Rezension Rezension (5/5*) zu Der steinerne Engel: Roman von Margaret Laurence.

SuPro

Bekanntes Mitglied
28. Oktober 2019
1.865
4.112
49
54
Baden Württemberg
lieslos.blog
Ein Highlight! Die alte Hagar und der Silberfaden.


Gleich vorab: Wer diesen Roman nicht liest, hat etwas verpasst.

Die kanadische Autorin Margaret Laurence ist mir vor der Lektüre des „steinernen Engels“ noch nie begegnet.
Margaret Laurence wurde 1926 geboren und wuchs als Waise bei ihrer Tante in der kanadischen Prärieprovinz Manitoba auf, studierte, arbeitete als Journalistin und zog später mit ihrem Mann für einige Jahre nach Afrika.
Nach ihrer Scheidung pendelte sie zwischen England und Kanada hin und her.
Die Schriftstellerin war auch in der Lehre tätig und engagierte sich in der Politik.
Zeitlebens kämpfte sie wohl mit Depressionen und Alkohol.
Nach der Diagnosestellung Lungenkrebs beging sie 1987 Selbstmord.

„Der steinerne Engel“ spielt in den 1960-er Jahren in Kanada.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass es sich beim steinernen Engel um den Grabstein von Hagar Shipleys Mutter handelt, die bei der Geburt ihrer Tochter verstorben ist.
Er steht auf dem Friedhof in Manawaka, dem fiktiven Städtchen in Kanada, in dem Hagar aufgewachsen ist.

Die inzwischen 90-jährige Ich-Erzählerin Hagar Shipley lässt uns in dem Roman an ihren Gedanken und Erinnerungen sowie an ihrem gegenwärtigen Alltag teilhaben.

Hagar, die seit 17 Jahren mit ihrem Sohn Marvin und dessen Frau Doris zusammenlebt und sich vor zehn Jahren aus Langeweile das Rauchen angewöhnt hat, erzählt abwechselnd Anekdoten aus ihrer Vergangenheit und gewährt uns Einblicke in die Geschehnisse der Gegenwart.

Ihr Langzeitgedächtnis funktioniert prima; was kürzlich passiert ist, vergisst sie immer öfter.
Aber was diese Lücken anbelangt, werden wir u. a. vom Sohn und von der Schwiegertochter aufs Laufende gebracht.

Wir bewegen uns fließend zwischen zwei Zeitebenen hin und her und verfolgen zwei Handlungsstränge.

Der eine Strang:
Hagar wuchs mit ihren beiden älteren Brüdern Matt und Dan bei ihrem Vater, einem nicht gerade zimperlichen und eher wortkargen Ladenbesitzer und dem verwitweten Dienstmädchen Tante Doll in Manawaka in Kanada auf.
Hagar muss nicht nur mit dem Verlust ihrer Mutter klarkommen und den Tod ihres Bruders Dan verkraften, sondern auch noch ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, begraben, um die Buchhaltung im Gemischtwarenladen ihres Vaters zu erledigen.
Trotzdem oder gerade deswegen wird sie eine selbstbewusste und couragierte Frau. Sie bezeichnet sich selbst als „stramm und kräftig wie ein Ochse“ (S. 70)
Und dann, mit 24 Jahren, lernt sie auf einem Tanzabend ihren späteren Ehemann Bram Shipley kennen...

Der andere Strang:
Einen Sturz Hagars halten Marvin und Doris für den idealen Anlass, um der scharfzüngigen und eigenwilligen 90-Jährigen, die hilfsbedürftig ist, schon mal was vergisst und auch öfter mal gedanklich abdriftet, mitzuteilen, dass sie das Haus, in dem sie zu dritt leben, verkaufen wollen.

Als die alte Dame jedoch nicht sofort in ihrem Sinne reagiert, setzen Sie den Pastor auf Sie an.

Kurze Zeit später entdeckt Hagar per Zufall einen Zeitungsartikel und ihr wird klar: sie soll im Seniorenheim Silberfaden untergebracht werden.
Das will die dickköpfige und ruppige Hagar nicht so einfach hinnehmen...

Umso weiter der Roman fortschreitet, desto unsympathischer wird einem die Protagonistin. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und hat ständig spöttische, ironische, sarkastische oder zynische Kommentare auf Lager.
Gehässigkeiten und Abfälligkeiten sind keine Seltenheit.
Manchmal blitzt zwar ein bisschen Einsicht in ihr auf, jedoch nur, um im nächsten Moment von der nächsten Bosheit abgelöst zu werden.

Beide Stränge, die nicht streng getrennt voneinander verlaufen, sondern fließend ineinander übergehen, verfolgte ich äußerst gerne weiter.

Es war interessant und amüsant, manchmal auch empörend, traurig, unfassbar, erschütternd und spannend, einerseits in Hagars bewegte Biographie einzutauchen und andererseits zu erfahren, wie es in der Gegenwart weiterging.

Hagars Vergangenheit verfolgte ich interessiert, ihre Gegenwart gespannt und besorgt.

Die Lektüre war keine Minute langweilig und löste die ganze Palette der Gefühle bei mir aus, obwohl, oder gerade weil die Autorin überwiegend recht nüchtern und trocken, aber durchgehend flott schreibt.

Sie erzählt einerseits amüsant und unterhaltsam, andererseits sehr ernst und tiefgründig.
An Witz und Humor lässt sie es nicht fehlen.
Dabei driftet sie niemals ins Kitschige, Schnulzige oder Seichte ab.

Ich bewunderte im Verlauf der Lektüre zunehmend die sprachgewaltige Ausdrucksweise und die eindrücklichen Bilder von Margaret Laurence.

Man kann sich unschwer die Szenerien und Figuren vorstellen und hat das Gefühl mittendrin zu sein.

Laurence erzählt derart feinfühlig, ungeschönt, respektvoll, glaubhaft und authentisch. Chapeau!

Ich kann nicht umhin, zwei Beispiele für wunderschöne und anschauliche Formulierungen zu erwähnen:
„Mein Gedächtnis, das unglücklicherweise jetzt klar wie Quellwasser ist, steigt kalt blubbernd an die Oberfläche.“ (S. 283)

„Ich werde aus dem Schlaf gezogen wie ein Fisch in einem Netz.“ (S. 292)

Während ich eine äußerst unterhaltsame Geschichte verfolgte, wurde ich mit brisanten Gedanken zum Thema Altern konfrontiert und zum Nachdenken angeregt:

Die zunehmende Vergesslichkeit und das wiederholte Abdriften in die Vergangenheit.
Immer wieder Stürze und körperliche Gebrechen.
Das Gefühl, nicht mehr ernst genommen, entmündigt und bemuttert zu werden.
Der Versuch, dagegen aufzubegehren.
Sich hilflos und ausgeliefert fühlen.
Die Anfangsphase seiner Demenz bewusst mitzuerleben - absolut klare und helle Phasen, die unterbrochen werden von Momenten der Vergesslichkeit und des Abdriftens.
Momente, die man versucht zu verschleiern.

Ich kann mir den Roman unschwer als Tragikomödie verfilmt vorstellen.

Ich empfehle den circa 350-seitigen bewegenden und fesselnden Roman mit der zugegebenermaßen unsympathischen, dickköpfigen Protagonistin Hagar sehr gerne weiter.
Warum sie so geworden ist, kann man nachvollziehen, aber mögen kann man sie nicht. Manchmal blitzt eine Prise Mitgefühl für sie auf, aber sie schafft es regelmäßig, den Hauch dieser Prise wieder zu vertreiben.

Bei mir wird „Der steinerne Engel“ einen dauerhaften Platz im Regal bekommen. Er hat mich nachhaltig beeindruckt.


 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.403
23.949
49
66
Ein Highlight! Die alte Hagar und der Silberfaden.


Gleich vorab: Wer diesen Roman nicht liest, hat etwas verpasst.

Die kanadische Autorin Margaret Laurence ist mir vor der Lektüre des „steinernen Engels“ noch nie begegnet.
Margaret Laurence wurde 1926 geboren und wuchs als Waise bei ihrer Tante in der kanadischen Prärieprovinz Manitoba auf, studierte, arbeitete als Journalistin und zog später mit ihrem Mann für einige Jahre nach Afrika.
Nach ihrer Scheidung pendelte sie zwischen England und Kanada hin und her.
Die Schriftstellerin war auch in der Lehre tätig und engagierte sich in der Politik.
Zeitlebens kämpfte sie wohl mit Depressionen und Alkohol.
Nach der Diagnosestellung Lungenkrebs beging sie 1987 Selbstmord.

„Der steinerne Engel“ spielt in den 1960-er Jahren in Kanada.

Gleich zu Beginn erfahren wir, dass es sich beim steinernen Engel um den Grabstein von Hagar Shipleys Mutter handelt, die bei der Geburt ihrer Tochter verstorben ist.
Er steht auf dem Friedhof in Manawaka, dem fiktiven Städtchen in Kanada, in dem Hagar aufgewachsen ist.

Die inzwischen 90-jährige Ich-Erzählerin Hagar Shipley lässt uns in dem Roman an ihren Gedanken und Erinnerungen sowie an ihrem gegenwärtigen Alltag teilhaben.

Hagar, die seit 17 Jahren mit ihrem Sohn Marvin und dessen Frau Doris zusammenlebt und sich vor zehn Jahren aus Langeweile das Rauchen angewöhnt hat, erzählt abwechselnd Anekdoten aus ihrer Vergangenheit und gewährt uns Einblicke in die Geschehnisse der Gegenwart.

Ihr Langzeitgedächtnis funktioniert prima; was kürzlich passiert ist, vergisst sie immer öfter.
Aber was diese Lücken anbelangt, werden wir u. a. vom Sohn und von der Schwiegertochter aufs Laufende gebracht.

Wir bewegen uns fließend zwischen zwei Zeitebenen hin und her und verfolgen zwei Handlungsstränge.

Der eine Strang:
Hagar wuchs mit ihren beiden älteren Brüdern Matt und Dan bei ihrem Vater, einem nicht gerade zimperlichen und eher wortkargen Ladenbesitzer und dem verwitweten Dienstmädchen Tante Doll in Manawaka in Kanada auf.
Hagar muss nicht nur mit dem Verlust ihrer Mutter klarkommen und den Tod ihres Bruders Dan verkraften, sondern auch noch ihren Wunsch, Lehrerin zu werden, begraben, um die Buchhaltung im Gemischtwarenladen ihres Vaters zu erledigen.
Trotzdem oder gerade deswegen wird sie eine selbstbewusste und couragierte Frau. Sie bezeichnet sich selbst als „stramm und kräftig wie ein Ochse“ (S. 70)
Und dann, mit 24 Jahren, lernt sie auf einem Tanzabend ihren späteren Ehemann Bram Shipley kennen...

Der andere Strang:
Einen Sturz Hagars halten Marvin und Doris für den idealen Anlass, um der scharfzüngigen und eigenwilligen 90-Jährigen, die hilfsbedürftig ist, schon mal was vergisst und auch öfter mal gedanklich abdriftet, mitzuteilen, dass sie das Haus, in dem sie zu dritt leben, verkaufen wollen.

Als die alte Dame jedoch nicht sofort in ihrem Sinne reagiert, setzen Sie den Pastor auf Sie an.

Kurze Zeit später entdeckt Hagar per Zufall einen Zeitungsartikel und ihr wird klar: sie soll im Seniorenheim Silberfaden untergebracht werden.
Das will die dickköpfige und ruppige Hagar nicht so einfach hinnehmen...

Umso weiter der Roman fortschreitet, desto unsympathischer wird einem die Protagonistin. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund und hat ständig spöttische, ironische, sarkastische oder zynische Kommentare auf Lager.
Gehässigkeiten und Abfälligkeiten sind keine Seltenheit.
Manchmal blitzt zwar ein bisschen Einsicht in ihr auf, jedoch nur, um im nächsten Moment von der nächsten Bosheit abgelöst zu werden.

Beide Stränge, die nicht streng getrennt voneinander verlaufen, sondern fließend ineinander übergehen, verfolgte ich äußerst gerne weiter.

Es war interessant und amüsant, manchmal auch empörend, traurig, unfassbar, erschütternd und spannend, einerseits in Hagars bewegte Biographie einzutauchen und andererseits zu erfahren, wie es in der Gegenwart weiterging.

Hagars Vergangenheit verfolgte ich interessiert, ihre Gegenwart gespannt und besorgt.

Die Lektüre war keine Minute langweilig und löste die ganze Palette der Gefühle bei mir aus, obwohl, oder gerade weil die Autorin überwiegend recht nüchtern und trocken, aber durchgehend flott schreibt.

Sie erzählt einerseits amüsant und unterhaltsam, andererseits sehr ernst und tiefgründig.
An Witz und Humor lässt sie es nicht fehlen.
Dabei driftet sie niemals ins Kitschige, Schnulzige oder Seichte ab.

Ich bewunderte im Verlauf der Lektüre zunehmend die sprachgewaltige Ausdrucksweise und die eindrücklichen Bilder von Margaret Laurence.

Man kann sich unschwer die Szenerien und Figuren vorstellen und hat das Gefühl mittendrin zu sein.

Laurence erzählt derart feinfühlig, ungeschönt, respektvoll, glaubhaft und authentisch. Chapeau!

Ich kann nicht umhin, zwei Beispiele für wunderschöne und anschauliche Formulierungen zu erwähnen:
„Mein Gedächtnis, das unglücklicherweise jetzt klar wie Quellwasser ist, steigt kalt blubbernd an die Oberfläche.“ (S. 283)

„Ich werde aus dem Schlaf gezogen wie ein Fisch in einem Netz.“ (S. 292)

Während ich eine äußerst unterhaltsame Geschichte verfolgte, wurde ich mit brisanten Gedanken zum Thema Altern konfrontiert und zum Nachdenken angeregt:

Die zunehmende Vergesslichkeit und das wiederholte Abdriften in die Vergangenheit.
Immer wieder Stürze und körperliche Gebrechen.
Das Gefühl, nicht mehr ernst genommen, entmündigt und bemuttert zu werden.
Der Versuch, dagegen aufzubegehren.
Sich hilflos und ausgeliefert fühlen.
Die Anfangsphase seiner Demenz bewusst mitzuerleben - absolut klare und helle Phasen, die unterbrochen werden von Momenten der Vergesslichkeit und des Abdriftens.
Momente, die man versucht zu verschleiern.

Ich kann mir den Roman unschwer als Tragikomödie verfilmt vorstellen.

Ich empfehle den circa 350-seitigen bewegenden und fesselnden Roman mit der zugegebenermaßen unsympathischen, dickköpfigen Protagonistin Hagar sehr gerne weiter.
Warum sie so geworden ist, kann man nachvollziehen, aber mögen kann man sie nicht. Manchmal blitzt eine Prise Mitgefühl für sie auf, aber sie schafft es regelmäßig, den Hauch dieser Prise wieder zu vertreiben.

Bei mir wird „Der steinerne Engel“ einen dauerhaften Platz im Regal bekommen. Er hat mich nachhaltig beeindruckt.

https://lieslos.blog/romane/laurence-margaret-der-steinerne-engel/


Ich fürchte, den Roman muss ich kaufen. Deine Rezension macht wirklich Lust darauf und Kanada rückt immer mehr in meinen Fokus. Auch wenn der Gastlandauftritt dieses Jahr nur ins Virtuelle verschoben wird, sind schon einige interessante Bücher erschienen und dafür können wir uns zwei Jahre lang mit kanadischer Literatur beschäftigen.
Da mein Bruder vor einigen Jahren dorthin ausgewandert ist, habe ich eh eine besondere Beziehung zu diesem Land.
 

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28. Oktober 2019
1.865
4.112
49
54
Baden Württemberg
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Ich fürchte, den Roman muss ich kaufen. Deine Rezension macht wirklich Lust darauf und Kanada rückt immer mehr in meinen Fokus. Auch wenn der Gastlandauftritt dieses Jahr nur ins Virtuelle verschoben wird, sind schon einige interessante Bücher erschienen und dafür können wir uns zwei Jahre lang mit kanadischer Literatur beschäftigen.
Da mein Bruder vor einigen Jahren dorthin ausgewandert ist, habe ich eh eine besondere Beziehung zu diesem Land.
... ich finde, ehrlich gesagt, immer mehr Gefallen an kanadischen Autoren. Ich denke da spontan an Jocelyne Saucier oder auch Louise Penny.
Wow, einen Bruder in Kanada. Da wirst du ihn doch hoffentlich bald mal besuchen?
 
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