Rezension (5/5*) zu Die Verwissenschaftlichung der ›Judenfrage‹ im Nationalsozialismus (Veröffentl.

Matzbach

Aktives Mitglied
31. Januar 2020
320
184
29
60
OWL
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Lesenswerte Studie

Wie anfangen? Verleitet durch den Titel "Die Verwissenschaftlichung der "Judenfrage" im Nationalsozialismus und den für Mitglieder der WBG deutlich vergünstigten Preis habe ich micht entschlossen, die Studie Horst Jungingers zu lesen. Anfangs war ich ein wenig enttäuscht, weil sich Junginger vorwiegend auf die Entwicklung des Antisemitismus an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, seiner Alma Mater, bezieht. Doch das Durchhalten hat sich gelohnt, denn das, was sich im Tübinger Fokus abspielte, hatte durchaus Folgen für das gesamte Reich, denn mit dem Theologen Gerhard Kittel und dem Religionswissenschaftler Karl-Georg Kuhn wirkten die beiden wohl führenden Wissenschaftler, die sich mit der sogenannten "Judenfrage" auseionandersetzten. Beinahe zwangsläufig verführten sie eine ganze Generation von Studenten, so dass es kein Zufall ist, dass zahlreiche Namen von Technokraten, die in verschiedener Funktion aktiv an der "Endlösung" ihre Hochschulbildung an der Württembergischen Uni bekommen hatten. Das dabei vor allem die theologische Fakultät und das evangelische Pfarrhaus, aus dem eine nicht unbeträchtliche Zahl der Täter stammte, eine bedeutsame Rolle spielten, ist auch keine Überraschung, denn der nationalpatriotische des Protestantismus hatte bereits im deutschen Kaiderreich eine fragwürdige Rolle gespielt, ebenso lässt sich der Antisemitismus auch schon bei Luther erkennen. In Tübingen äußerte sich der Antisemitismus unter anderem darin, dass es im Gegensatz zu anderen Universitäten kaum nötig war, jüdische Professoren und Studenden zu vergrauelen, denn es gab sie nicht. Dafür sorgten auch die dort vertretenen Burschenschaften, aus denen ebenfalls viele der späteren Täter hervorgingen. Das alles war trotz der formalen Gleichberechtigung aller Religionen, die laut Verfassung der Weimarer Republik festgeschrieben war, möglich, indem man bei der Ablehnung jüdischer Professoren nicht auf deren Religion, sondern auf deren angebliche fehlende wisschenschaftliche Kompetenz verwies. Doch 1933 brachte auch für die Theologie in Tübingen Gefahren mit sich, denn es gab nationalsozialistische Fanatiker, die das Christentum ablehnten, weil es unbestreitbar aus dem Judentum hervorgegangen ist. Insofern verschaffte der Theologe Kittel mit seinen vermeintlich wissenschaftlichen Forschungen zur "Judenfrage" nicht nur dem Antisemitismus Aufrieb, er verteidigte auch seine Religion, die seit der Aufklärung zunehmend an Bedeutung verloren hatte, wenn auch längst nicht in dem Ausmaß von heute. Indem er "nachwies", dass die vermeintlich negative Sonderentwicklung der jüdischen "Rasse" erst mit der Zeit des neuen Testaments einsetzte, also der jüdischen Diaspora, schhug er sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits konnte damit das Alte Testament weiterhin als unbelastet und damit für das Christentum unbeschadet überdauern, andererseits konnte er so eine Brücke zwischen dem alten religiösem und dem neuen rassistisch motivierten Antisemitismus schlagen (nebenbei: ich finde, dass Junginger in diesem Kontext den von der Geschichtswissenschaft betonten Unterschied hier zu sehr herunterspielt, denn der entscheidende Unterschied, dass eine Konversion zum Christentum bei allen religiösem Vorbehalt und weiter bestehenden Vorurteilen gegenüber den Konvertiten im Gegensatz zum späteren Rassenantisemitismus, man denke an die Nonne Edith Stein, die als geborenene Jüdin zur Vernichtung nach Auschwitz deportiert wurde, nivelliert wird). Aber ganz im Sinne der Nationalsozialisten dreht Kittel mit seinen Thesen die Wirklichkeit um: wären die Juden dem weg des neuen Testaments gefolgt, gäbe es sie ja gar nicht mehr, also sind sie mit ihrer selbstgewählten Rolle als Außenseiter selbst an ihrer Verfolgung schuld. Kittel versteigt sich so sehr in diese Attitüde, dass er die Ghettobildung und Kennzeichnug der Juden über weite Teile der Geschichte als den auch dem Judentum angemessenen Weg sieht, die von ihnen ausgehende Gefahr zu bannen. Erst die Aufklärung und die Emanzipation habe zu einer Verschärfung der Judenfrage geführt, zumal jetzt auch die assimilierten Juden nicht mehr erkennbar seien. Und genau an dieser Stelle wird die Armseligkeit der nationalsozialistischen Judenpolitik und ihrer Begründung fassbar: wenn das Kriterium zur Erkennung eines Juden nicht mehr die Religion, sondern die Rasse ist, was macht dann diese Rasse aus? Zahlreiche nationalsozialistische Naturwissenschaftler versuchten, durch Blutuntersuchungen, Schädelvermessungen und anhand von sonstigen typologischen Merkmalen eine Defintion der jüdischen Rasse abzuleiten, allein, es gelang ihnen nicht, da es eben keine signifikanten Unterschiede zu anderen Menschen gab. Letztendlich blieben die Kirchenbücher und Geburtsregister die Grundlage für Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung zahlreicher jüdischer Mitbürger zunächst im Reich, dann in allen von Deutschland besetzten Gebieten. Doch da sprang die 'Geisteswissenschaft der Naturwissenschaft zur Seite. Legionen von Wissenschaftlern mühten sich, Beweise für den angeblich zersetzend wirkenden Volkscharakter der Juden nachzuweisen, so eben auch Kittel unn Kuhn, die den Talmud als angeblichen Kronzeugen heranzogen. Es führt sicherlich kein direkter Weg von den beiden zum Holocaust, aber berechtigterweise schreibt Junginger: "Das Fehlen einer direkten Aufforderung, Gewalt gegenüber Juden anzuwenden, befreit die Vertreter der nationalsozialistischen Judenwissenschaft nicht von ihrer Verantwortung, die intellektuellen Voraussetzungen dafür geschaffen zu haben, dass den Judenmördern ihr Tun sinnvoll und plausibel erschien. Man kann nicht über Jahre hinweg das jüdische Volk zum schlechthin Bösen und negativen Prinzip der Weltgeschichte erklären und dann nichts damit zu tun haben wollen, dass seine Verteufelung zum handlungsleitendem Motiv wurde" (S.403). Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen, nur die Tatsache, dass das in vielen Fällen die (erfolgreiche) Strategie vieler Beteiligter war. Nur die wenigsten wurden tatsächlich für ihr Tun zur Rechenschaft gezogen, im Gegenteil, sie konnten unbehelligt weiterhin an deutschen Universitäten, ja sogar im auswärtigem Amt ihre Karriere fortsetzen (Man kann gar nicht so viel essen, wie man in diesem Zusammenhang Kotzen muss). Insofern war der 68-Impetus "Unter den talaren Muff von tausend Jahren" sicherlich nicht der falscheste.