Künstliche Intelligenz

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ich habe die erste Geschichte zwei Mal gelesen, da ich mich zunächst an die Sprache und die Story gewöhnen musste. Schon hier wird klar, dass Schlink kein Autor ist, den man verschlingt - sprich: ich muss Ruhe haben dafür. Vielleicht liegt es daran, dass es mein erstes Buch überhaupt ist, welches ich von Bernhard Schlink lese. Mir sind aber schon ein paar interessante Sätze aufgefallen, zu denen ich später noch was schreibe. :cool:
 

wal.li

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1. Mai 2014
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Den Beginn der Geschichte fand ich sehr gut, auch wenn ich finde, dass Beerdigungen zum Abschied nehmen dazu gehören. Dass der Erzähler seinen Freund so fies verraten hat, überraschte mich. Er hat sehr egoistisch gehandelt. Zwar hat sich für den Freund ein gutes Leben ergeben. Man weiß aber nicht, ob es noch besser gewesen wäre, wenn die Flucht geglückt wäre. Er macht es sich echt sehr leicht. Wenn er es schon nicht schafft, seinem Freund die Wahrheit zu sagen, hätte er wenigstens zu der Tochter ehrlich sein können. So biegt er sich einen guten Abschied zurecht.
 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Ihr habt schon viel gesagt - ich bin beeindruckt :D. Wie schon angemerkt, musste ich mich erst einlesen; dann fand ich die Geschichte beim Reread aber ein starkes Stück ausgefeilter Rhetorik über eine Schuldfrage, die den Ich-Erzähler Jahrzehnte seines Lebens begleitet. Auch wenn er für sich gesehen "alles richtig gemacht hat" - er hat ja trotz des Verrats an seiner "Freundschaft" festgehalten und die Hände über Andreas gehalten. Allerdings hat der Erzähler weder seinem Freund noch seiner Tochter viel "zugetraut". Das wird in den letzten drei Zeilen auf Seite 12 und dem ersten Abschnitt auf Seite 13 klar. Das Zitat ist mir jetzt zu lang zum tippen auf dem Smartphone :p:D.

Interessant fand ich die Aussage, dass Stasi-Akten von Verstorbenen nicht so einfach einzusehen sind; das wusste ich bisher nicht. Im Nachgang stimme ich euch zu, dass Lena sehr clever ist und das Ganze eine geschickt geplante Aktion war. Lächeln musste ich bei der Szene, als der Ich-Erzähler vor der "Richterin" Lena steht. Da musste ich spontan an die Szene im Leben von Franz Kafka denken, die ihn zum "Prozess" inspiriert hat. Nämlich als er in einem Berliner Hotel von seiner Schwester Ottla, Felice Bauer und einer dritten Person ins Gericht genommen wird, weil er sich nicht für eine feste Beziehung mit Felice "einsetzt" und statt dessen nur "rumeiert". :D
Mit Anlaufschwierigkeiten ein Einstand nach Maß!
 

SuPro

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28. Oktober 2019
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Baden Württemberg
lieslos.blog
Ich bin ein kleines bisschen im Verzug. Habe ein bisschen später angefangen als Ihr. Und deshalb möchte ich erst meine Gedanken loswerden, bevor ich dann Eure Kommentare lese.

Der Roman beginnt interessant. Es ist eine Auseinandersetzung mit Abschied. Erst mal nur blitzlichtartig und dann ausführlich, als es um den Abschied von Andreas geht.
Wodurch nimmt man Abschied?
Beerdigung, den Toten ungeschönt sehen, die Zeit...
Wie unterschiedlich können Abschiede sein und wovon hängen sie ab?
Intensität und Frequenz der früheren Begegnungen…
Der Autor führt interessante Beispiele für Abschied auf: von Nachbarn, von der geschiedenen Frau, vom Freund Andreas.

Welches Geheimnis hat der Ich-Erzähler vor Andreas, das vielleicht eine Belastung für die Freundschaft gewesen wäre?
Dass der Tod von Andreas auch etwas Entlastendes hatte, kann ich nachvollziehen.
Es klingt zwar paradox, aber nach dem Tod war die Angst um die Freundschaft weg. Die Angst, die aufgrund des Geheimnisses da war.

Er blieb in Kontakt mit Andreas’ Tochter Lena. Ihren Wunsch, Einblick in die Stasi-Akte seines Vaters zu bekommen will der Erzähler ihr ausreden.
Würde das Geheimnis dadurch ans Tageslicht kommen und ihre Freundschaft dadurch postmortem Schaden nehmen oder zur Farce werden?

Seine Gedanken zum Thema Opfer bezüglich Lena sind ziemlich krass. (Seite 12/13)

Dass er schuld war am gescheiterten Fluchtversuch seines Freundes ist ebenfalls ziemlich krass. Vor allem, dass er seine Schuld verleugnet, seine Schuld- und Schamgefühle verdrängt und das Ganze bagatellisiert!

Der Ich-Erzähler wirkt dadurch selbstherrlich und egoistisch, also zumindest bekommt er bei mir diesen Touch. Nicht gerade sympathisch.

Die Nachricht, dass Lena Einsicht in seine und ihres Vaters Akten bekommen wird, bringt seinen bis dahin sicheren Boden ins Wanken. Er wird unruhig.
Gefühle und Fragen quälen und zermürben ihn.
Ich vermute jetzt mal, dass die bis dahin strikt abgeschotteten Schuld- und Schamgefühle beginnen, sich zu regen.
So wie sich ein Flaschengeist in einer Flasche zu regen beginnt. Seine Bewegungen und sein Toben bringen den Korken dazu, herauszuploppen. Der Flaschengeist ist frei! Die Schuld- und Schamgefühle werden bewusst.

Vielleicht sind es aber auch gar nicht die Schuld- und Schamgefühle oder zumindest nicht nur, vor denen er Angst hat. Vielleicht ist es schlicht die Angst vor Demütigung und davor, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu verlieren, weil er Jahre im Nachhinein als Stasi-Spitzel enttarnt werden könnte.

Empörend finde ich, wie der Ich-Erzähler die Realität verkehrt. Anstatt zu reflektieren und Schuld bei sich zu suchen und zu erkennen, gibt er Lena schuld. Sie werfe Dreck auf die Freundschaft zwischen ihm und Andreas.
Er malt sich im Voraus ihre Anklage aus (S. 26) und ich habe fast den Eindruck, dass sie recht damit hätte.

Ein bisschen fassungslos und empört lässt mich dieses Kapitel schon zurück. Der Ich-Erzähler macht es sich schon allzu leicht. Jetzt hat er also Abschied genommen von Andreas. Jetzt hat er also mit ihm geredet und ihm alles gestanden. Und der gutmütige Andreas hat natürlich alles verstanden und entschuldigt.
Ende gut. Alles gut. Nun kann der ich Erzähler also wieder mit ruhigem Gewissen weiterleben.

Wow! Der Roman beginnt unglaublich eindringlich, eindrücklich und spannend.
Ich freu mich auf alles was kommt.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
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Der Roman beginnt interessant.
Es ist ein Geschichtenband ;) Aber das hast du beim Weiterlesen gewiss schon gemerkt.
Vielleicht sind es aber auch gar nicht die Schuld- und Schamgefühle oder zumindest nicht nur, vor denen er Angst hat. Vielleicht ist es schlicht die Angst vor Demütigung und davor, sein Gesicht in der Öffentlichkeit zu verlieren, weil er Jahre im Nachhinein als Stasi-Spitzel enttarnt werden könnte.
Das hast du wieder wunderbar dargelegt. Das ist die Kernfrage und beim Weiterlesen wurde mir auch zunehmend klarer, dass es dem Erzähler ausschließlich um sich selbst geht, dass er Angst vor Aufdeckung hat. Wäre Lena nicht, hätte er seine Schuldgefühle wohl getrost in der Flasche halten können.
 

Circlestones Books Blog

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28. Oktober 2018
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Wienerin auf Rügen
www.circlestonesbooks.blog
Es ist immer wieder wunderbar zu lesen, wir Bernhard Schlink in seiner leisen Art und manchmal beinahe wie nebenbei die Themen aufbaut. Ein Ich-Erzähler, der selbst jetzt noch, nach dem Tod seines Freundes, seine damalige Handlung schönreden kann, er hatte doch nur für alle das Beste gewollt, sie hatten es doch schön. Sehr gut gefällt mir, dass der Autor es offen lässt, was genau Lena in den beiden Akten gefunden hat und was sie tun wird.