Geschwistermusik

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Wieder eine sehr starke Geschichte, dieses Mal aus personaler Perspektive von Philip. Einem Musikwissenschaftler, der nach Jahren seine Jugendliebe zufällig wieder trifft und von ihr prompt nach Frankfurt eingeladen wird. Im Rückblick erfahren die Leser*innen von dem komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen Philip, Susanna und ihrem behinderten Bruder, der nach einem tragischen Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist. Philip war damals in Susanna verliebt, glaubt, ausgenutzt worden zu sein, da diese nur einen Freund für ihren Bruder gesucht habe, der Philip vereinnahmt. Ihm bleibt aus seiner Perspektive nur die Flucht in ein Austauschstipendium, ohne Abschied zu nehmen. Es stellt sich jedoch heraus, dass Susanna Philip,tatsächlich geliebt hat, zugunsten ihres Bruders, der inzwischen Demenz ist, jedoch auf ihn verzichtet hat. Geschwisterliebe oder schlechtes Gewissen - wieder das Thema Schuld. Susanna ist verantwortlich für die Verletzung ihres Bruders und trägt schwer daran, Philip nimmt am Ende nach einer gemeinsamen Nacht von ihr Abschied, ein Liebhaber will und kann er nicht werden.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Kompliziert ist dieses Beziehungsgeflecht wahrlich! Außerdem hat es gerade zwischen Philipp und Susanne Missverständnisse gegeben.
Mir gefällt der Aufbau der Geschichte: Sie beginnt und endet in der Gegenwart. In der Mitte gibt es einen langen Rückblick, der die Geschehnisse in der Gegenwart ergänzt.

Man kann den jungen Philipp verstehen, der bei Susannes Familie eine ganz neue Welt kennenlernt. Bei ihm zu Hause geht es viel kleinbürgerlicher zu. Er verliebt sich in Susanne, sie aber führt ihn dem behinderten Bruder zu. Erst am Ende +erfahren wir ihre Beweggründe dafür.

Hat Eduard in Philipp mehr gesehen als einen Freund? Ich empfand seine Idee, mit Philipp zusammenzuziehen schon als sehr einnehmend und fast übergriffig und kann verstehen, dass er davor Reißaus genommen hat - gerade als junger Mann! Philipp empfindet auch Schuldgefühle ihm gegenüber (S. 69). Das Gefühlschaos wird sehr nachvollziehbar beschrieben.

Bedeutsam auch die Mutter der Geschwister: Sie warnt Philipp sogar davor, sich selbst aufzugeben. Sie weiß um das Einnehmende ihrer Kinder und wohl auch über deren ungesunde Beziehung - auch wenn für sie die Ursache verborgen geblieben ist.

Mit der Schuld Susannes möchte ich nicht leben müssen. Es ist gewaltig, welche weitreichende Konsequenz der Zornausbruch in der Kindheit hatte, zumal sie sich offenbar niemandem anvertraut hat.

Irgendwie passt es zu Philipp, dass er die Rolle des Geliebten nicht einnehmen will. Man kann die Zeit nicht einfach zurückdrehen und alle Verletzungen ungeschehen machen.
 

Anjuta

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8. Januar 2016
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Essen
In dieser Geschichte geht es nicht um einen durch den Tod bedingten Abschied wie bei den ersten beiden. Hier geht es um ein abschiedsloses Verlassen mitten im Leben. Philipp Ist als junger Mann in eine komplizierte Freundschafts-/Liebesgeschichte eingebunden. Susanne, in die er verliebt ist, und Eduard, dessen Freundschaft ihm etwas unheimlich wird. So flieht er gruß- und abschiedslos nach Amerika. Doch Jahre später, zurück in Deutschland, treffen die Drei wieder aufeinander und es entsteht eine Situation, die den damals verpassten Abschied nachholen oder auch aufbrechen/ungeschehen machen könnte. Aber nein. Das geht eben nicht! Weder kann er nachgeholt werden, noch kann das Verlassen ungeschehen gemacht werden und so endet die Geschichte in einer Stimmung, von der wir wohl nicht wissen, wohin sie weiterträgt.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Erst am Ende +erfahren wir ihre Beweggründe dafür.
Ich hatte allerdings schon recht früh einen Verdacht in diese Richtung. Das Ungeklärte am Unfall gab gleich zu Beginn einen Hinweis dahingehend und als ich erfuhr, dass Susanne ihren Bruder bei sich aufnahm, lag die Vermutung nahe, dass sie Schuldgefühle hatte.
 

Bibliomarie

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Eine interessante Konstellation zwischen Susanne, Philipp und Eduard. Mir schwante schon sehr früh, dass Susanne etwas mit dem Sturz von der Klippe zu tun hatte und ich denke, sie wählte Philipp ganz bewusst aus um Eduard einen Freund zu schenken. Auch um den Preis, ihre eigenen Wünsche zurückzustellen. Ob sie allerdings als Abiturientin schon so reif war, das alles zu überblicken?

Ich kann jedenfalls nachvollziehen, dass Philipp nach Amerika geflüchtet ist. Die Mutter hat es sehr genau erkannt, er liebt Susanne und ist deswegen Eduards Freund (ich hoffe, es war nicht der einzige Grund) und bei Susanne sind es ähnliche Beweggründe.

Wie tragisch das Leben Eduards verlief - Demenz und im hintersten Winkel seines Verstandes vielleicht eine Ahnung um sein Schicksal,
 

Bibliomarie

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10. September 2015
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Hat Eduard in Philipp mehr gesehen als einen Freund? Ich empfand seine Idee, mit Philipp zusammenzuziehen schon als sehr einnehmend und fast übergriffig und kann verstehen, dass er davor Reißaus genommen hat - gerade als junger Mann!

Das mag ich gar nicht beurteilen, aber auf alle Fälle hat Philipp eine Welt außerhalb der geschützten Familie ermöglicht. Deshalb vielleicht auch sein Wunsch an einer normalen Uni zu studieren. Heute sicher auch noch schwierig für Rolli-Fahrer, aber damals wohl fast eine Unmöglichkeit.
 

SuPro

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28. Oktober 2019
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Welch bravouröse Geschichte!
Ich bin hin und weg.
Nach 50 Jahren trifft Philipp in einer Konzertpause seine ehemalige Klassenkameradin Susanne wieder.

Ein schon damals von allen bewundertes Mädchen.
Schön, klug und willensstark. Charmant und dominant.

Susanne möchte, dass er sich nach dem Konzert ihr, ihrem Mann und dem befreundeten Ehepaar anschließt.
Er ist durcheinander und Erinnerungen überfluten ihn.

Damals hat Susanne, Tochter aus reichem und extravagantem zu Hause, ihn „ Um den Finger gewickelt“.
Die Freundschaft mit Susanne und die Zeit in ihrer Familie brachte sein Leben ins Ungleichgewicht und verursachte innere Ambivalenzen:

Susanne sendete doppelte Botschaften aus.
Susanne spielte mit ihm.
Die neue Welt, die er kennenlernte eröffnete ihm Vieles und hemmte ihn gleichzeitig.
In Eduard fand er einen Freund, bei dem er sich wohl fühlte, der ihn aber gleichzeitig bedrängte.

Die Geschwister hatten es in sich und er konnte sich nur durch die Flucht nach Amerika vor ihnen und ihre Dominanz retten.

Was für ein sympathischer junger Mann Philipp war/ist! Respektvoll, rücksichtsvoll, feinfühlig und tiefgründig. Lesend und nähend ;-)

Hier lernen wir einen sympathischen Erzähler mit bewundernswertem Charakter kennen.

Damals war er von Susanne eingeschüchtert und insgesamt zurückhaltend und unsicher.
Damals war er nicht mutig genug um all seine Fragen zu stellen.

Heute wäre er mutig genug, aber Susanne beherrscht und lenkt das Gespräch im Restaurant.

Verständlicherweise ist Philipp damals von Susanne schwer enttäuscht gewesen.
Er hat alles als Berechnung und Manipulation interpretiert.
Das war es in gewisser Weise ja auch. Aber irgendwie kann ich Susanne auch verstehen.
Es waren Schuldgefühlen und Mitgefühl, die sie letztlich dazu angetrieben haben, ihren Bruder zu einem Freund zu verhelfen.
Und dass sie sich in Philipp nicht verliebt hat, kann man ihr ja nicht vorwerfen.
Was Susannes Mutter sagt ist richtig. Philipp hätte Susanne auch schon früher nach ihren Gefühlen fragen können.
Er hat das Gespräch vermieden, weil er Angst vor ihrer Antwort hatte. Aber gespürt hat er es wahrscheinlich schon viel früher. Und wenn man es von außen betrachtet, dann lag es sogar auf der Hand, dass sie kein wirkliches Interesse an ihm hatte.

Seiten später bewahrheitet sich, was ich insgeheim befürchtet habe. Susanne hat ihren Bruder damals von den Klippen gestoßen.
Dramatisch. Aber ihr Impuls und ihre Gefühle, die sie damals hatte waren so nachvollziehbar. Er hat seine Schwester so sehr geärgert und ihre geliebte Puppe weggeschmissen.
Sie hat ihn in diesem Moment gehasst und ihm den Tod gewünscht. Das sind völlig normale Gefühle und Gedanken. Jeder kennt das und doch wollen ist die allerwenigsten wirklich umsetzen.
Sie hat es keinesfalls real umsetzen wollen. Also böse und kaltblütig schätze ich sie nicht ein. Sie war einfach ein ganz normales Mädchen. Aber es ist passiert. Kein Wunder, dass sie Schuldgefühle hat, dass sie sich ein Liebesverbot auferlegt hat und dass sie sich zeitlebens verantwortlich für ihren Bruder fühlt. Eine tragische Geschichte!
 

SuPro

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Mit der Schuld Susannes möchte ich nicht leben müssen. Es ist gewaltig, welche weitreichende Konsequenz der Zornausbruch in der Kindheit hatte, zumal sie sich offenbar niemandem anvertraut hat.
... Ja. Das ist ganz furchtbar. Sie muss eine sehr stabile psychische Struktur haben, um das ein Leben lang durchzuhalten. Ich würde ihr eine warmherzige Analytikerin wünschen, die sie entlasten und die ihr helfen könnte, mit dieser Schuld zu leben, ohne sich dafür weiter zu kasteien... So dass sie innerlich freier werden kann.
 

SuPro

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Ich hatte allerdings schon recht früh einen Verdacht in diese Richtung. Das Ungeklärte am Unfall gab gleich zu Beginn einen Hinweis dahingehend und als ich erfuhr, dass Susanne ihren Bruder bei sich aufnahm, lag die Vermutung nahe, dass sie Schuldgefühle hatte.
... Mir kam dieser Verdacht auch zwischendurch. Aber dann dachte ich wieder, dass es auch Schuldgefühle anderen Ursprungs sein könnten. Im Sinne von „Schuldgefühle der Überlebenden“. Da müssen die Überlebenden ja nichts anderes „getan“ haben, außer zu überleben. Oder wie im vorliegenden Fall eben nicht so gravierend verletzt zu werden… Ich habe also immer hin und her geschwankt, was den Ursprung der Schuldgefühle, die bald schon offensichtlich wurden, betrifft.
 

SuPro

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Auch mir ist der Verdacht schon ganz am Anfang der Erzählung gekommen. Im kindlichen Zorn hat Susanne ihren Bruder verletzt. Ob die Mutter auch etwas ahnte?
Ich glaube nicht, dass die Mutter etwas geahnt hat. Und wenn, dann hat sie diese Ahnung in ihr tiefstes Inneres verdrängt. Was nicht sein darf ist nicht.
 

SuPro

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Es war sicher die beste und einzige Lösung für Philip, sich aus dieser bedrückenden Konstellation zu befreien. Ich habe das Buch gerade zu Ende gelesen und diese Geschichte hier ist mir etwas zu bemüht konstruiert.
Echt? Ich fand sie richtig toll! Der Autor hat die komplexen psychologischen Aspekte dermaßen gut eingewebt… Hut ab.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Mir gefällt die Tiefe von Schlink's Geschichten. Sie sind vordergründig leicht, offenbaren aber vor, zwischen und in den Zeilen zum Teil unglaubliche Geschichten in der Geschichte. Die innige Beziehung zwischen den Geschwistern kam mir auch relativ früh ziemlich spanisch vor. Selbst jetzt im Alter *hust* habe ich nicht so eine innige Beziehung zu meiner Schwester. Aber was Susanne ihr Leben lang auf sich genommen hat - Hut ab! Starke Story! :cool: