Rezension Rezension (5/5*) zu Morenga: Roman von Uwe Timm.

Emswashed

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9. Mai 2020
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Buchinformationen und Rezensionen zu Morenga: Roman von Uwe Timm
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"Damit ihr und wir Menschen bleiben können."

... das sagt Morenga in dem Roman von Uwe Timm.

Der anklagende Finger für die Schrecken der Kolonialgeschichte zeigt auf Deutschland, Anfang des 20. Jahrhunderts, als sie beschlossen den Aufstand der Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) niederzuschlagen. Und wenn ich Timms Morenga lese, wird mir klar: das sowas von sowas kommt! (frei nach Nenas 99 Luftballons)

Virtuos, vielschichtig und vielleicht ab und zu mit einem Augenzwinkern, versteht es der Autor, die Kluft zwischen wortlosem Schrecken und einer Hommage an einen schlauen Kämpfer aus der Kalahari Wüste zu überbrücken.

1904 beginnen die Aufstände der Einheimischen in den Schutzgebieten (ein "nettes" Verschleierungswort für Kolonie) und Deutschland entsendet Truppen ins ferne Afrika, um mit Disziplin und Dienstvorschriften das Hottentottenland in die Zivilisation zu schießen. Rücksichtlos und wenig human, gehen sie dabei mit der Bevölkerung um. Gefangennahme und Dezimierung, ist eine vorsichtige Umschreibung der Gräueltaten in den Konzentrationslagern, die nur eine Umzäunung unter freiem Himmel sind, in denen Männer, Frauen und Kinder ausgehungert werden.

Doch die Truppen haben wenig Erfolg und bekommen die Aufständischen mit ihrer Guerillataktik selten zu Gesicht. Morenga, einer der Anführer, gewitzt und gut ausgebildet, zeigt den Deutschen, dass hier keine Schlacht mit dem Lehrbuch gewonnen werden kann.

Die Hauptfigur des Romans ist der Veterinär Gottschalk, der sich mit der Versetzung in dieses Land eine kurze Schlacht und anschließend eine weitläufige Farm mit Familie und Personal erträumt. Voller Enthusiasmus und Erfindergeist interessieren ihn schon bald Land und Leute. Er beginnt die Sprache der Nama zu lernen, ändert seine Einstellung zum Krieg und wird durch die Lektüre eines anarchistischen Buches angstiftet, Fluchtpläne zu schmieden.

Gottschalk führt uns also durch die Truppenbewegungen und Vorgänge im Krieg der Deutschen gegen die Herero und Nama. Dabei dürfen wir seine Entwicklung vom pflichtbewussten Träumer zum verzweifelten Menschenfreund miterleben. Immer wieder geht Timm aber auch in der Geschichte zurück und erzählt von den Menschen, die davor nach Namibia kamen, zeigt ihre Absichten, entweder den Eingeborenen den "wahren" Glauben näherzubringen, ihnen das Land abzukaufen, oder mit ihnen Handel zu treiben, bevorzugt Branntwein, Rindfleisch und Straußenfedern. Wir sehen aber auch Pläne scheitern, Träume platzen und Vorsätze in Vergessenheit geraten. Die Protagonisten dieser Einschübe bleiben dem Roman dann auch bis zum Ende treu und so begegnen wir den Nachfahren der Rinder, die immer noch den Weg zum Aschehaufen des größten Branntweinfasses, das Afrika je gesehen hat, kennen.

So vermischen sich märchenanmutende Legenden mit den dokumentierten Widerlichkeiten, der Verbrechen der Deutschen im Namen der Entwicklung und des Fortschritts und den Vorwehen für die kommende Anmaßung der Weltherrschaft.

Es scheint nicht Timms Absicht gewesen zu sein, eine Anklageschrift zu verfassen. Er hat vielmehr mit Umsicht alle Umstände zusammengefasst, die diese Geschichte vorangetrieben, die diesen Ausgang geprägt haben. Jedem dürfte klar sein, wer hier wem Unrecht getan, wer verblendet und übergriffig war. Trotzdem lässt er alle Menschen Mensch sein und treffender hätte es Morenga (siehe Zitat) nicht sagen können.