Rezension Rezension (5/5*) zu Jägerin und Sammlerin: Roman von Lana Lux.

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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Jagen und Sammeln


Alisa steht kurz vor dem Abitur. Sie teilt sich eine Wohnung mit Mascha, hat gute Noten, mehrere Nebenjobs. Kleine Dinge bereiten ihr Freude, sie sammelt, Kakteen, Perlen, Kuscheltiere. Aber Alisa ist kein glückliches Mädchen. Sie hasst ihren Körper, bei jeder Situation, die sie überfordert, beginnt sie unkontrolliert zu essen und alles wieder zu erbrechen. Darauf folgen Verzweiflung und Selbstvorwürfe, weitere Überforderung, ein ewiger Kreislauf. Auf ihre Freundin Mascha kann sie nicht zählen, die hat ihre eigenen Schwierigkeiten mit einer Essstörung. Alisa findet eine neue Freundin – Mia – kurz für Bulimia nervosa. Mia hat Alisa voll im Griff, hält sie aufrecht, ist immer für sie da. Alisas Mutter Tanya sieht nicht was mit ihrer Tochter vorgeht, verleugnet die Situation, ist immer nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Tanya ist die geborene Jägerin, immer auf der Jagd nach mehr Anerkennung, Erfolg, Schönheit.

Lana Lux verhandelt in ihrem Roman „Jägern und Sammlerin“ ein toxisches Mutter-Tochter-Verhältnis. Dabei ist sie wertfrei, empathisch und bringt mir die Protagonistin Alisa sehr nahe.
Es sind schwierige Verhältnisse, in die Alisa geboren wurde. Alisa konnte schon als kleines Kind nie den Ansprüchen der Mutter genügen. Die Familie, die aus der Ukraine nach Deutschland emigriert ist, findet in der neuen Heimat keinen Anschluss. Der Vater, wesentlich älter als die Mutter, war in der Ukraine ein erfolgreicher Geschäftsmann und hat für Tanya und Alisa seine Frau und ältere Tochter verlassen. Nun kann er keine Arbeit finden, will die neue Sprache nicht lernen. In Alisas Kindheitserinnerungen hört sie die Mutter immer nur fordern, streiten, schreien. Der Vater resigniert solange, bis er allein in die Ukraine zurückkehrt. Statt der Tochter eine liebevolle Stütze zu geben, beansprucht Tanya Alisa immer wieder Alisas Unterstützung und Trost. Das Mädchen, später der Teenager, die junge Frau begreift noch nicht, dass sie sich aus dieser Situation lösen muss, um zu überleben.

„Ich weiß nicht mehr was real ist. Alles ist irreal. Alles ist real. Ich verstehe die Welt überhaupt nicht, oder ich bin ganz nahe dran, sie voll und ganz zu verstehen, Ich schwanke zwischen diesen Zuständen.“

Alisa erreicht einen Punkt, wo sie begreift, dass sie so nicht mehr weiter machen kann. Sie erkennt den Tiefpunkt ihres Lebens, wird ihn später mit Datum und Uhrzeit nennen können.

„Ein Tiefpunkt ist jedoch kein Todeszeitpunkt, denn anders als zu einem Todeszeitpunkt ist an einem Tiefpunkt noch nichts entschieden. Noch nicht einmal, ob er wirklich der endgültige Tiefpunkt ist. Ein Tiefpunkt kann außerdem lange andauern, bis er zu einem exakten Todeszeitpunkt wird. Mir war klar, dass ich nur noch wenige Monate hatte, bevor ich obdachlos werden und einsam auf der Straße sterben würde.“

Alisa schafft den wichtigsten Schritt ihres jungen Lebens, den Schritt in die Therapie. Herzstück dieses Buches wird ein Brief sein, den Alisa ihrer Mutter Tanya schreibt. Ein Brief, der die letzte Kontaktaufnahme zu Tanya wird.

„Du bist nicht schuld.“ schreibt Alisa. „Aber du bist mir auch keine Hilfe gewesen, du hast mich nicht in meiner Not gesehen, du hast mir nicht die Hilfe zukommen lassen, die ich gebraucht habe.“

Selbst in diesem Moment kann Tanya nicht die Not ihrer Tochter erkennen, sieht sich selbst in einer Opferrolle, verharrt in ihrem „Tanya-Universum“, in dem sich alles nur um sie dreht.

Das Beste für sich und seine Kinder zu wünschen ist nicht verkehrt. Doch wer immer nur das Beste im Auge hat, kann das Unglück anderer nicht sehen. Lana Lux widmet sich der kaputten Mutter-Tochter-Beziehung mit einer Eindringlichkeit die schmerzt.



 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Lana Lux scheint sich gerne extremer Themen anzunehmen. Aber offensichtlich macht sie das gut!
Danke für die Rezension, dank der ich nun weiß, worum es geht im Buch.
 

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