1. Leseabschnitt: Anfang bis Seite 77

G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Nun denn:

Ich habe den ersten Leseabschnitt beendet und die Schreibe liest sich flüssig, ist spannend und berührt mich. Es gefällt mir sehr gut!

Der erste Erzählstrang handelt in Prag 1970, Pavel Vodák verabschiedet sich von seiner Heimatstadt. Wenn man sich vorstellt, was dies bedeutet, das ist schon heftig. Offiziell heißt es die Familie Vodák fährt in den Urlaub, das bedeutet, dass die Vodáks nur soviel mitnehmen können, wie man in den Urlaub mitnimmt. Sie wollen ja nicht auffallen. Auch wichtige Unterlagen müssen hierbleiben, für den Chefarzt sicher nicht so perfekt. Und das bedeutet, dass sie sich nicht von ihren Freunden verabschieden können. Und das bedeutet, dass sie andere gefährden, weil sie ja in einer Diktatur leben und wenn ein Chefarzt flieht, hat das sicher Konsequenzen für sein Umfeld. Und das bedeutet ebenso, dass sie dies ja schon länger planen und damit eine gehörige Geheimhaltung verbunden ist. Und das bedeutet ebenso, dass der Hund Ready, ihr Haustier auch hier gelassen wird. Wer ein Haustier hat und hatte, wird wissen, wie schmerzhaft das sein wird. Falls man sich hier wundert, nicht jede Unterbringung im Urlaub erlaubt Hunde, oder auch der Flug und dann könnte das Tier die Familie bei dem weiteren Fluchtweg gefährden. Wenn man sich das überlegt, kommt man ungefähr darauf was dies für die Vodáks bedeutet. Dann das Ungewisse, sie fliegen ja nach Jugoslawien, dort wartet eine Kontaktperson und übergibt ihnen die Pässe und weitere Instruktionen. Mehr scheint ja noch nicht bekannt zu sein. Und dazu kommt noch die Gefahr, Pavel und seine Frau Vera müssen die nichtsahnende Tochter Pavli und die ebenso unwissende Mutter von Vera, Frantiska durch das Kommende lotsen. Und dann muss man sich vor Augen führen, dass dies hier kein freiwilliger oder wirtschaftlicher Entschluss der Familie ist, sondern sie tun dies um einen Gefängnisaufenthalt des Ehemannes, einen eventuellen Gefängnisaufenthalt der Ehefrau und einen damit verbundenen Verlust ihres Kindes zu verhindern. So etwas ist geschehen in diesen sozialistischen Diktaturen. Und dazu kommt noch, sie wissen auch nicht, wie es für sie wirtschaftlich weitergeht in dem Land, wohin sie wollen. Das ist wirklich heftig!
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.883
49
Dann fange ich mal an :)

Der Roman scheint auf zwei Zeitebenen einzusetzen. In der Gegenwart von 1970 sieht sich der Arzt Pavel gezwungen, sein Heimatland zu verlassen. Die politischen Verhältnisse sind prekär geworden. Pavel ist kein überzeugter Kommunist, ihm fehlt das richtige Parteibuch, das auch fachliche Kompetenz ersetzen kann. Wichtige Freiheiten wie Reisen ins Ausland hat man ihm bereits genommen. Die Kollegen spüren, dass er angezählt ist, insbesondere eine Frau D. Poloserova spekuliert auf seinen Posten...
Offiziell wird Pavel mit Frau, Tochter und Schwiegermutter nach Jugoslawien fliegen. Nur seine Frau ist informiert, deutsche Pässe liegen bereit. Ein waghalsiges Abenteuer, zumal die drei anderen kein Wort Deutsch sprechen.
Erwähnt wird der 21.08.68: An diesem Tag haben Truppen des Warschauer Paktes die Demokratisierungsbemühungen unter Alexander Dubcek gewaltsam niedergeschlagen, der sich "für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz" einsetzte.

Am Abend vor der Abreise ist Pavels Familie hochnervös. Die Tochter will nicht ohne ihr Kuscheltier verreisen, die Großmutter will sich völlig ausklinken und stattdessen ihren Sohn besuchen, die Ehefrau dreht am Rad. Abends im Bett kann Pavel nicht schlafen und lässt seine Erinnerungen Revue passieren - sie setzen im März 1939 ein, als die deutsche Wehrmacht in Budweis einmarschiert war und das Protektorat Böhmen und Mähren gegründet wurde. Sehr anschaulich wird die Ambivalenz, wie das Volk die Nationalsozialisten wahrnimmt, offensichtlich ist es gespalten und die Nazis bemühen sich noch um eine gute Stimmung (Ausgabe von Gulaschsuppe). Man steht der Rassenlehre des Führers ungläubig gegenüber, will Nachrichten über Judenvergasungen späterhin keinen Glauben schenken....
Treffend empfand ich die Fabel des Lehrers mit der weißen Feder am schwarzen Raben. Das folgende Zitat beeindruckt mich:
[zitat]Wir suchen nach Gleichem, wollen uns anpassen und damit identifizieren. Wir lehnen im Unterbewusstsein all diejenigen ab, die anders sind als wir (S. 36)[/zitat]
Zunächst hatte ich dabei einen Nein-Reflex. Bei genauerem Hinschauen ist aber auch was Wahres dran. Im Grunde aber auch nicht allzu schlimm, solange man daran arbeitet und vor allem Toleranz übt...
Pavel muss feststellen, dass seine Freunde Herbert und Hans auf Seite der Nazis stehen, während andere völlig entsetzt über die deutsche Besatzung sind.
Von Pavels Eltern kann ich mir noch kein rechtes Bild machen: Die deutsche Mutter scheint eine Lebedame zu sein, der Vater ein zurückhaltender, unpolitischer tschechischer Offizier. Seit Jahren macht Pavel die Hausaufgaben für den kleinen Bruder - wo gibt es sowas?!
Der Lehrer Josef Stejskal wird erwähnt, der ihn stark geprägt hat. Bestimmt hören wir wieder von ihm.

Auf S. 54 taucht zum ersten Mal die Metapher vom hungrigen Krokodil auf, als Bild für die Besatzer, die kraftvoll im Hintergrund lauern.
Pavel möchte Arzt werden. Im Seziersaal verliebt er sich in die wunderschöne blonde Vera, die anschließend ungerührt Kuchen isst, während er selbst mit Übelkeit kämpft. Sein jüdischer Freund Arnost wird im November 39 das Studium verboten, er schenkt Pavel seine Lernknochen. Kurze Zeit später werden alle Universitäten im Protektorat für 3 Jahre geschlossen. Unglaublich! Oppositionelle Studenten wurden zuvor hingerichtet!
[zitat]Das Krokodil ist da! Es ist überall, sogar hier im Wohnzimmer (in Form seiner Tanten, die Hitler unverblümt in Schutz nehmen). Es verdaut die ermordeten Studenten, vertilgt jetzt Bücher und Bildung zum Dessert (S. 69)[/zitat]
Interessant, dass hier der Nationalsozialismus als lebendiger Organismus geschildert wird. In unserem letzten Buch von Dubois tauchten derartige Metaphern auch auf.

Ein größerer Zeitsprung führt nach Südböhmen 1942. Pavel zeltet mit Freund Master, dessen Bruder in Auschwitz gefangen ist. Von dort kommen die grausigen Berichte über brutale Morde an hunderten von Menschen. Der Bruder warnt die Familie. Master vermutet, dass ein achtbarer Reichstagsabgeordneter, der in seiner Familie zu Gast war, ein Verräter ist und vielleicht noch weitere Menschen in Gefahr bringen kann. Pavel glaubt nicht an die Bösartigkeit der Deutschen, liebt er doch seine eigene Familie zu sehr. Pavel hofft, dass die Universität wieder öffnet und er sein Studium fortsetzen kann.
 
Zuletzt bearbeitet:
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Auch die Rückschau auf die Jahre 1939 bis 1942 ist interessant. Zeigt es doch, dass Deutsche und Tschechen anscheinend miteinander gelebt hatten, einen friedlichen Kontakt hatten, es sogar Heiraten untereinander gegeben hat, Pavels Eltern sind hier ein Beispiel. Das ist etwas, dass ich noch nicht wusste. Ich dachte zwischen den Bevölkerungsgruppen gärt es schon länger.

Ansonsten fand ich auch die Beschreibung der Vera interessant, fast wirkt sie wie eine andere Person, stark und auch autark. Das könnte bedeuten, dass sie noch einiges zu verkraften hat, denn die ewig ängstliche Vera, die später geschildert wird, muss ja irgendwie entstehen.

Die geschichtlichen Geschehnisse sind ja nicht neu, zumindest für diejenigen unter uns, die immer wieder darüber lesen. Trotzdem finde ich es immer wieder erstaunlich, wie wenig doch eigentlich passieren muss, um eine bisherige Idylle zu zerstören und das Krokodil in uns hervor zu holen. Das ist etwas, was uns allen immer bewusst sein sollte. Denn zerstörerische Kräfte gibt es auch heute. Und wie aus dem Buch heraus zu lesen ist. Geschichte wiederholt sich.

Wie Sandra Brökel, dies beschreibt, wie die Geschichte oder die Deutschen die Tschechen hier förmlich überrollen, das ist hervorragend geschrieben und formuliert. Dieses Buch berührt ungemein!

Wie die Familie/die Eltern von Pavel wohl durch dieses Grauen kommen werden? Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl. ...
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.883
49
Ich bin sehr begeistert vom Schreibstil der Autorin. Sie schreibt flüssig und gut verständlich. Die unterschiedlichen Positionen der handelnden Figuren werden wie nebenbei verdeutlicht. Ich liebe die Bilder, die kleinen Geschichten (z.B. der Vergleich mit dem Wald, in dem die zu fällenden Bäume markiert sind. Ebenso markieren die Nazis lebensunwürdige Menschen:eek:). So viel Wahres steckt in den Zeilen, ich kann meine Markierungen unmöglich alle hier darlegen.

Da hätte ich gleich eine Frage an @Sandra Brökel: Sie haben ja eine ganze Tasche mit den Notizen des Arzten Pavel als Grundlage für diesen Roman zur Verfügung gehabt. Hat der Arzt sich wirklich dermaßen "schön" ausdrücken können? Hat er seine Erinnerungen ausformuliert?
Ich vermute mal, dass Sie das künstlerisch aufgearbeitet haben ;) und das, was ich bisher gelesen habe, gefällt mir wirklich extrem gut! Man kann die Atmosphäre, die Ungläubigkeit, die Spaltung der Gesellschaft anhand der handelnden Personen ungeheuer gut nachvollziehen. Man fühlt sich ganz nah dran.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.883
49
Ansonsten fand ich auch die Beschreibung der Vera interessant, fast wirkt sie wie eine andere Person, stark und auch autark. Das könnte bedeuten, dass sie noch einiges zu verkraften hat, denn die ewig ängstliche Vera, die später geschild
Sehr interessanter Gedanke! Ihre Unerschütterlichkeit hat sie zumindest verloren. Pavel will das Land gewiss nicht umsonst verlassen, da kommt noch was. Das Buch hat von Anfang an eine ungeheure Sogwirkung auf mich.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Das folgende Zitat beeindruckt mich:
[zitat]Wir suchen nach Gleichem, wollen uns anpassen und damit identifizieren. Wir lehnen im Unterbewusstsein all diejenigen ab, die anders sind als wir (S. 36)[/zitat]
Zunächst hatte ich dabei einen Nein-Reflex. Bei genauerem Hinschauen ist aber auch was Wahres dran. Im Grunde aber auch nicht allzu schlimm, solange man daran arbeitet und vor allem Toleranz übt...

Dieses Zitat ist mir auch ins Auge gesprungen.

Und ebenso wie du dachte ich gleich nein!

Aber dennoch ist leider etwas Wahres dran. Aber wenn man an sich arbeitet, kann man da etwas ändern! Stimmt!

Nur was mich wundert. In Verbindung zur Nazizeit gedacht. Vom äußerlichen unterscheiden sich doch die Bewohner Mitteleuropas nicht voneinander. Nur sprachlich gibt es Unterschiede. Aber wenn man Unterschiede sucht, wird man sicher noch mehr finden. Leider!
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Sein jüdischer Freund Arnost wird im November 39 das Studium verboten, er schenkt Pavel seine Lernknochen.

Hier finde ich das Verhalten von Pavel etwas komisch.

Schon vorher ist ein jüdischer Freund, David glaube ich samt seinen Eltern einfach verschwunden. Auch das wurde einfach so berichtet, ohne große Anteilnahme.

Und auch bei Arnost finde ich Pavel recht teilnahmslos.

Die nationalsozialistische Propaganda zu den Juden müsste doch bekannt sein. Will er es nicht wahrhaben weil es zu schmerzhaft ist? Oder weiß er noch nichts vom Vorgehen gegen die Juden? Was denkt ihr?
 
  • Like
Reaktionen: KrimiElse
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Pavel glaubt nicht an die Bösartigkeit der Deutschen, liebt er doch seine eigene Familie zu sehr.

Dieses Dilemma ist wirklich gut dargestellt. Und auch vollkommen nachvollziehbar. Weil ja aber auch die Deutschen nicht das Böse sind. Sondern eher die Nationalsozialisten.

Andere haben ja auch nicht vermutet, dass das Böse so ausartet. Der Lehrer Josef Stejskal zum Beispiel. Wie schlimm wohl das Aufwachen für viele wird?!?!
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.444
49.883
49
Die nationalsozialistische Propaganda zu den Juden müsste doch bekannt sein. Will er es nicht wahrhaben weil es zu schmerzhaft ist?
Das denken wir heute, dass man alles hätte wissen müssen.

Damals gab es auch nicht die Medienvielfalt und Vernetzung wie heute. Gewiss haben die Nazis ihre Vernichtungsmaschinerie auch eher im Hintergrund laufen lassen. Pavel ist halb deutsch, liebt seine Familie, die sicher auch nicht alle Hitler zujubeln. Dadurch ist er befangen. "Nicht sein kann, was nicht sein darf". Er nimmt auch die Warnung von Moster nicht ernst. Der Brief kam aus Auschwitz, bei uns läuten da alle Glocken, bei den beiden jungen Männern nicht.
Das ist dem Buch anzurechnen, dass es die Entwicklungen wunderbar abbildet.

( Ich glaubte meiner Oma auch, dass sie von der Judenvernichtung nichts gewusst hatte. In ihrem Ort gab es keine Juden, man lebte ländlich. Die Nachrichten müssen schier unglaublich geklungen haben, selbst wenn sie kamen!)
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Erwähnt wird der 21.08.68: An diesem Tag haben Truppen des Warschauer Paktes die Demokratisierungsbemühungen unter Alexander Dubcek gewaltsam niedergeschlagen, der sich "für einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz" einsetzte.

Das ist so augenöffnend! Wo doch der Sozialismus und seine Diktaturen für sich in Anspruch nahmen die menschlichsten Systeme auf Erden zu sein. Es aber nicht waren. Zumindest ihren Gegnern gegenüber nicht. Hierzu, zumindest nach dem Warum dieses Geschehens gibt auch einige interessante Antworten oder Perspektiven. Und dieser Sozialismus von Dubcek klingt interessant. Vielleicht kommt hier noch einiges.
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Das denken wir heute, dass man alles hätte wissen müssen.

Damals gab es auch nicht die Medienvielfalt und Vernetzung wie heute. Gewiss haben die Nazis ihre Vernichtungsmaschinerie auch eher im Hintergrund laufen lassen. Pavel ist halb deutsch, liebt seine Familie, die sicher auch nicht alle Hitler zujubeln. Dadurch ist er befangen. "Nicht sein kann, was nicht sein darf". Er nimmt auch die Warnung von Moster nicht ernst. Der Brief kam aus Auschwitz, bei uns läuten da alle Glocken, bei den beiden jungen Männern nicht.
Das ist dem Buch anzurechnen, dass es die Entwicklungen wunderbar abbildet.

( Ich glaubte meiner Oma auch, dass sie von der Judenvernichtung nichts gewusst hatte. In ihrem Ort gab es keine Juden, man lebte ländlich. Die Nachrichten müssen schier unglaublich geklungen haben, selbst wenn sie kamen!)

Ich dachte hier eher ans Radio. Die Familie von Pavel waren ja nicht arm und müssten doch etwas über die Sichten der Nationalsozialisten gehört haben.

Ich meine das in keiner Weise wertend. Ich denke da auch an das Glück der späten Geburt. Wir, die danach Geborenen, können kein Handeln der damaligen Bevölkerung bewerten. Wir wissen nicht was wir gemacht hätten unter diesen Machthabern. Und hoffentlich erfahren wir es nie!!!
 
G

Gelöschtes Mitglied 2403

Gast
Ich lese es als Nachtisch. In welcher Reihenfolge es besser ist? Keine Ahnung.
Für mich wirklich Neuland, der Prager Frühling

Der Prager Frühling ist für mich kein Neuland. Ich habe viel Dokus über ihn gesehen. Aber noch nichts gelesen. soll ja auch davon handeln. Vielleicht auch etwas zum Lesen später nach dem hungrigen Krokodil. Und auch wartet noch. :);)