Rezension Rezension (5/5*) zu Eine Frau in New York von Vivian Gornick.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Buchinformationen und Rezensionen zu Eine Frau in New York von Vivian Gornick
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Die Seele spiegelt sich in der Stadt spiegelt sich in der Seele

Dies ist weder Roman noch klassische Biografie, geschweige denn Bekenntnisliteratur oder Seelenstriptease. Das Buch wirkt über Genregrenzen hinweg, getragen von der starken Persönlichkeit einer außergewöhnlichen Frau.

Es vereint zahlreiche Momentaufnahmen aus dem Leben und den Gedanken der Autorin zu einem losen Konglomerat, bar jeder Einordnung in einen starren Handlungsablauf. Der Bewusstseinsstrom erinnert meines Erachtens mal an Joyce, mal an Woolf, ist letztlich jedoch pur Vivian Gornick.

Die Stadt ist dabei nicht nur Kulisse und Staffage.
Nirgendwo sonst als in ihrem ganz speziellen Ambiente hätte dieses Buch entstehen können. Ich schlendere quasi mit meiner guten Freundin Vivian durch New York, und sie erzählt mir dies oder jenes, was ihr gerade einfällt, scheinbar wahllose Erinnerungsfetzen.

Zwischendurch wird die Unterhaltung intimer, dann springt sie wieder zu einem weniger persönlichen Thema… Dies wirkt vielleicht zunächst wie eine beiläufige Plauderei, entpuppt sich jedoch schnell als keineswegs belanglos. Schöne, starke Sätze, über die sich das Nachdenken lohnt, enthüllen das Bild einer Frau, die hochintelligent, gebildet und selbstbewusst ist.

Vielen dieser Sätze spüre ich erstmal ein Weilchen nach, bevor der Spaziergang weitergehen kann.
So fand ich zum Beispiel ihre Gedanken zum Wesen der Freundschaft einerseits und dem Wandel der Erwartungen an die Freundschaft andererseits sehr interessant. Aber es gibt auch Passagen voller Humor, die runtergehen wie warme Butter, und solche mit großartigem Biss, die ich mit diebischer Freude las.

Sehr oft drehen sich ihre Gedanken um Kultur und Literatur. Verschiedene Schriftsteller spielen eine Rolle, werden zitiert, versinken wieder im Fluss der Unterhaltung. Auch zum Feminismus gibt es natürlich einige Überlegungen – das lädt dazu ein, vieles nachzuschlagen, um mehr zu erfahren.

Aber natürlich spricht Vivian nicht mit mir, sondern mit Leonard, mit dem sie eine einzigartige Freundschaft verbindet.
Obwohl beide nichts mehr schätzen als ihre Gespräche, können sie sich nicht allzu oft treffen. Zu sehr ermüden sie sich gegenseitig mit ihrem in Sarkasmus verhülltem Weltschmerz. Zu massiv stürzt ihr hochintelligenter Schlagabtausch sie in depressive Verstimmung. Dennoch ist ihnen ihre Freundschaft diesen Preis wert.

“In Wahrheit sind wir zwei einsame Reisende, die durch die Landschaft ihres Lebens stolpern und sich gelegentlich an den äußeren Rändern verabreden, um Grenzberichte zu erstatten.”

Vivian Gornick ist eine echte Grande Dame, die sich mitnichten in süßlicher Nostalgie ergeht.
Ich musste mir immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie im Jahr 1935 geboren wurde.

Vor allem, was Emanzipation und Selbstwahrnehmung als Frau angeht, war sie ihrer Zeit weit voraus. Heute wächst man als Frau mit einer gewissen feministischen Grundausstattung auf; auch wenn man sich selber nicht als Feministin begreift, hat man das Wissen über Emanzipation und sexuelle Selbstbestimmung doch im Hinterkopf. Zu Vivians Zeiten war das noch nicht so, daher musste sie sich vieles selber erst erarbeiten.

Sie ist eine kluge Frau, und sie weiß es. Sie beobachtet genauer, sie hinterfragt mehr, und auch das ist ihr bewusst. Manchmal mag sie vielleicht besserwisserisch wirken, weil sie das nicht versteckt, aber es ist eine echte Leistung als Frau dieser Generation, sich das Recht dazu einzufordern.

Man muss und kann Vivian nicht immer mögen, aber das ist sicher auch nicht ihr Anliegen.
Es ist wundervoll, wie viel Bedeutung sie in alltäglichen Zufalls-Begegnungen auf der Straße findet. Da spielt gar keine Rolle mehr, was ich eigentlich gerade lese – ob Autobiographie, Sammlung von philosophischen Essays oder Lobgesang des urbanen Lebens, in meinen Augen lohnt es sich so oder so.

“Eine Sache oder auch alle gut zu machen, hätte bedeutet, sich leichtsinnig auf das Leben einzulassen – es mehr zu lieben als meine Ängste –, und das ging einfach nicht.”

Fazit

Vivian Gornick, Jahrgang 1935, lässt den Leser ganz ohne Erinnerungskitsch teilhaben an ihren vielfältigen Erfahrungen. Man sollte sich schnell von dem Gedanken verabschieden, hier eine Handlung von A bis Z vorzufinden – oder überhaupt jegliche Art von Struktur.

Da geht es um Literatur und Gesellschaft, das postmoderne urbane Leben in all seinen Facetten, den Feminismus, dessen Vorstreiterin sie war. Sie lebt von Gesprächen mit Freunden und Begegnungen mit Fremden, zieht Energie aus dem stetigen Wandel ihrer Stadt, New York.

Da ist alles im Fluss, von Alterssteifigkeit nicht die geringste Spur. Ich bin Vivian Gornick sehr gerne gefolgt auf ihren ziellosen, jedoch niemals sinnlosen Wanderungen durch die Stadt.

 
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