2. Leseabschnitt: Kapitel "Tiefe Schlünde" bis einschließlich "Und die Orgel hörte auf zu spielen"

Barbara62

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Habe ich dich etwa überholt, liebe @KrimiElse? ;)

Der zweite Leseabschnitt hat sich für mich nicht mehr ganz so flott gelesen wie der erste. An einigen Stellen war es mir zu ausführlich, beispielsweise bei der Orgel, aber die Sprache trägt nach wie vor.

Eine große Frage ist nun geklärt, nämlich wie Paul nach Kanada kam. Der Bruch zwischen den Eltern hat einen vordergründig banalen Grund: einen Pornofilm. Ich kann verstehen, dass sich Paul auf die Seite des Vaters schlägt. Weder er noch der Vater haben tiefgreifende moralische Bedenken, aber so viel Rücksichtnahme sollte in einer Ehe schon sein, dass der eine Ehepartner nicht die Entlassung des anderen provoziert. Die Mutter handelt egoistisch und pocht auf ihre Freiheit, aber sie geht zu weit.

Wieder passt Johanes sich an, dieses Mal in Kanada, obwohl er seinen Glauben inzwischen verloren hat. Er scheint inzwischen völlig entwurzelt zu sein, für eine Rückkehr nach Jütland ist er "nicht mehr dänisch genug". Paul folgt ihm und auch er schafft die Anpassung an die neue Umgebung. Mit seinem Job in der Baufirma legt er den Grundstock an Wissen für die spätere Hausmeistertätigkeit.

Sehr gut beschrieben ist der Absturz des Vaters. Die Spielsucht füllt die Lücke, die der Verlust des Glaubens hinterlassen hat. Eine tragische Figur. Und Paul fühlt sich schuldig, weil er den Vater gegen dessen Willen zum ersten Mal zum Pferderennen mitgenommen hat.

Heißt der Kollege absichtlich "Bob Woodward"? Ich traue es Dubois zu...

Sehr interessant fand ich die Schilderung rund um die Volksabstimmung in Quebec. Wir waren vor einigen Jahren in Kanada, u. a. auch in der Provinz Quebec, und die Spannungen zwischen Anglo- und Frankokanadier spürt man in jedem Gespräch, das man mit Kanadiern führt. Früher oder später kommen die meisten auf dieses Thema, und wenn man nur ein paar Pommes an einem Kiosk kauft...

Unglaublich, wie sorglos man noch in den 1970er-Jahren mit Asbest umging. Wie mag es den Bewohnern der Minenstädte heute ergehen - soweit sie noch am Leben sind?

Heftig sind die Attacken gegen die katholische Kirche, das wird nicht jedem gefallen. Geschmunzelt habe ich trotzdem.

Einige Stellen musste ich wieder laut vorlesen, die über das Abitur 1968, die Beschreibung der Studienzeit ("ein lockeres Kommen und Gehen..."), die "Horton'schen Presssitzungen" und die Sache mit den drei Semikolons.

Nach wie vor speist sich die Spannung aus der Frage, welches Vergehens sich Paul schuldig gemacht hat. Interessant ist, dass er nun davon spricht, dass er nach seiner Entlassung seine "nicht zu mildernde Strafe in anderer Form" wird fortsetzen müssen.
 

RuLeka

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Der leichte Ton wechselt zu mehr Ernsthaftigkeit. Die Sprache ist genial, so viele unverbrauchte Bilder. Bei der Abhandlung über das Semikolon musste ich auch schmunzeln. Ich bin jemand, der dieses Satzzeichen sehr gerne benutzt.
Dubois bringt neben der privaten Geschichte so viel Zeitgeschichte in seinem Text unter und zwar völlig in die Geschichte integriert. Sei es der freiheitliche Aufbruch in Frankreich, den die Mutter für sich feiert, oder die Umweltbelastung in dieser kanadischen Gegend, die man damals anscheinend völlig gedankenlos hinnahm oder die Unabhängigkeitsbestrebungen der Franko -Kanadier.
 

RuLeka

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Der Protagonist hat zu Recht ein stärkeres Verhältnis zum Vater. Die Mutter schien sehr egoistisch auf ihrem Freiheitstrip unterwegs gewesen zu sein. Dass ein Pastor für seine Gemeinde nicht mehr tragbar war, wenn dessen Frau offen zu pornographischen Filmen einlädt.
Der Vater ist, wie Du Barbara schon angemerkt hast, eine tragische Figur. Entwurzelt, von seinem Glauben entfremdet, fährt er sein Leben mit der Spielsucht komplett gegen die Wand.
 

Barbara62

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Der leichte Ton wechselt zu mehr Ernsthaftigkeit. Die Sprache ist genial, so viele unverbrauchte Bilder.
Ein Lob auch für die Übersetzung. Ich bin demnächst in Frankreich und werde versuchen, einen Blick ins Original zu werfen. Es würde mich sehr interessieren, ob diese Bilder wörtlich übernommen oder fantasievoll übersetzt sind.
 

Literaturhexle

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Danke für deine Zusammenfassung @Barbara62 ! Das sind alles die Dinge, die ich auch behalten habe. Daneben gab es aber einen Haufen Geschwafel. Kleinigkeiten werden aufgeblasen und lenken vom der eigentlichen Handlungslinie ab. Vielleicht empfinde aber nur ich das so, weil mich die Handlung nicht durchgängig interessiert. Ganz Ohr bin ich, wenn es um das Leben im Gefängnis geht. Auch das Leben beim Vater, die detaillierte Schilderung seines Abstürze, der Verlust seines Glaubens und seines Halts - das war sehr interessant. Dazwischen tauchen immer wieder Füllsel auf, die zwar ebenso bildreich beschrieben werden, mich aber langweilen.

Noch immer ist der Stil eher flapsig-locker gehalten, mit einigen ernsten, bedeutungsschwangeren Absätzen. Ich erzähle nichts Neues, dass das nicht meins ist und ich mich schwer tue.
Ich bin überrascht, dass dieser Roman den bedeutenden Prix Goncourt gewonnen hat.
 

RuLeka

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Dafür, dass es um seine Eltern geht, erzählt Paul ziemlich emotionslos. Oder wie empfindet ihr das? Für mich klingt es nach "War halt so". (Das ist keine Kritik, vielmehr eine Feststellung.)
Ja, wobei seine Gefühle für den Vater immer durchschimmern. Eigentlich war er von seiner Einstellung her näher an der Mutter, aber emotional stand ihm der Vater näher.
 

Sassenach123

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Dafür, dass es um seine Eltern geht, erzählt Paul ziemlich emotionslos. Oder wie empfindet ihr das? Für mich klingt es nach "War halt so". (Das ist keine Kritik, vielmehr eine Feststellung.)
Ich finde es insgesamt nicht auf Emotionen ausgelegt. Er erklärt, das ist für mich das, was mir beim lesen in den Sinn gekommen ist
 

Sassenach123

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Ganz so angetan wie beim ersten Abschnitt bin ich nun nicht mehr. Für meinen Geschmack erfahre ich zu wenig über Dinge die mich wirklich interessieren, dafür viel über Automarken und deren Defizite usw.
Ich hoffe sehr, dass auf den weiteren Seiten aufgedröselt wird, warum Paul denn nun im Gefängnis sitzt.
 

ulrikerabe

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Danke für deine Zusammenfassung @Barbara62 ! Das sind alles die Dinge, die ich auch behalten habe. Daneben gab es aber einen Haufen Geschwafel. Kleinigkeiten werden aufgeblasen und lenken vom der eigentlichen Handlungslinie ab. Vielleicht empfinde aber nur ich das so, weil mich die Handlung nicht durchgängig interessiert. Ganz Ohr bin ich, wenn es um das Leben im Gefängnis geht. Auch das Leben beim Vater, die detaillierte Schilderung seines Abstürze, der Verlust seines Glaubens und seines Halts - das war sehr interessant. Dazwischen tauchen immer wieder Füllsel auf, die zwar ebenso bildreich beschrieben werden, mich aber langweilen.
Mir geht es ganz ähnlich.

Es gibt einiges an Füllsel, die mich schlicht nicht interessieren, neben der Motoriersung von Autos ( ;) ), sind es die Herkunft der Lautsprecher oder der Aufbau einer Hammond Orgel. Das ist vielleicht Johanes Faible für Details geschuldet. es steht ja sogar geschrieben über "unnütze aber präzise Notizen",
[zitat]Ich glaube mehr denn je, dass man sich zur Genauigkeit, Richtigkeit und Nennung von Details zwingen muss.[/zitat] S. 63

Außerdem hat Paul einfach alle Zeit der Welt und in der Einöde Gefängnis sind das seine Reisen in die Welt.
 

ulrikerabe

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Ganz beim Buch bin ich bei den Beschreibungen des Gefängnisalltages.

Ist euch aufgefallen, dass Dubois das Gefängnis wie einen Organismus sieht:
S. 35....die Schläge eines riesigen Stahlherzens
S. 9 Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwie Magenkrämpfen.....
S. 41: Bald wird der Bauch des Gefängnisses seine träge Verdauung in Gang setzen...
S. 66 Die Ratten, die sich in den Eingeweiden des Gefängnisses...
S. 68 ....dass wir in einem Bauch leben...

Vor allem dieser Faible für den Gastrointestinaltrakt passt hervorragend zu Patricks Gewohnheiten :)
 
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ulrikerabe

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Paul treibt sich (gedanklich) "in einer seit Jahren verschütteten Welt" herum "in der man sich wegen eines schelchten Films trennen konnte.
Immer noch nimmt er "am Tisch zwischen Vater und Mutter" Platz.

Von den tiefen Schlünden des Pornofilms zu den tiefen Schlünden des Teufels (s. 85) der Asbestminen. So bekommt auch die anfängliche Bemerkung (auf S. 13) zu Johanes einen Sinn. Meine Vermutung war ja, dass Johanes an Krebs oder Asbestvergiftung stirbt. Aber die Geschichte geht anders. Dass der Vater spielsüchtig wird (und Diener zweier Herren wird) ist eine unerwartete Wendung. Er stirbt vor Pauls Augen (und der gesamte Kirchengemeinde) (vermutlich an einem Schlaganfall oder Herzinfarkt?)

Dass Johanes zu "Pauls Toten" zählt liegt, kann vielleicht daran liegen, dass Paul ihn erstmals zum Spielen gebracht hat.