Daniel, my Brother

Anjuta

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8. Januar 2016
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Diese Erzählung erscheint mir als sehr intensive und -meine Vermutung - auch sehr persönliche Erzählung des Autors. Die zentrale Figur hier ist ein Schriftsteller, der Jura studiert hat und in Amerika lebt. Eine ganze Reihe von Parallelen zu Schlink selber. Das Thema Abschied ist hier sehr präsent. Der große Bruder des Schriftstellers hat sich gemeinsam mit seiner Frau das Leben genommen. Mit der Trauer um den Bruder kommt auch das Bedürfnis, sein Verhältnis zum Bruder klären zu wollen. Warum war es nicht so eng, wie es hätte sein können? warum war die Zuneigung von beiden Seiten nicht so groß wie vielleicht gewollt? Warum war die gemeinsam verbrachte Zeit geringer als möglich? Fragen, die verschiedene Gefühle an die Oberfläche spülen und Abschied und Trauer als ein schweres inneres Ringen veranschaulichen. Ich empfand das als sehr ehrlich und nachvollziehbar. Wieder ein starkes Stück in diesem Erzählband!
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ich habe auch den Eindruck, dass hier ein Stück Autobiografie verarbeitet wird - zu ehrlich und intim sind die Gedanken des Autors. Eine sehr starke Geschichte!

Bereits am Anfang erfahren wir vom Bruder Chris und seiner kranken Frau Dina, die sich gemeinsam durch Kohlenstoffvergiftung das Leben genommen haben. Eine solche Tat ist für die Hinterbliebenen ein Schock, kein Wunder, dass auch der Ich-Erzähler intensiv darüber nachdenkt und vom Schmerz übermannt wird. Er sinniert darüber, wer hier wem einen Gefallen mit dem gemeinsamen Freitod getan hat, wann der richtige Zeitpunkt für einen solchen Schritt ist... Der Gedanke des "Nie Wieder" trifft ihn letztlich wie ein Schlag. (Das ist tatsächlich auch der Gedanke, der mich beim Abschied einer lieben Person am meisten trifft: nie wieder...)

Anschließend werden Erinnerungen an den 5 Jahre älteren Bruder geteilt. Chris hat drei Jahre bei einer Tante verbringen müssen, der guten Luft wegen. Als er zurückkommt, entwickeln die beiden Brüder liebevolle Rituale und pflegen ein enges Verhältnis, was sich altersgemäß später zum Leidwesen des Jüngeren lockert - 5 Jahre sind in einem bestimmten Lebensabschnitt eine ganze Welt.

Der Erzähler trauert aufrichtig um den Bruder. Elton Johns Lied "Daniel" wird zur Hymne der Trauer:
[zitat]Wenn er das weinen nicht verlernt hätte, hätte er geweint. Er sehnte sich oft danach zu weinen. Er sehnte sich danach, dass der schwarze See der Traurigkeit in seiner Brust in einem Strom von Tränen ausliefe. (S. 183)[/zitat]
An seiner namenlosen Freudin hat der Erzähler in dieser Phase eine verständnisvolle und trostspendende Partnerin.

Das Verhältnis der erwachsenen Brüder war nicht spannungsfrei, etwas war zwischen sie getreten. Davon berichtet der Erzähler in mehreren Episoden. Offensichtlich fühlte er sich vom Älteren häufig "beiläufig gedemütigt und zurückgewiesen", er empfand seine Leistungen, sein Leben als wenig anerkannt. Er sucht nach den Ursachen dafür, wägt ab, kann am Ende auch seinen Frieden mit dem Bruder machen. Diese Reflexionen und Stationen seiner Gefühlslage waren sehr empathisch, nachvollziehbar sowie sehr nah am Autor selbst geschildert, der stets schreibend verarbeitet: [zitat]Sein Schreiben war Flucht, er wusste es, und er wusste auch, dass er das Leben nur bestand, weil er es floh. (S.189)[/zitat]

Am Ende kann der Erzähler loslassen, er kann seine negativen Gefühle auflösen, er kann positive Bilder an deren Stelle setzen und vom Bruder Abschied nehmen.

Diese Geschichte ist in der Tat sehr stark im Ausdruck. Ich denke, man kann sie immer wieder zur Hand nehmen. Auch und gerade, wenn man selbst Abschied zu nehmen hat. Denn dann gilt es, sich auf das Positive zu besinnen, um loslassen zu können.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Ich habe auch den Eindruck, dass hier ein Stück Autobiografie verarbeitet wird - zu ehrlich und intim sind die Gedanken des Autors. Eine sehr starke Geschichte!
Dazu musste ich nun gleich googeln. Bernhard Schlink hatte tatsächlich einen 5 Jahre älteren Bruder, der Kunstgeschichte studiert hat und als Professor an verschiedenen Universitäten gearbeitet hat. Er ist 2018 gestorben.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Diese Geschichte hat mich wieder versöhnt mit dem Erzählband. Hier klingt alles sehr ehrlich und glaubwürdig. Dass man sein Verhältnis zu Geschwistern nochmals analysiert, wenn eines davon gestorben ist, ist normal. Auch wenn es ein gutes Verhältnis war, gibt es doch immer wieder irgendwelche Unterströmungen, Muster aus der Kinderzeit, die weiterleben.
 

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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auch sehr persönliche Erzählung des Autors
Das musste ich auch sofort und denken und @RuLekas Recherchen verhärten diesen Verdacht. Der Ton der Erzählung ist sehr persönlich, alle Gefühle authentisch, das Ringen um Erinnerungen, die weh tun, die Trauer, das Abschied nehmen von einem geliebten Menschen. Das kann man nicht schreiben, wenn man es nicht selbst durchlebt hat. Ein starkes Stück Prosa.
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Ich hatte ganz bewusst fast einen Tag Pause eingelegt. So kann ich jede Erzählung ganz besonders genießen. Eine Schachtel Trüffel esse ich ja auch nicht auf einmal.;)

Diese Erzählung berührt mich sehr und sie wird auch noch lange nachklingen, weil ich eine ähnliche persönliche Erfahrung machen musste und all die Phasen kenne, die Schlink beschreibt.

Sei ihm nicht böse, sagte seine Freundin zu ihm und genau das kann ich nachempfinden.

Ich kann mir auch nur vorstellen, dass hier viel Persönliches die Erzählung ausmacht. So intensiv, wie die Gefühle beschrieben werden und die Parallelen zu Wihelms Leben sichtbar werden, kann es gar nicht anders sein. Vielleicht ist diese Geschichte auch ein Teil seines Trauerprozesses
Erstaunlich wie nah Schlink seine Leser kommen lässt.

" Das Gedächtnis ist ein Fluss, der das Schiffchen der Erinnerungen, haben wir es einmal auf ihn gesetzt, fort- und fortträgt."
Wie wahr.
 

Literaturhexle

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Ich hatte ganz bewusst fast einen Tag Pause eingelegt. So kann ich jede Erzählung ganz besonders genießen. Eine Schachtel Trüffel esse ich ja auch nicht auf einmal.;)

Diese Erzählung berührt mich sehr und sie wird auch noch lange nachklingen, weil ich eine ähnliche persönliche Erfahrung machen musste und all die Phasen kenne, die Schlink beschreibt.

Sei ihm nicht böse, sagte seine Freundin zu ihm und genau das kann ich nachempfinden.

Ich kann mir auch nur vorstellen, dass hier viel Persönliches die Erzählung ausmacht. So intensiv, wie die Gefühle beschrieben werden und die Parallelen zu Wihelms Leben sichtbar werden, kann es gar nicht anders sein. Vielleicht ist diese Geschichte auch ein Teil seines Trauerprozesses
Erstaunlich wie nah Schlink seine Leser kommen lässt.

" Das Gedächtnis ist ein Fluss, der das Schiffchen der Erinnerungen, haben wir es einmal auf ihn gesetzt, fort- und fortträgt."
Wie wahr.
Genau dieses Zitat habe ich auch rausgeschrieben und ich kann nur alles von dir Gesagte bestätigen. Dieses Büchlein werde ich noch oft zur Hand nehmen.
 
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SuPro

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28. Oktober 2019
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Hier geht es um Trauerarbeit und um das Thema Suizid und darum, das Ende seines Lebens selbst zu bestimmen, wenn man sich mit einer neuen anstehenden Situation nicht konfrontieren möchte.
Es geht hier nicht um Suizidalität aufgrund einer psychischen Erkrankung.
Auch nicht um Bilanzsuizid im eigentlichen Sinn, sondern eben darum, ganz klar zu entscheiden, dass man sein Leben aufgrund bestimmter Tatsachen so nicht fortsetzen möchte.

Dann die Auseinandersetzung mit der Beziehung zum Bruder und der Blick hinter die Trauer. Dass es da auch noch Anderes gab als Liebevolles. Dass der Bruder sich nicht wirklich für ihn interessierte, oft zurückwies und ihn immer wieder demütigte.

Der Autor malt hier kein kitschiges und unehrliches Bild vom Abschied, sondern zeigt, dass so viele verschiedene Gefühle daran beteiligt sind: Traurigkeit, Enttäuschung, aber auch Zorn und Wut.

Mir gefällt die Beziehung zwischen dem jüngeren Bruder und seiner Freundin unglaublich gut. Er kann mit ihr über seine Gedanken und Gefühle sprechen und sich ihr anvertrauen. Sie wiederum ist sehr verständnisvoll. Wie schön ist das!

Wieder eine Geschichte mit unglaublich differenzierten und tiefgründigen Gedanken. Wieder eine Geschichte die ist wie ein Lehrstück. Dieses Mal ein Lehrstück zu gelungener Trauerarbeit.
Mir macht dieses Buch wahnsinnig viel Spaß. Schade, dass es bald zu Ende geht.
 

parden

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Ich kann mir auch nur vorstellen, dass hier viel Persönliches die Erzählung ausmacht. So intensiv, wie die Gefühle beschrieben werden und die Parallelen zu Wihelms Leben sichtbar werden, kann es gar nicht anders sein. Vielleicht ist diese Geschichte auch ein Teil seines Trauerprozesses. Erstaunlich wie nah Schlink seine Leser kommen lässt.
Vielleicht unterschätzt der Autor aber den Leser auch nur - nicht alle Geschichten können ja autobiografisch angehaucht sein, und womöglich glaubt er seine eigene Geschichte da gut versteckt unter den anderen... ;) Aber wir sind ja erprobte Leser*innen...
 

parden

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Ich sehe es genau wie alle anderen hier: diese Geschichte ist unbedingt stark autobiografisch geprägt. Die Einblicke in die Trauerarbeit des jüngeren Bruders wirken authentisch, greifbar, nachvollziehbar. Diesmal gibt es nichts Irritierendes, jeder, der schon um jemand Nahestehenden getrauert hat, wird sich ein wenig in der Erzählung wiederfinden. Für mich gehört diese Geschichte zu den besten im Buch...
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Okay, da ihr anderen ja scheinbar Schlink-erfahrener seid als ich: ohne eure Beiträge vorher gelesen zu haben, hatte ich bei der Geschichte auch instinktiv etwas autobiografisches vermutet. Fragt mich nicht, warum - es kam einfach gedanklich daherspaziert. Ich habe mich mit dem Leben von Bernhard Schlink noch nie befasst.
Aber die Geschichte ist ganz klar eines der Highlights. Ich bin fasziniert, wie es Herr Schlink schafft, pure Emotionen sprachlich elegant zu verpacken und sie so den Leser*innen noch näher zu bringen! :cool:
 

Sassenach123

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27. Dezember 2015
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Den Lobeshymnen kann ich mich nicht entziehen. :rolleyes:
Mir hat besonders gut gefallen, dass ich hier alle Gedanken und Gefühle sehr gut nachvollziehen konnte. Bei einigen anderen Erzählungen viel mir dies schwerer.
Schlink will mit diesem Band wohl nicht nur sein Talent unter Beweis stellen, vielleicht verarbeitet er tatsächlich selbst auf diesem Weg Erlebnisse.
Ich bin jedenfalls sehr angetan von dem Buch
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Es ist tragisch, wenn man einen nahen Menschen verliert. Und wenn dieser Selbstmord begangen hat, trauert man um den Menschen, aber irgendwie auch um die Zeit, die man noch gehabt hätte. Man kann die Trauer des Bruders gut nachvollziehen. Der Verlust, die Erinnerung und auch das sich lösen, die Akzeptanz.