Rezension Rezension (5/5*) zu Die Zeuginnen: Roman von Margaret Atwood.

Emswashed

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9. Mai 2020
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Das Ende einer Bilderflut im Kopf

Liebe Atwood-Fan-Gemeinde, liebe Dystopie-Anhänger!

Lasst mich heute ein wenig bös mit euch sein, glaubt mir, es trifft auch mich! Ich schätze euch für euren Spürsinn für gute Literatur und bewundere eure Standhaftigkeit über viele Jahre hinweg. Darf ich aber der Aussage der Person eurer Aufmerksamkeit glauben schenken, so ward ihr es, die sie mit Fragen bedrängt, mit Vorschlägen überschüttet und letztendlich zur Fortsetzung von "Der Report der Magd" genötigt habt. Euer Anliegen hatte durchaus seine Berechtigung, schließlich wollen wir alle einen akzeptablen Abschluss, einen Hoffnungsschimmer, dass alles gut wird.

Auch Frau Atwood musste sich viele Jahre mit dem Gedanken rumschlagen, dass nicht jeder gewillt ist, seinen eigenen kleinen Plot im Kopf zu konstruieren und auch dort zu behalten. So begab sie sich an die schwere Aufgabe, einen Weltbestseller nach 35 Jahren auf den neuesten Stand zu bringen, die Fäden in die Hand zu nehmen und vielleicht ein Bild zu knüpfen, welches nicht gänzlich auf ihrem eigenen Mist gewachsen, welches nicht wieder und wieder in ihrem genialen Hirn durchgekaut worden ist und schätzungsweise mit zuviel Erwartungs- und Zeitdruck unfertig das Licht der Welt erblickte.

Denn anders kann ich mir insbesondere die zweite Hälfte von "Die Zeuginnen" nicht erklären. Natürlich überzeugt die großartige Schriftstellerin auch in diesem Buch mit ihrer Stilsicherheit, die den Fortgang der Geschichte in Form von Zeugenaussagen, celebriert. Wird dem Leser doch sofort klar, wenn es Zeugen gibt, gibt es auch Richter, die eine Tat verurteilen. Geschickt lässt Atwood diesesmal die Tanten in den Vordergrund treten, die beim Vorgänger noch fast ausnahmslos die undurchdringliche Wand hin zur Gerechtigkeit darstellten und jetzt mit mehr Fascetten auftreten durften. Auch wird noch einmal klar und deutlich die Perfidität des Gottesstaates resümiert, aber auch erste Lücken und Brüche in der Ausweglosigkeit.

Das Zusammenspiel der Apostaten Gileads und der kanadischen Fluchthelfer war auch durchaus glaubhaft und raffiniert. Nur das Endspiel mit der kleinen Nicole, die erst nicht wusste, wer sie war, dann aber doch gleich sogar ein Geschwist bekommt und dann der Oberhammer, wie Becky in einem Nebenabsatz den Abgang macht, nachdem sie eine wichtige Figur im Fluchtplan war.... das war nicht atwood-like!! Das wirkte auf mich befremdlich, das hat mich stark irritiert. Eine actionreiche Flucht, in der alles in letzter Sekunde fluppt und Mädchen zu Kampfmaschinen werden, da fehlte mir die Ruhe und Gelassenheit einer Frau, die mich immer gut und sicher durch ihre Geschichten geführt hat.

Trotzdem bin ich dankbar für dieses Buch, dankbar, dass Atwood noch lebt und uns weiterhin mit ihrer Lebensweisheit beglückt. Alles Rumgemeckere von mir, schreibe ich dem bösen, bösen Literaturbetrieb zu und lässt mich weiterhin ein Fan bleiben. Die Zeuginnen sind trotz allem lesenswert, doch sollte man den Report der Magd kennen (sonst fehlt die Genugtuung, der Balsam auf der Feministenseele).

 

MRO1975

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11. August 2018
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Du hast völlig Recht. Den Report der Magd sollte man auf jeden Fall vorher gelesen haben, sonst versteht man das Buch nicht.

Der Stil ist tatsächlich anders. Böse Zungen würden behaupten, Atwood hat beim Schreiben gleich an die Verfilmung und das Drehbuch gedacht. ;) Mit hat es trotzdem sehr gut gefallen.