Ich bin ein kleines bisschen im Verzug. Habe ein bisschen später angefangen als Ihr. Und deshalb möchte ich erst meine Gedanken loswerden, bevor ich dann Eure Kommentare lese.
Der Roman beginnt interessant. Es ist eine Auseinandersetzung mit Abschied. Erst mal nur blitzlichtartig und dann ausführlich, als es um den Abschied von Andreas geht.
Wodurch nimmt man Abschied?
Beerdigung, den Toten ungeschönt sehen, die Zeit...
Wie unterschiedlich können Abschiede sein und wovon hängen sie ab?
Intensität und Frequenz der früheren Begegnungen…
Der Autor führt interessante Beispiele für Abschied auf: von Nachbarn, von der geschiedenen Frau, vom Freund Andreas.
Welches Geheimnis hat der Ich-Erzähler vor Andreas, das vielleicht eine Belastung für die Freundschaft gewesen wäre?
Dass der Tod von Andreas auch etwas Entlastendes hatte, kann ich nachvollziehen.
Es klingt zwar paradox, aber nach dem Tod war die Angst um die Freundschaft weg. Die Angst, die aufgrund des Geheimnisses da war.
Er blieb in Kontakt mit Andreas’ Tochter Lena. Ihren Wunsch, Einblick in die Stasi-Akte seines Vaters zu bekommen will der Erzähler ihr ausreden.
Würde das Geheimnis dadurch ans Tageslicht kommen und ihre Freundschaft dadurch postmortem Schaden nehmen oder zur Farce werden?
Seine Gedanken zum Thema Opfer bezüglich Lena sind ziemlich krass. (Seite 12/13)
Dass er schuld war am gescheiterten Fluchtversuch seines Freundes ist ebenfalls ziemlich krass. Vor allem, dass er seine Schuld verleugnet, seine Schuld- und Schamgefühle verdrängt und das Ganze bagatellisiert!
Der Ich-Erzähler wirkt dadurch selbstherrlich und egoistisch, also zumindest bekommt er bei mir diesen Touch. Nicht gerade sympathisch.
Die Nachricht, dass Lena Einsicht in seine und ihres Vaters Akten bekommen wird, bringt seinen bis dahin sicheren Boden ins Wanken. Er wird unruhig.
Gefühle und Fragen quälen und zermürben ihn.
Ich vermute jetzt mal, dass die bis dahin strikt abgeschotteten Schuld- und Schamgefühle beginnen, sich zu regen.
So wie sich ein Flaschengeist in einer Flasche zu regen beginnt. Seine Bewegungen und sein Toben bringen den Korken dazu, herauszuploppen. Der Flaschengeist ist frei! Die Schuld- und Schamgefühle werden bewusst.
Vielleicht sind es aber auch gar nicht die Schuld- und Schamgefühle oder zumindest nicht nur, vor denen er Angst hat. Vielleicht ist es schlicht die Angst vor Demütigung und davor, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu verlieren, weil er Jahre im Nachhinein als Stasi-Spitzel enttarnt werden könnte.
Empörend finde ich, wie der Ich-Erzähler die Realität verkehrt. Anstatt zu reflektieren und Schuld bei sich zu suchen und zu erkennen, gibt er Lena schuld. Sie werfe Dreck auf die Freundschaft zwischen ihm und Andreas.
Er malt sich im Voraus ihre Anklage aus (S. 26) und ich habe fast den Eindruck, dass sie recht damit hätte.
Ein bisschen fassungslos und empört lässt mich dieses Kapitel schon zurück. Der Ich-Erzähler macht es sich schon allzu leicht. Jetzt hat er also Abschied genommen von Andreas. Jetzt hat er also mit ihm geredet und ihm alles gestanden. Und der gutmütige Andreas hat natürlich alles verstanden und entschuldigt.
Ende gut. Alles gut. Nun kann der ich Erzähler also wieder mit ruhigem Gewissen weiterleben.
Wow! Der Roman beginnt unglaublich eindringlich, eindrücklich und spannend.
Ich freu mich auf alles was kommt.