Rezension Rezension (4/5*) zu Schatten der Welt: Roman von Andreas Izquierdo.

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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Helle Jugend - finsterer Schatten Krieg


Thorn in Westpreußen, 1910: Carl Friedländer, Sohn eines jüdischen Schneiders, und Artur Burwitz, dessen Vater Wagner und Trinker ist, sind Freunde, die unterschiedlicher nicht sein können. Carl, der besonnene, vorsichtige, kluge Bursche. Artur der bauernschlaue Draufgänger voller herrlicher und gefährlicher Ideen. Als Carl auf Isi trifft, wünscht er sich zunächst das Mädchen niemals kennengelernt zu haben, so unliebsam war seine erste Begegnung mit ihr. Doch die forsche, freche und mutige Lehrerstocher wird bald Dritte im Bunde dieser Freundschaft. Eine Freundschaft, die vielen Prüfungen ausgesetzt ist. Denn die Welt steht am Rande eines Abgrundes. Nach dem Ersten Weltkrieg ist nichts mehr wie es war und doch ist es die Zeit für einen Neuanfang.

Der deutsche Drehbuchautor und Schriftsteller Andreas Izquierdo erzählt in seinem Roman „Schatten der Welt“ feinfühlig und bewegend von drei jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Er erzählt von einer Zeit, in der die Welt, wie sie bisher war, nicht mehr existierte, vom Krieg, vom Umbruch und vom Aufbruch in andere Zeiten.

Alles beginnt bei den Geburtstagsfeierlichkeiten für den Kaiser. Es ist der legendäre „Baracken-Bumms“, den Artur initiiert hat, ein militärischer Skandal. Dann folgt der Halley’sche Komet und mit nicht ganz astreinen Methoden kommen die Carl, Artur und Isi - die Leichtgläubigkeit der Mitmenschen ausnutzend - an eine kleine Summe Geldes. Sie sind fast noch Kinder, haben die ganze Welt vor sich. Jeder für sich hat trotz ihrer jungen Jahre eine Bürde zu trage. Carl Schneiderssohn, wie er oft neckisch von Isi genannt wird, muss sich mehr und mehr um seinen Vater kümmern, der immer mehr in die Vergesslichkeit abgeleitet. Artur erlebt den rauen Umgang mit seinem meist betrunken Umgang mit stoischer Ruhe. Isis Vater hingegen ist ein patriarchalischer Haustyrann, der Frau und Töchter gerne misshandelt und dessen politische Gesinnung am rechten Rand zu finden ist.

Mit Staunen und Neugier richten sie ihre Aufmerksamkeit auf Neuerungen, die der Fortschritt bietet, während der Großteil in Thorn noch den Schlaf der Gerechten schläft. Es ist die Fotografie, die Carl begeistert und Artur erkennt das Potential von Lastkraftwagen und wird trotz seiner 17 Jahre zum erfolgreichen Unternehmer.

„Carl! begann Artur von Neuem. Verstehst du denn nicht, was da heute Morgen passiert ist?
Wir haben einen Lkw gesehen antwortete ich ratlos.
Nein, wir haben die Zukunft gesehen!“

Im hellen Licht ihrer Jugend wirft der Erste Weltkrieg einen finsteren Schatten auf eine verheißungsvolle Zukunft.

„Ich scherzte, tröstete, warnte, pflichtete bei, lachte und beschwor, fühlte weder Hunger noch Durst, sondern nur den unstillbaren Drang, den Menschen das zu geben, was sie am meisten wollten: Lügen. Denn ich war Carl Friedländer, der Schneiderssohn, der alles erreichen konnte.“

Carl ist die Erzählstimme dieses mitreißenden Romans. Anhand der Geschichte der drei Freunde wird Weltgeschichte lebendig. Izquierdo verpackt mit einer Leichtigkeit, schwungvoller Sprache und trotzdem großer Ernsthaftigkeit die Grausamkeit des Krieges, Schützengräben, Widerstand, militärische Propagandamaschinerie, Nationalismus, die Geringschätzung von Frauen, den aufkeimenden Sozialismus.

„Isi hätte schreien können…..Männer wie ihr Vater regierten Thorn, sie regierten Preußen, das Deutsche Reich, die ganze Welt. Sie bestimmten die Regeln, die Religion, die Politik, verfälschten Tatsachen, machten Karriere, und wenn gar nichts mehr half, begannen sie Kriege und stürzten die Welt ins Chaos: Kaiser, General, Kanzler, Pfarrer, Vater. Doch was war mit ihr? Was war mit all den Frauen, die in ihren Schatten starben, so leise, dass man nicht mal wusste, dass sie überhaupt gelebt hatten? Zählten sie nicht? Nichts?“

Dieses Buch ist wie Kino, ein historisches Coing-of-Age mit viel Liebe zu den Protagonisten. Das Ende lässt Spielraum über. Aber wie wir wissen, hat sich bald ein neuer Schatten auf die Welt gelegt.