Rezension Rezension (5/5*) zu Ich bleibe hier von Marco Balzano.

RuLeka

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30. Januar 2018
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Die Geschichte hinter dem Postkarten- Motiv

Wer kennt nicht den aus einem See herausragenden Kirchturm, der das Cover dieses Buches ziert?
Der Mailänder Autor Marco Balzano erzählt hier die Geschichte, die hinter diesem Postkarten- Motiv steht. Er erzählt sie aus der Perspektive der Ich- Erzählerin Trina, einer Frau aus dem kleinen Bergdorf Graun im Vinschgau.
Trina bereitet sich im Frühjahr 1923 auf ihre Reifeprüfung als Deutschlehrerin vor, ein schöner Erfolg für die Tochter eines einfachen Zimmermanns. Gemeinsam mit ihren Freundinnen Maja und Barbara erhält sie ihr Diplom. Allerdings ist bald klar, dass alle drei keine Anstellung bekommen werden. Mit der Machtergreifung Mussolinis ändert sich auch in Südtirol vieles.
„ Bis zum Marsch auf Bozen verlief das Leben in den Grenztälern im Rhythmus der Jahreszeiten. Es schien, als käme die Geschichte nicht bis hier herauf. Sie war ein Echo, das verhalte. Die Sprache war Deutsch, die Religion christlich, die Arbeit die auf dem Feld und im Stall.“
Mussolini verbietet die deutsche Sprache. Alles wird italianisiert, die Schilder an den Gaststätten, die Straßennamen, ja sogar die Inschriften auf den Gräbern. Immer mehr italienische Zuwanderer kommen in die Berge, halbe Analphabeten aus Sizilien werden als Lehrer an den Schulen eingesetzt.
Trina beschließt, heimlich Deutsch zu unterrichten, in den sogenannten Katakombenschulen, obwohl das mit hohen Strafen sanktioniert wird. Dann lernt sie Erich kennen. Er ist arm, hat nur einen ganz kleinen Hof, aber er ist ruhig und klug. Die beiden heiraten und bekommen zwei Kinder; einen Jungen, Michael, und vier Jahre später die Tochter Marica. An sie wird Trina später ihre Aufzeichnungen richten.
1939 unterzeichnen Hitler und Mussolini einen Vertrag, der der deutschsprachigen Bevölkerung Südtirols die Option anbot, „ heim ins Deutsche Reich“ zu kommen.
Die Dorfbewohner geraten in helle Aufregung. Die einen sind begeistert, träumen vom großen Bauernhof mit viel Viehbestand in einer fruchtbaren Gegend in Deutschland.
Diejenigen, die in ihrer alten Heimat bleiben wollen, werden als Verräter beschimpft. Ein Riss geht durch das Dorf, ja, durch ganze Familien . Erich und Trina wollen bleiben , aber Erichs Schwester und sein Schwager zieht es fort und auch Tochter Marica verschwindet in dieser Zeit. Ein Kummer, unter dem Erich und Trina zeitlebens leiden, der sie innerlich zerbrechen lässt.
Doch die Schicksalsschläge reißen nicht ab. Der Zweite Weltkrieg beginnt. Erich wird, wie viele Männer aus dem Dorf, eingezogen, um für Mussolini zu kämpfen. Sohn Michael wendet sich den Nazis zu, zum Entsetzen seiner Eltern. Trina sieht sich vor neue Herausforderungen gestellt. Gemeinsam mit ihrer Mutter kümmert sie sich um Haus und Hof. Erich kehrt zurück, als ihm aber die neuerliche Einberufung droht, dieses Mal soll er auf deutscher Seite kämpfen, flüchtet er gemeinsam mit seiner Frau in die Berge. Sie verstecken sich in Unterständen und auf Bauernhöfen.
Nach Kriegsende droht neues Unheil. Die Bauarbeiten für einen schon lange geplanten Stausee werden wieder aufgenommen. Die Dörfler, allen voran Erich, organisieren den Widerstand gegen das Projekt. Sie führen zahlreiche Gespräche, schreiben Gesuche an Politike, bis zum Papst schaffen sie es mit ihrem Anliegen. Doch aller Widerstand ist vergebens. Die Bauern werden zwangsenteignet, ihre Häuser gesprengt ; nur der denkmalgeschützte Kirchturm aus dem 14. Jahrhundert darf bleiben und ragt seitdem als Mahnmal aus dem See.
Trina und Erich wurde am Ende alles genommen: Am Anfang ihre Sprache und ihre Kultur, dann ihre beiden Kinder und zum Schluss ihre Heimat, ihr Hab und Gut.
Doch: „ Auch die Wunden, die nicht heilen, hören früher oder später zu bluten auf. Die Wut, sogar die über die erlittene Gewalt, ist wie alles bestimmt, nachzulassen,...“
Trina erinnert sich an einen Spruch ihrer Mutter. „ Niemand hat Zeit, stehen zu bleiben und um das zu trauern, was gewesen ist,...Vorwärts gehen, wie Mutter zu sagen pflegte, das ist die einzige Richtung, die erlaubt ist. Sonst hätte Gott uns die Augen seitlich gemacht. Wie den Fischen.“
Marco Balzano erzählt uns in einer einfachen und doch ausdrucksstarken Sprache (passend zur Ich- Erzählerin) die wechselvolle Geschichte des Dorfes Graun in Südtirol. Dabei veranschaulicht er dem Leser, welch starken Einfluss politische Geschehnisse auf das Leben einfacher Menschen haben. So wird Historie lebendig und nachvollziehbar. Balzano berührt, ohne sentimental zu werden.
„ Ich bleibe hier“ ist ein wunderbarer Roman mit komplexen Charakteren, der unterhält und belehrt. Jedem Südtirol- Reisenden ist die Lektüre des Buches zu empfehlen. Lesenswert ist auch der Nachtrag des Autors, in dem er seine Motive zum Schreiben dieses Buches darlegt. Für die Südtiroler ist der Roman des Mailänders Balzano eine kleine Wiedergutmachung.
Marco Balzano hat mich schon mit seinem letzten Roman „ Das Leben wartet nicht“ begeistert und auch hier nicht enttäuscht.
Von mir gibt es eine klare Leseempfehlung für das Buch.