1.Leseabschnitt: Anfang bis einschließlich Kapitel "Der Pastor zweifelt"

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Bin ich diesmal tatsächlich die erste? Unglaublich, bei meinem sonstigen Gebummel in letzter Zeit...

Zuerst:
ich mag was ich lese und bin ein wenig überrascht über den recht neutralen Erzählton, der manchmal sogar lapidaren Witz verbreitet. Ich hätte viel mehr Melancholie erwartet.

Auch wenn der Erzähler Paul Christian Frédérich Hansen ein in meinen Augen (noch) recht neutraler Berichterstatter ist, lese ich nicht vordergründig Trauer über seinen Verlust seiner drei Toten. Er berichtet, relativ emotionslos, nimmt seine Strafe hin und will sich nicht in Gesprächen mit einem Beamten der Gefängnisverwaltung für Verkürzung der Haftzeit arrangieren. Ab und zu blitzt Trauer auf, aber er hat sich mit seinem Leben im Knast offenbar arrangiert. Kommt damit zurecht bis auf das allabendliche Klo-Ritual seines Zellengenossen, dem er zwangsläufig immer beiwohnen muss.

Sprachlich gefällt mir ganz ausgezeichnet, was ich lese. Eine Grundstimmung, die ein bisschen dumpf und ohne emotionale Höhen und Tiefen, wie sie wahrscheinlich der Situation angemessen ist, kommt sehr gut bei mir an.


Kurze Inhalts-Zusammenfassung:
Rückblickend aus dem Gefängnis in Montreal, im Winter 2009/2010 berichtet Paul aus seinem Leben und tippt dabei immer wieder kurz das Ereignis an, das zu seiner Verurteilung von 2 Jahren geschlossenem Vollzug führte. Er nimmt das Urteil an, findet es angemessen für seine Tat (vermutlich versuchter Mord an dem Psychiopathen - ist er für den Tod von seinem Vater, von seiner Frau Winona und seiner Hündin Nouk verantwortlich?).
Ein dänischer Vater - Pastor, und eine französische Mutter - Programmkinoinhaberin, die 1968 mit Anarchisten und ihren Umsturzideen sympathisiert, sind seine Wurzeln. Paul wuchs in Toulouse, wie er später nach Kanada an die großen Seen kam ist noch unklar. Der Vater verließ die Familie mit seinem NSU Ro 80, nachdem im Programmkino der Mutter ein Plakat gegen den Glauben auftauchte.
Paul arbeitete 26 Jahre lang als Oberverwalter im Ahuntsic-Viertel, war dort „Deus ex Machina“ der Wohnanlage und hielt alles am Laufen. Seine Frau, eine Algokin-Indianerin, betrieb ein Fluftaxi-Unternehmen. Er war glücklich in seinem Leben, wünscht sich dorthin zurück.
Verurteilt wurde Paul am Tag der Wahl Obamas, und sitzt bereits 14 Monate im Knast. Seine Zelle teilt er mit Patrick Horton, einem Mitglied der Hell‘s Angel, der auf seinen Prozess warten. Paul mag Patrick, auch wenn dieser manchmal unberechenbar ist und seltsame Ideen hat. Paul profitiert davon, dass Patrick wegen seiner Bandenzugehörigkeit und wegen seiner körperlichen Präsenz im Gefängnis unangreifbar ist. Patrick hat Angst vor Ratten und Mäusen, von denen es im Knast nur so wimmelt.
 

claudi-1963

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29. November 2015
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Naja, das Buch noch nicht, ich war im ebook-Kaufrausch ;)
Aber ich lese ein bisschen langsamer weiter, alleine diskutieren ist doof. Mir war nicht klar, dass nur ich es habe.
Hast du nicht die nachrichten bekommen, das die meisten das Buch noch nicht haben? Ich und auch andere haben es erst heute bekommen.
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Hast du nicht die nachrichten bekommen, das die meisten das Buch noch nicht haben? Ich und auch andere haben es erst heute bekommen.
Tatsächlich habe ich das verdrängt, liebe Claudi. Aber das macht nichts, weil ich ja auf euch warte und noch nicht weiter gelesen habe. Es ist übrigens toll, mal die Erste zu sein :D und das seit zwei Tagen.
 

Barbara62

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19. März 2020
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Ich bin leicht in das Buch gestartet und sehr überrascht von dem lockeren Ton. Instinktiv erwarte ich bei preisgekrönten Büchern immer mehr Ernst und Schwere. Meistens gefällt er mir sehr gut und ich musste einige Male lachen, vor allem bei den Autopannen, der Hansen-Familie auf Jütland und bei Patrick. Wenn die anderen Gefangenen ihn beim kindlichen Zeichnen oder während seiner Nager-Angstattacken erlebt hätten, wäre sein Ruf als "Mörderkoloss" im Gefängnis wohl dahin gewesen.

Die Erinnerungen Pauls an seine Kindheit und seine genauen Beobachtungen haben mir ausgesprochen gefallen. Interessant, dass er sich so hingezogen zu Jütland und den Hansens dort fühlt, obwohl er mit 14 das erste Mal dort ist und zu seiner Mutter doch wohl den engeren Draht hat.

Wie verletzend muss es für den Vater gewesen sein, dass der Sohn in der Schule seinen Beruf leugnet?

Worin wohl sein Vergehen ("weder harmlos noch dramatisch") besteht? Ich denke, er hat seine Frau, seinen Vater oder seinen Hund verteidigt/gerächt und bereut es nicht. Erst ist nicht einmal bereit, für eine frühere Entlassung Reue zu heucheln ("Reuekörner zu picken"). Versuchter Totschlag? Allerdings kann er sich wegen Filmrisses nicht daran erinnern. Es scheint nicht so, dass er sich im Gefängnis dramatisch unwohl fühlt (außer der Toiletten-Geschichte ;)).

Achtung ist natürlich wie immer bei einem Ich-Erzähler geboten, denn wir wissen (noch) nicht, wie zuverlässig und glaubwürdig er ist.

Überrascht bin ich, dass ein Verurteilter und ein Untersuchungshäftling zusammen in einer Zelle sitzen, denn Patrick wartet ja noch auf seinen Prozess. In Deutschland wäre das meines Wissens nach nicht möglich.
 
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KrimiElse

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26. Januar 2019
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RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich bin leicht in das Buch gestartet und sehr überrascht von dem lockeren Ton. Instinktiv erwarte ich bei preisgekrönten Büchern immer mehr Ernst und Schwere.
So ging es mir ebenfalls . Buchpreis und die Thematik stimmten mich auf einen ernsten Roman ein. Ernsthaftigkeit ist auf jeden Fall vorhanden. Es war bestimmt kein launiger Ausrutscher, der den Protagonisten ins Gefängnis brachte. Aber die Erzählhaltung und die Sprache sorgen für Leichtigkeit.
Die Spannung ist gegeben, weil der Leser den Grund für die Inhaftierung noch nicht kennt. Aber so wie es scheint, ist die Tat verständlich. Allerdings wissen wir auch nicht, inwiefern dem Erzähler zu trauen ist. Doch bisher kommt er sehr sympathisch rüber.
Gut gelungen ist auch der Wechsel in der Geschichte zwischen Berichten aus dem Gefängnisaufenthalt und den Rückblenden in die Vergangenheit. Der Alltag zwischen den so unterschiedlichen Inhaftierten sorgt zum einen für Komik, bringt aber bestimmt mit der Zeit eine gewisse Annäherung der beiden.
Durch die Erinnerungen an die Kindheit lernen wir den Ich- Erzähler näher kennen. Auch das wird mit leichten Ton geschildert, obwohl die Ehe der Eltern nicht unbedingt harmonisch war. Dafür sind beide zu unterschiedlich. Der Vater entstammt einer Fischerfamilie aus Jütland und hat eher aus einer spontanen Überlegung heraus den Beruf des Pastors ergriffen. Die Mutter eine Französin, die das Kino ihre verstorbenen Eltern übernimmt ( auch der spektakuläre Unfalltod der Großeltern wird eher lapidar berichtet ) und daraus ein Versammlungsort für moderne revolutionäre Ideen macht. Mutter und Sohn haben überhaupt keine Beziehung zur Religion, zum Beruf des Vaters, genieren sich dafür oder agitieren dagegen. Eine brisante Mischung. Mal sehen, ob die Ehe über den Besuch in Jütland hinaus Bestand haben wird.
 

Barbara62

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Der Alltag zwischen den so unterschiedlichen Inhaftierten sorgt zum einen für Komik, bringt aber bestimmt mit der Zeit eine gewisse Annäherung der beiden.
Der Ich-Erzähler ist sehr anpassungsfähig, vielleicht durch seine doppelte Herkunft. Der Sprung vom Toulouser Kind mit Wurzeln in Frankreich und Dänemark zum Montrealer Concierge mit indianischer Frau spricht dafür. Anscheinend fällt ihm das leicht - wenn er die Wahrheit sagt...
 

KrimiElse

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Der Vater entstammt einer Fischerfamilie aus Jütland und hat eher aus einer spontanen Überlegung heraus den Beruf des Pastors ergriffen. Die Mutter eine Französin, die das Kino ihre verstorbenen Eltern übernimmt
Es ist neben den beiden so unterschiedlichen Zellengenossen die zweite eigentlich unvereinbare Konstellation, bei der beide Menschen dennoch (zunächst) zueinander finden. Mal sehen, was noch kommt in diese Richtung.
 

SuPro

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Ich bin begeistert! Die Sprache, die Formulierungen, die Bilder.
Die Geschichte beginnt spannend und ist ein Pageturner. Wie konnte Paul, der bis jetzt so sympathisch und rechtschaffen dargestellt wird fast zu einem Mörder werden? Warum erkennt er dem Gutachter gegenüber die Schwere der Tat nicht an und warum bereut er nicht?
Patrick finde ich klasse. Er gibt der Geschichte sooo viel Leichtigkeit und Pep. Und er wird wunderbar vom Autor beschrieben. Einerseits seine weiche, sympathische und verletzliche Seite, andererseits seine barsche, aggressive und unsympathische Seite.
 

Literaturhexle

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Ihr habt wirklich alles Erwähnenswerte schon gesagt, ich kann mich nur anschließen.

Ihr habt die Leichtigkeit, den Humor erwähnt. Das alleine wäre mein Sound überhaupt nicht. In diese vermeintliche Leichtigkeit flechtet der Erzähler zum Glück (für mich) Metaphern und Sätze ein, die Schwere und Nachdenklichkeit transportieren. Diese Kombination ist unwiderstehlich! Desweiteren die Formulierungskunst. Letztes Beispiel:
[zitat]Die Bibel vollzog einen majestätischen Gleitflug durch die Zelle und schlug gleich einem mit Schrot erlegten Vogel gegen die salpetrige Wand, hinter der man die Nagetiere scharren hörte."[/zitat]
Das muss man erstmal so ausdrücken können.

Also: der Stil gefällt mir durch diese Kombination. Inhaltlich bin ich interessiert, die Rückblicke sind durchaus nicht langweilig. Ich bewundere die Konsequenz des Erzählers, weil er keinen Deal mit dem Überprüfer schließen will. Er hat ja auch Recht: Die 10 Monate schafft er im schlimmsten Fall auch noch. Dafür muss man sich selbst nicht verleugnen.

Wunderbar auch der bullige Zellengenosse Patrick. Man kann sich die beiden richtig gut vorstellen :)
Ergo: Ich bin nicht begeistert, aber auch nicht enttäuscht. Ich warte noch ab ;)
 

Literaturhexle

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...ich musste mich kaputt lachen über die Szene mit den Bibelstellen oder über die detaillierten Beschreibungen von Patricks Entleerungszeremonien:D gefällt Dir sowas nicht?
Es ist wirklich sehr gut formuliert, aber ich musste nicht mal ansatzweise lächeln...o_O
Mit Humor in Büchern hab ich es nunmal nicht so. Ich lese das irgendwie anders.
 

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Es ist wirklich sehr gut formuliert, aber ich musste nicht mal ansatzweise lächeln...o_O
Mit Humor in Büchern hab ich es nunmal nicht so. Ich lese das irgendwie anders.
...Das ist interessant. Genau das finde ich so spannend, dass wir alle das Gleiche lesen, dass wir es aber trotzdem alle durch andere Brille lesen. Das macht es ja so vielseitig und deshalb gibt es auch kein richtig und falsch.
 

Barbara62

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19. März 2020
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...ich musste mich kaputt lachen über die Szene mit den Bibelstellen oder über die detaillierten Beschreibungen von Patricks Entleerungszeremonien:D gefällt Dir sowas nicht?
Ja, das ging mir genauso. Herrlich auch die Szenen mit dem Pannenauto. Ich habe meinem Mann immer wieder einzelne Abschnitte vorgelesen und wir haben uns köstlich amüsiert.
 
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