Rezension Rezension (5/5*) zu Dieses entsetzliche Glück: Roman von Annette Mingels.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Das ganz alltägliche Leben

Ganz in amerikanischer Erzähltradition (wie z.B. Richard Russo, Elizabeth Strout) fächert die deutsche Autorin Annette Mingels ihren Geschichtenreigen auf, der in der fiktiven Kleinstadt Hollyhock in Virginia angesiedelt ist. Das Buch umfasst 15 Kapitel/Geschichten, die sich jeweils auf eine Figur konzentrieren und deren Sichtweise auf ein für sie besonderes Geschehen wiedergeben. Fühlt man sich zu Beginn des Buches noch ein bisschen hin und her geschleudert angesichts der vielen auftauchenden Charaktere, merkt man doch bald, dass viele bereits kennengelernte Figuren erneut auftauchen. Auf diese Weise ergeben sich Verbindungen. Mal sind sie familiärer Natur, mal sind sie durch Freundschafts-, Liebes- oder sonstige Beziehungen verbunden, oder sie kreuzen nur kurz ihre Wege.

Da der Fokus sich aber in jedem Kapitel verändert, ergeben sich auch andere Perspektiven, die das Bild nach und nach vervollständigen. Hollyhock ist ein kleiner Mikrokosmos. Die Geschichten sind sämtlich dem ganz normalen Leben entnommen. Sie sind nicht wirklich spektakulär, aber bedeutsam für das Leben des jeweiligen Protagonisten. Dadurch findet man sich selbst ein Stück weit wieder, man kann sich hineinfinden in die alltäglichen Schwierigkeiten und Probleme, die sich um Liebe, Familie, Heimat, Krankheit, Sehnsüchte, Zugehörigkeit und vielerlei mehr drehen. Allen Geschichten haftet ein Hauch Melancholie und Traurigkeit an, alle Figuren scheinen auf der Suche nach einem bisschen vom „entsetzlichen Glück“ zu sein.

Einige der Geschichten haben zum Beispiel mit Kenji zu tun. Kenji ist Jungschriftsteller, sein erstes Buch war allerdings nicht sonderlich erfolgreich. Er fühlt sich einsam, seitdem seine Freundin Lucy ihn verlassen und eine Beziehung mit seinem besten Freund Basil begonnen hat. In einer weiteren Geschichte teilt Kenjis Mutter seiner Schwester Aiko mit, dass sie sich in den USA nicht mehr wohlfühlt und zurück nach Japan geht. Später lernen wir auch den Ehemann /Vater Saul kennen, der, mittlerweile alleinstehend, seinen Lebensmittelpunkt verloren zu haben scheint. Sein Blick auf die Trennung sieht naturgemäß völlig anders aus als der seiner Frau. Saul lässt sein Haus verfallen und seine Wohnung wirkt vernachlässigt. Tochter Aiko kümmert sich um ihn. Bald tritt auch eine neue Frau in sein Leben. Kenji indessen scheint in seiner Künstlerblase zu leben. Er arbeitet an einem Roman, in dem er seine Beziehung zu Lucy aufarbeitet, viel Platz für die Sorgen seiner Familie hat er im Moment nicht.

Die Zeit tritt im Verlauf des Buches nicht auf der Stelle, sie schreitet voran. Es kommen noch viele weitere Figuren zu Wort. Perspektiven ergänzen sich, bis am Ende die wesentlichen Handlungsfäden zusammengeführt und zu Ende gebracht werden. Wie im richtigen Leben auch gilt das allerdings nicht für alles: Manches bleibt in der Schwebe und gibt Anlass für Austausch und Nachdenken.

Annette Mingels muss eine gute Beobachterin mit Menschenkenntnis sein. Ihre Charaktere wirken sehr glaubwürdig und sorgsam gezeichnet. Sie haben viele Facetten, die durch die Interaktion mit anderen Figuren in unterschiedlichen Kontexten deutlich werden. So erleben wir beispielsweise Kenji als Freund, Geliebten, Bruder, Sohn oder Schriftsteller.

Der ruhig fließende Schreibstil ist für mich eine Wonne. Hier ein Beispiel: „Dahin zu kommen, dachte Saul. Dass man loslassen konnte, einander und das, was man besaß. Weil am Ende nichts davon blieb. Allein und mittellos mussten sie alle hinübergehen, mit nur einem Sack voll Erinnerungen als Reiseproviant, oftmals leidend und in einen Kampf geworfen, schlimmer als je ausgemalt.“ (S. 238)

Man muss das Buch zwar konzentriert lesen, um sowohl den Überblick über das üppige Personal zu behalten als auch alle Verzweigungen und Zusammenhänge zu erfassen, aber es lohnt sich. „Dieses entsetzliche Glück“ ist ein Buch für ruhige Abende, das bestimmt auch eine Zweitlektüre lohnt.
Große Leseempfehlung!