Rezension Rezension (5/5*) zu Sommer bei Nacht: Roman von Jan Costin Wagner.

Mikka Liest

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Hilter am Teutoburger Wald
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Das Unbegreifliche, literarisch ausgelotet

Jan Costin Wagner ist bekannt für seine psychologisch tiefgründigen Romane, seinen für Krimis ungewöhnlich lyrischen Schreibstil. Wer meinem Blog schon eine Weile folgt, weiß vielleicht, dass mich beides erfreut aufhorchen lässt. Ich habe ein Faible für Autoren, die die Normen ihres Genres aufbrechen – zum Beispiel liebe ich den Schreibstil von Friedrich Ani oder Stig Sæterbakken, die ungewöhnlichen (Anti)Held*innen von Marie Reiners, Ane Riel oder Lioba Werrelmann.⠀

Dennoch stürzte mich “Sommer bei Nacht” schon nach wenigen Kapiteln in bestürzte Ratlosigkeit. Meine Notizen:⠀

“Habe Schwierigkeiten, hineinzufinden. Ich liebe lyrische Schreibstile, aber hier wirkt es auf mich etwas erzwungen, angesichts häufiger Perspektivwechsel zu uniform – als hätten verschiedene Charaktere die gleiche Gedankenwelt. Phrasen und Konzepte wiederholen sich.”⠀

Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfasst hatte, war, wie viel Sinn es für die Geschichte macht, dass grundverschiedene Charaktere haltlos durch sehr ähnliche Gedankenwelten irren. Denn auch, wenn sie vom Wesen her sehr unterschiedlich sind und sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen müssen, ist ihnen eines gemein: sie alle werden in diesem Sommer auf verschiedene Arten und Weisen in den Abgrund stürzen. Und sie alle verweigern sich den Klischees.⠀

Meine nächsten Notizen, nach etwa der Hälfte, waren vorsichtig euphorisch:⠀

“Bin jetzt angekommen im Buch – in der erdrückenden Hitze dieses fatalen Sommers, in dem jeder Protagonist seine Abgründe hütet. Dachte erst, die verschiedenen Gedankenwelten seien zu gleichförmig, aber es summt doch jeder – manchmal unterschwellig, kaum hörbar – seine eigene Melodie im Choral dieses Dramas. So langsam lüften sich die Schleier, wenn auch nur vor dem Leser.”⠀

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Schock bereits hinter mir. Das Erschrecken über diese eine Sache, die in vielen Rezensionen und vielen Artikeln des Feuilletons schon verraten wird – aber bis dato spurlos an mir vorbeigegangen war. Sie stellte mich vor ethische Fragen, mit denen ich nicht gerechnet hatte.⠀

Aber genau hier zeigt sich die Meisterschaft des Autors, der das Gleichgewicht wahrt zwischen dem Schrecken und der Hoffnung, dem Drama und dem Verständnis. Er verurteilt nicht, er schreibt dem Leser nicht vor, was er zu denken oder zu glauben hat. Auch bei kontroversen Themen, die bei den meisten Menschen eine sofortige und inbrünstige Abneigung auslösen, bleibt sein Schreibstil ruhig-poetisch und sein Urteil offen. Er lässt Lücken, die den Gedanken der Leser*innen Raum geben.⠀

Mehr als diesen Ausschnitt aus meinen Notizen möchte ich hier noch nicht verraten:⠀

“Mehr und mehr entwickelt die Geschichte eine Sogwirkung, die dem Leser die Luft abschnürt. Jeder Charakter trägt sein Trauma mit sich, und im Fall des Ermittlers Ben Neven ist das eine mutige, sicher auch kontroverse Wahl des Autors, die hier aber mit viel Feingefühl – und dennoch ungeschönt – behandelt wird.”⠀

Ab da ließ mich das Buch wirklich nicht mehr los, ich dachte oft und lange darüber nach – beim Kochen, beim Staubsaugen, beim Zähneputzen. Das Buch liefert dem Leser die verschiedenen Bestandteile der Thematik und der Lösung, aber keine Gebrauchsanweisung. Was in meinen Augen auch gut so ist.⠀

Am Ende war mein Krimileserherz jedoch erstmal enttäuscht. Der Fall wird im Grunde nur durch einen doppelten Zufall aufgeklärt. Reine Ermittlungsarbeit ist bereits gescheitert oder zumindest im Sande verlaufen, als dies die Ermittler auf die richtige Spur bringt. Das sorgte bei mir für einen leicht schalen Beigeschmack.⠀

Und dann passiert etwas, womit der Krimileser nicht rechnet, weil es gegen eine fundamentale Erwartung verstößt. Aber ist das gut oder schlecht? Überraschend und ungewöhnlich ist es auf jeden Fall, und nach längerem Nachdenken bin ich zu diesem Schluss gekommen:⠀

“Selbst im hellsten Sonnenschein stehen die Charaktere stets mit einem Bein im Abgrund ihrer Seele. Sommer bei Nacht. Ob sie gegen die Vergangenheit ankämpfen, eine Bedrohung von außen oder ihre eigene Natur – sie alle leiden an der gnadenlosen Unbegreiflichkeit der Welt. Daher kann es in dieser Geschichte gar keinen glatten Schnitt geben, kein harmonisches Happy End, und deswegen ist der Schluss meines Erachtens auch gut so, wie er ist.”⠀

Fazit⠀

Ein kleiner Junge verschwindet, Ermittler Ben Neven und Christian Sandner haben nur wenige Anhaltspunkte. Es gibt eine verschwommene Aufnahme, die Jannis an der Hand eines Mannes mit einem großen Teddy zeigt, doch über 300 Hinweise führen zu nichts.⠀

Im Flimmern der heißen Sommersonne eröffnen sich überall menschliche Abgründe – auch in den Psychen der Ermittler. Jan-Costin Wagner kleidet diese Geschichte in seinen unverwechselbaren Stil, der ohne ein Wort zuviel eine dichte Atmosphäre aufbaut. Er geht Wagnisse ein: mit seinen Charakteren, mit dem Ablauf der Ermittlungen, mit dem Ende.⠀

Ich musste öfter innehalten und darüber nachdenken, wie ich dies oder jenes finde, ob es für mich Sinn macht, ob ich dem Autor noch weiter durch die Geschichte folgen will oder nicht. Letztendlich bleibt jedoch nur das Fazit: ich bin begeistert.⠀


 

RuLeka

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Das Unbegreifliche, literarisch ausgelotet


Jan Costin Wagner ist bekannt für seine psychologisch tiefgründigen Romane, seinen für Krimis ungewöhnlich lyrischen Schreibstil. Wer meinem Blog schon eine Weile folgt, weiß vielleicht, dass mich beides erfreut aufhorchen lässt. Ich habe ein Faible für Autoren, die die Normen ihres Genres aufbrechen – zum Beispiel liebe ich den Schreibstil von Friedrich Ani oder Stig Sæterbakken, die ungewöhnlichen (Anti)Held*innen von Marie Reiners, Ane Riel oder Lioba Werrelmann.⠀

Dennoch stürzte mich “Sommer bei Nacht” schon nach wenigen Kapiteln in bestürzte Ratlosigkeit. Meine Notizen:⠀

“Habe Schwierigkeiten, hineinzufinden. Ich liebe lyrische Schreibstile, aber hier wirkt es auf mich etwas erzwungen, angesichts häufiger Perspektivwechsel zu uniform – als hätten verschiedene Charaktere die gleiche Gedankenwelt. Phrasen und Konzepte wiederholen sich.”⠀

Was ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfasst hatte, war, wie viel Sinn es für die Geschichte macht, dass grundverschiedene Charaktere haltlos durch sehr ähnliche Gedankenwelten irren. Denn auch, wenn sie vom Wesen her sehr unterschiedlich sind und sich unterschiedlichen Herausforderungen stellen müssen, ist ihnen eines gemein: sie alle werden in diesem Sommer auf verschiedene Arten und Weisen in den Abgrund stürzen. Und sie alle verweigern sich den Klischees.⠀

Meine nächsten Notizen, nach etwa der Hälfte, waren vorsichtig euphorisch:⠀

“Bin jetzt angekommen im Buch – in der erdrückenden Hitze dieses fatalen Sommers, in dem jeder Protagonist seine Abgründe hütet. Dachte erst, die verschiedenen Gedankenwelten seien zu gleichförmig, aber es summt doch jeder – manchmal unterschwellig, kaum hörbar – seine eigene Melodie im Choral dieses Dramas. So langsam lüften sich die Schleier, wenn auch nur vor dem Leser.”⠀

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich den Schock bereits hinter mir. Das Erschrecken über diese eine Sache, die in vielen Rezensionen und vielen Artikeln des Feuilletons schon verraten wird – aber bis dato spurlos an mir vorbeigegangen war. Sie stellte mich vor ethische Fragen, mit denen ich nicht gerechnet hatte.⠀

Aber genau hier zeigt sich die Meisterschaft des Autors, der das Gleichgewicht wahrt zwischen dem Schrecken und der Hoffnung, dem Drama und dem Verständnis. Er verurteilt nicht, er schreibt dem Leser nicht vor, was er zu denken oder zu glauben hat. Auch bei kontroversen Themen, die bei den meisten Menschen eine sofortige und inbrünstige Abneigung auslösen, bleibt sein Schreibstil ruhig-poetisch und sein Urteil offen. Er lässt Lücken, die den Gedanken der Leser*innen Raum geben.⠀

Mehr als diesen Ausschnitt aus meinen Notizen möchte ich hier noch nicht verraten:⠀

“Mehr und mehr entwickelt die Geschichte eine Sogwirkung, die dem Leser die Luft abschnürt. Jeder Charakter trägt sein Trauma mit sich, und im Fall des Ermittlers Ben Neven ist das eine mutige, sicher auch kontroverse Wahl des Autors, die hier aber mit viel Feingefühl – und dennoch ungeschönt – behandelt wird.”⠀

Ab da ließ mich das Buch wirklich nicht mehr los, ich dachte oft und lange darüber nach – beim Kochen, beim Staubsaugen, beim Zähneputzen. Das Buch liefert dem Leser die verschiedenen Bestandteile der Thematik und der Lösung, aber keine Gebrauchsanweisung. Was in meinen Augen auch gut so ist.⠀

Am Ende war mein Krimileserherz jedoch erstmal enttäuscht. Der Fall wird im Grunde nur durch einen doppelten Zufall aufgeklärt. Reine Ermittlungsarbeit ist bereits gescheitert oder zumindest im Sande verlaufen, als dies die Ermittler auf die richtige Spur bringt. Das sorgte bei mir für einen leicht schalen Beigeschmack.⠀

Und dann passiert etwas, womit der Krimileser nicht rechnet, weil es gegen eine fundamentale Erwartung verstößt. Aber ist das gut oder schlecht? Überraschend und ungewöhnlich ist es auf jeden Fall, und nach längerem Nachdenken bin ich zu diesem Schluss gekommen:⠀

“Selbst im hellsten Sonnenschein stehen die Charaktere stets mit einem Bein im Abgrund ihrer Seele. Sommer bei Nacht. Ob sie gegen die Vergangenheit ankämpfen, eine Bedrohung von außen oder ihre eigene Natur – sie alle leiden an der gnadenlosen Unbegreiflichkeit der Welt. Daher kann es in dieser Geschichte gar keinen glatten Schnitt geben, kein harmonisches Happy End, und deswegen ist der Schluss meines Erachtens auch gut so, wie er ist.”⠀

Fazit⠀

Ein kleiner Junge verschwindet, Ermittler Ben Neven und Christian Sandner haben nur wenige Anhaltspunkte. Es gibt eine verschwommene Aufnahme, die Jannis an der Hand eines Mannes mit einem großen Teddy zeigt, doch über 300 Hinweise führen zu nichts.⠀

Im Flimmern der heißen Sommersonne eröffnen sich überall menschliche Abgründe – auch in den Psychen der Ermittler. Jan-Costin Wagner kleidet diese Geschichte in seinen unverwechselbaren Stil, der ohne ein Wort zuviel eine dichte Atmosphäre aufbaut. Er geht Wagnisse ein: mit seinen Charakteren, mit dem Ablauf der Ermittlungen, mit dem Ende.⠀

Ich musste öfter innehalten und darüber nachdenken, wie ich dies oder jenes finde, ob es für mich Sinn macht, ob ich dem Autor noch weiter durch die Geschichte folgen will oder nicht. Letztendlich bleibt jedoch nur das Fazit: ich bin begeistert.⠀



Um diesen Roman habe ich bisher einen Bogen gemacht ( obwohl ich die früheren Bücher des Autors gerne gelesen habe ), denn die Artikel des Feuilletons gingen an mir nicht spurlos vorüber.
 
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