue Lebensgefährte Georg bauen sich eine neue Existenz in Andalusien auf, indem sie dort ein Hospiz für wohlhabende Todgeweihte gründen. Für Arthur und seinen älteren Bruder Klaus heißt das, aus dem gewohnten Umfeld herausgerissen zu werden. Arthur arrangiert sich, passt sich an. Mit Hospiz-Bewohnerin Grazetta bekommt er eine verständnisvolle Ersatzmutter an die Seite, darüber hinaus hängt Arthur immer öfter mit Princeton und Milla, zwei Gleichaltrigen, ab. Diese Dreier-Freundschaft ist nicht unkompliziert und gipfelt letztlich kurz vor Studienbeginn in einem tragischen Ereignis, in dessen Folge Arthur zurück nach Österreich geht und auf die schiefe Bahn gerät…

Birgit Birnbacher versteht es, diese verschiedenen Ebenen wunderbar zu verbinden. Sie schildert, wie ein normaler junger Mann in Konflikt mit dem Gesetz kommen kann. In Rückblicken erfährt der Leser vom Weg in die Kriminalität, vom harten Leben in der JVA, wo das rigide Gesetz des Stärkeren gilt, und von den emsigen Bemühungen des Protagonisten, anschließend wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Das ist zeitweise sehr bedrückend. Arthur ist ein sympathischer, nachdenklicher und ruhiger junger Mann. Es sollte eigentlich kein Problem für ihn sein, den ersehnten Arbeitsplatz zu bekommen - wenn, ja wenn der Gefängnisaufenthalt nicht wäre… Immer wieder stößt er auf Vorurteile und Ablehnung. So unkonventionell Therapeut Börd auch sein mag, er hat hehre Ziele: „Ich bin jemand, der sich um Ihre Geschichte kümmert. Ein Schutzvogel vielleicht. Nichts ist vor meinem Schutz sicher! Ich rette Menschen, und Dinge rette ich auch. Aber glauben Sie mir eins: Die Dinge sind dankbarer.“
Es wird nicht einfach für Arthur, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden, zumal auch Versuchungen am Wegesrand lauern. Ein großes Themenspektrum wird im Laufe des Romans behandelt, der mich begeistert hat.

Birnbacher erzählt sachlich, unsentimental und empathisch. Sie wertet zu keiner Zeit. Man spürt, dass die Autorin sich als Soziologin mit schwierigen Situationen auskennt. Schreibstil und Handlung haben mich kontinuierlich gefesselt, immer wieder gibt es neue Wendungen. Manche Szenen warten mit feinem Humor auf, doch nie übertrieben und zur Gesamtkonstruktion passend. Die Charaktere sind glaubwürdig, haben ihre Ecken und Kanten, das Themenspektrum ist breit angelegt. Man kann lange über diesen Roman sinnieren, man findet immer wieder weitere Aspekte beim erneuten Durchblättern. Die Nominierung für die Longlist des DBP 2020 ist mehr als gerechtfertigt.

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Schöne Rezension!!! Könnte was für mich sein. Danke fürs Verfassen.
 
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Literaturhexle

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Danke euch, meine Lieben! Sie ist nicht so aus der Feder geflutscht...
Insofern freue ich mich, wenn ihr was damit anfangen könnt.