Seinen letzten Sommer verbringt der Vater am Balaton, in Ungarn, der alten Heimat. Noch einmal sitzt er in seinem Paradiesgarten unter der Akazie, noch einmal steigt er zum Schwimmen in den See. Aber die Rückreise erfolgt im Rettungshubschrauber und Krankenwagen, das Ziel eine Klinik in Frankfurt am Main, wo nichts mehr gegen den Krebs unternommen werden kann. Es sind die heißesten Tage des Sommers, und die Tochter setzt sich ans Krankenbett. Mit Dankbarkeit erinnert sie sich an die gemeinsamen Jahre, mit Verzweiflung denkt sie an das Kommende. Sie registriert, was verloren geht und was gerettet werden kann, was zu tun und was zu schaffen ist. Wie verändert sich jetzt das Gefüge der Familie, und wie verändert sie sich selbst? Was geschieht mit uns im Jahr des Abschieds und was im Jahr danach? In »Sterben im Sommer« erzählt Zsuzsa Bánk davon.Kaufen
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Im engen Sinn ist dieses Buch kein Roman, sondern ein Erfahrungsbericht. Zsuzsa Bánk als Ich-Erzählerin erzählt darin von ihrer Familie, ihren Eltern und insbesondere ihrem betagten Vater, der im heißen Sommer 2018 einer Krebserkrankung erlag. Wer die Autorin kennt, weiß, dass sie dies in einer einzigartig sensiblen und poetischen Sprache tun kann.
Eigentlich dachte die Familie, den Krebs besiegt zu haben, nach einigen Jahren der Ruhe tritt er jedoch mit Heftigkeit wieder hervor. Unheilbar lautet die Diagnose. Einmal noch will man wie so oft zuvor einen gemeinsamen Ungarnsommer am Balaton erleben. Doch es kommt anders: Dort angekommen geht es dem Vater schlechter, er bekommt hohes Fieber, muss operiert werden. Eine Odyssee durch die Krankenzimmer beginnt.
„Obwohl wir in Ungarn den hell erleuchteten Sommer gesucht haben, finden wir auch diesmal Krankheit und Tod, dieses sich fest umschlingende Paar, es drängt sich auf, und man wird es nicht los, wie eine Klette haftet es, klebt an einem, es will dazugehören und tanzt mit, krallt sich fest, löst sich nicht aus seiner Umarmung.“ (Epub S. 9)
Jeder, der bereits einen lieben Angehörigen auf ähnliche Weise verloren hat, wird sich von dieser Erzählung berührt fühlen. Die Bilder gleichen sich: Die Diagnose, die Endlichkeit der Zeit, der Wunsch, noch viel davon miteinander zu verbringen, das Bangen, das Hoffen um einen Aufschub, Gespräche mit Ärzten, das Organisieren des Sterbens…
Während die Familie um den Vater bangt, werden auch Erinnerungen wach. Die Eltern der Autorin stammen aus Ungarn und müssen 1956 aus politischen Gründen fliehen. In Deutschland finden sie eine neue Heimat, gründen eine Familie. Sobald man wieder unbehelligt nach Ungarn reisen kann, werden die Sommer im Kreis der Großfamilie am Balaton verbracht. Herrliche Sommer sind das. Das Verhältnis der einzelnen Familienmitglieder zueinander ist gesund, die Vater-Tochter-Verbindung ungetrübt.
Selbstkritisch hinterfragt sich die Ich-Erzählerin, warum ihr der Abschied vom Vater so schwer fällt, warum der Gedanke des „nie mehr wieder“ ihr so weh tut. „Jeden Tag geschieht es, jeder stirbt, und jeder verliert eines Tages seine Eltern. Es ist nichts Besonderes, uns allen widerfährt es. Wir werden geboren und sterben, wir verlieren jemanden ans Sterben, und eines Tages verliert uns jemand ans Sterben. Warum mache ich es zu etwas Herausragendem?“ (Epub, S. 67) Doch man kann der Trauer um einen geliebten Menschen nicht mit Vernunft begegnen. „Es zählt, dass wir es erleben. Nur wir erleben es so, nur wir erleben es auf unsere Art.“ (Epub, S.67)
Bánk erzählt von dieser Zeit des Abschiednehmens unglaublich empathisch. Sie findet genau die richtigen Worte: „Irgendwann ist der Tod deutlicher als das Leben, sagt sie (ihre Freundin), das Leben weicht dem Tod, irgendwann ist der Zeitpunkt da, und man sieht, der Tod hat übernommen, das Leben wird weniger.“(Epub, S. 28)
Sie schildert den Sterbeprozess eines Menschen, sie schildert die Veränderungen, die der Tod mit sich bringt, die Gedanken, die man sich machen muss, um dem Leben auch nach seinem Ende einen würdigen Abschluss zu geben, die Formalien, die nun einmal zu tun sind, das Auflösen des Nachlasses. „Wir vernichten die Konstante unseres Lebens. Die immer da war, als wir geboren wurden, mit der wir aufwuchsen, die unsere Kindheit, unser Großwerden, unser Erwachsensein, sogar unser Älterwerden begleitet hat.“ (Epub S. 107)
Das Leben muss weitergehen. Die zweite Hälfte des Buches ist der Trauer gewidmet, die man zulassen muss, die bei jedem Menschen ihr eigenes Tempo, ihre eigene Rhythmik hat. Da kann ich der Ich-Erzählerin zugegebenermaßen nicht immer folgen, manche Szene gerät da für mein Empfinden etwas pathetisch. Doch dieses Buch ist ein Memoir, ein sehr persönliches dazu, jeder erlebt solche Situationen anders.
Auch die Ich-Erzählerin hat das Jahr der Trauer überwunden: „Die Toten sind nie tot. Aber wir weinen nicht mehr um meinen Vater, das Weinen um meinen Vater ist versiegt. Wir weinen über den Tod, ganz allgemein und groß. Darüber, dass die Geliebten gehen. Unsere Zeit mit ihnen begrenzt ist. Dass sie verschwinden. Nicht wieder auffindbar verschwinden.“ (Epub, S. 233)
Dieses Buch ist sprachlich ein Kleinod, man darf sich die Sätze auf der Zunge zergehen lassen. Sie sind so treffend, so herzerwärmend. Es ist sicherlich kein Buch, das man eben so weg liest, doch es widmet sich sehr wahrhaftig einem Thema, das zum Leben gehört und dem man sich stellen sollte. Mich hat dieses Buch sehr berührt und ich empfehle es jedem, der ohne Groll an seine verstorbenen Lieben denken kann und möchte.
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