Rezension (5/5*) zu Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölke.

ulrikerabe

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Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Fragt die Frauen!

„Kann Schneeräumen sexistisch sein?“

Was auf den ersten Blick wie ein Witz klingt, passierte tatsächlich in der schwedischen Stadt Karlskoga. Denn dort sollte die Stadtpolitik unter der „Genderbrille“ neu betrachtet werden. Was also kann beim Schneeräumen schon falsch sein, wenn jahrzehntelang zuerst Straßen und erst danach Radwege und Fußwege vom Schnee befreit werden.

Es stellte sich nämlich heraus, dass es meist Frauen sind, die die ungeräumten Verkehrswege benutzen mussten auf ihren vielen Wegen, nicht nur zur Arbeit, sondern auch um Kinder zu bringen, zu holen, Einkäufe zu tätigen, Nachbarschaftshilfe zu leisten…, während sich der Großteil der Männer in deren bequemen 4x4 Fahrzeugen auf den schneefreien Straßen bequem ausschließlich zur Arbeit und wieder nach Hause zu kutschieren.

Dies ist eines der vielen Beispiele, welches die britische Autorin und Journalistin Caroline Criado-Perez in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ aufzählt, um Datenlücken aufzuzeigen, wenn Daten nicht geschlechtsspezifisch erhoben und ausgewertet werden.

Das generische Maskulinum wird tatsächlich immer noch vorwiegend maskulin interpretiert denn generisch: „Männlich bis zum Beweis des Gegenteils“. In Führungspositionen – politisch, technisch, wirtschaftlich - sind heute immer noch vorwiegend Männer. Männer die nicht konfrontiert sind mit Ausgrenzung, physischer und/oder sexueller Übergriffe und Gewalt. Die abwiegeln, was sie nicht selbst erlebt haben (können). Es braucht Frauen, die in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, um Frauen sichtbar zu machen!

Es sind vor allem drei Themen, die wieder und wieder in dem Buch genannt werden: Der weibliche Körper, die von Frauen geleistete, unbezahlte „Care“-Arbeit und Gewalt von Männern an Frauen.

Dabei geht es nicht nur um First World Problems, ob eine Frauenhand groß genug ist für ein modernes Smartphone. Oder Spracherkennungssoftware, die nur auf männliche Stimmen anspricht. Und es geht nicht nur um gutsituierte, ausgebildete, ausreichend bezahlte Frauen unserer Wohlstandsgesellschaft, die bei kulturellen Events die Schlange vor dem Damen-WC monieren könnten. Es geht um Frauen weltweit, auch und vor allem aus Drittweltländern, Migrantinnen, die unterprivilegiert, schlecht bezahlt, unsichtbar sind. Der Zugang zu sichern Toiletten für Frauen und Mädchen ist vielleicht für uns selbstverständlich. Ganz anders sieht es beispielsweise in Indien aus, wo sich tausende Frauen in den Slums ein Waschhaus teilen müssen. Oder wenn mexikanische Erntehelferinnen lieber Dehydrierung in Kauf nehmen und keine Flüssigkeit zu sich nehmen, weil sie keine Möglichkeit habe sich während der Arbeit zu erleichtern.

Arbeitsmittel und -kleidung - für Männer konzipiert, wie beispielsweise Overalls oder Schuhe, die nicht an Frauenfüße passen. Es sind nicht die Frauen, die sich an diese Dinge anpassen sollten, sondern die Dinge an Frauen.

Und ist es nicht ein Hohn, dass es in afrikanischen Ländern Fortbildungskurse für Frauen gibt, die in Sprache und Schrift unterrichtet werden, die diese Frauen nie die Möglichkeit hatten zu erlernen.

Die Apple Health App soll ein umfassendes Tool für Gesundheitsdaten sein, doch die Erfassung des Menstruationszyklus fehlt. Crash Test Dummies sind männlich, das „weibliche“ Modell ist schlicht kleiner, und wird nur am Beifahrersitz getestet . Teilnehmerinnen an medizinischen Studien? – Vorwiegend männlich. Medikamente, die aufgrund der hormonellen und sonstigen physischen Gegebenheiten einer Frau bei Frauen wirken könnten, kommen nicht zur Anwendung, weil bei Männern eine erfolgreiche Testung ausblieb. „Na no na net!“, fällt mir dazu nur ein.
Erst langsam spricht es sich herum, dass sich bei einem Herzinfarkt die Symptome bei Mann und Frau unterscheiden. Entsprechende Datenerhebungen und -auswertungen können also nicht nur das Leben von Frauen deutlich erleichtern, sie können auch das Leben von Frauen retten.

Einziger kleiner Kritikpunkt an diesem Buch: mir scheint eine gendergerechte Sprache nicht immer eindeutig und konsequent. Mal Binnen-I, mal *, manches Mal war ich nicht sicher, ob eine männliche Form gewünscht war oder dem tatsächlich dem generischen Maskulinum geopfert wurde. Das mag auch ein Problem der Übersetzung sein, sollte aber gerade bei diesem Buch sehr sensibel geprüft werden.

„Wenn Frauen in der Forschung und Wissensproduktion beteiligt sind, werden Frauen nicht vergessen. Die Leben und Perspektiven von Frauen werden sichtbar. Davon profitieren Frauen auf der ganzen Welt… Es stellt sich heraus, dass wir die Lösung die ganze Zeit vor Augen hatten. „Man“ muss nur die Frauen fragen.“



 

Wandablue

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Na, das passt doch hervorragend zum diskutierten Thema zur Long/Shortlist des Deutschen Buchpreises. Bin ganz bei dir. Nur in einem nicht, bei der gendergerechten Sprache. Das müssten wir mal in einem gesonderten Thread diskutieren.
 
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Reaktionen: KrimiElse

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Danke Ulrike, ich habe mir das Buch gestern bestellt.
Sprachlich bin ich bei Wanda - ich kann mit der gendergerechten Sprache nix anfangen. Aber vielleicht gewöhne ich mich irgendwann daran, und du hast völlig recht, dass damit sensibel umgegangen werden muss.
 

ulrikerabe

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Die gendergerechte Sprache ist nicht immer schön und lesbar. Und trotzdem halte ich sie für wichtig, denn Sprache schafft einfach einmal Wirklichkeit. Wenn immer nur von Ärzten, Piloten, Politikern, Wissenschaftlern ..... gesprochen wird, glauben (viele ) Kinder, dass das schlicht immer Männer sind. Sowas prägt sich einfach ein.

Ich hatte gestern einen beruflichen Anruf eines älteren Rechtsanwaltes, der ein Schreiben von meinem Mitarbeiter erhalten hat und Fragen hatte. Er fragte mich, ob ich denn auch antworten könne und ob ich die Vertretung vom Herrn .... sei. Ich habe ihm dann gesagt ."Ich bin seine Chefin. " :)

Ich nehme mir die Zeit, in Schreiben an bspw. alle Beschäftigten in unserem Unternehmen mich an "Kolleginnen und Kollegen" zu wenden. So viel Zeit muss sein und alles fühlen sich angesprochen.

Ich schreibe täglich Bescheid und nehme Rücksicht auf die richtige Formulierung.

Ich verstehe nicht, wenn Frauen von sich selbst als "Leser", "Freund" "Mitarbeiter".... sprechen.

Aus Trotz jetzt einfach das weibliche Generikum zu verwenden halte ich nicht für angebracht, aber wenn in einer gynäkologischen Praxis ein Aushang mit "Lieber Patient..," hängt, frage ich mich schon, was hier verkehrt läuft.

Ich glaube, dass im Kleinen und bei sich selbst begonnen schon viel gewonnen wäre. Dann können wir immer noch über I / * diskutieren.