Rezension Rezension (4/5*) zu Giovannis Zimmer: Roman von James Baldwin.

Renie

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19. Mai 2014
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Homosexualität in den 50ern

Der US-Amerikaner James Baldwin galt in seinem Land als einer der bedeutendsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Durch die sozialkritischen Themen, die er in seinen Büchern anpackte, wurde er zur Ikone der Gleichberechtigung stilisiert - so liest es sich zumindest in dem Klappentext zu seinem wohl berühmtesten Werk "Giovannis Zimmer", das bei seinem Erscheinen 1956 für Aufruhr und Empörung bei den Kritikern sorgte.
Zwei Aspekte ließen die Gemüter hochkochen: Zum Einen geht es in Giovannis Zimmer um das Thema "Homosexualität" (homosexuelle Handlungen waren in vielen Staaten der USA bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts illegal); zum Anderen "erdreistete" sich ein Farbiger, über das Gefühls- und Sexualleben von Weißen zu schreiben - denn Baldwins Protagonisten in "Giovannis Zimmer" sind weiß. Dies setzte dem umstrittenen Thema "Homosexualität" natürlich noch einen drauf.

Die Handlung dieses Romans findet im Paris der 50er Jahre statt. Hier begegnen wir dem Amerikaner David, Sohn und ewiger Student, der seinen Vater davon überzeugen konnte, seinem Filius ein Auslandsjahr in Frankreich zu finanzieren. Vermutlich wurden aus einem Jahr mehrere, denn David ist mittlerweile Anfang 30 und sein Vater finanziert ihn immer noch. David genießt das Leben und das ganz besondere Flair der Stadt der Liebe. Insbesondere das Nachtleben hat es ihm angetan. Über einen schwulen Freund, lernt er Giovanni kennen, der in einer Bar arbeitet, die beliebter Treffpunkt der Pariser Schwulenszene ist. Zunächst fühlt sich David nicht zu der Szene dazugehörig, bestenfalls amüsiert ihn die schillernde Gesellschaft. Doch nachdem er Giovanni kennenlernt, wird alles anders. Schnell unterliegt David dem charismatischen Charme Giovannis. Die beiden lassen sich auf eine zerstörerische Liebesbeziehung ein und das Verhängnis nimmt seinen Lauf. Denn das die Geschichte der Beiden nicht gut ausgehen wird, wissen wir schon mit den ersten Seiten, in denen der Ich-Erzähler David in der Retroperspektive auf seine Zeit in Paris zurückblickt.

David ist ein Kind seiner Zeit, der die Moralvorstellungen, mit denen er in den USA aufgewachsen ist, nicht ablegen kann. Die Beziehung zu Giovanni stürzt ihn in ein moralisches Dilemma. Es fällt ihm schwer, sich zu seiner Homosexualität zu bekennen, die er bestenfalls als sexuelle Experimentierfreude abtut. Das Leugnen seiner Sexualität belastet die Beziehung der beiden Männer. David ist Giovanni gegenüber zwar nicht aufrichtig, was seine innere Zerrissenheit angeht. Dennoch ahnt Giovanni, dass David ihm entgleiten wird.

David will sich beweisen, dass seine Beziehung zu Giovanni nur ein sexuelles Abenteuer war und er eigentlich "normal" ist. Daher versucht er beim weiblichen Geschlecht seinen Mann zu stehen. "Giovannis Zimmer" ist ein Männer-Roman. Bis auf zwei Ausnahmen sind die Protagonisten männlichen Geschlechts, womit wir bei einem Aspekt dieses Romans angekommen sind, den ich als sehr fragwürdig empfunden habe. Es ist nicht die geringe Anzahl der weiblichen Protagonisten, die mich gestört hat, sondern die Art und Weise, wie Baldwin die Frauen in seinem Buch gestaltet hat. "Seine" Frauen haben einzig und allein die Bestimmung, dem Mann zu gefallen, ihm Kinder zu gebären und für sein Wohlbefinden zu sorgen. Und keine der Frauen in Giovannis Zimmer stellt diese Bestimmung in Frage. Ganz im Gegenteil, sie erachten diese Rolle als erstrebenswert und alleiniges Ziel in ihrem Leben. Dieses Frauenbild, das Baldwin hier vermittelt, hat mich sehr geärgert. Es mag den Zeitgeist der 50er Jahre widerspiegeln. Doch gerade von einem intellektuellen Schriftsteller, der als Farbiger selbst mit Diskriminierung konfrontiert worden ist und für sein Engagement in der Bürgerrechtsbewegung bekannt war, hätte ich ein differenzierteres Frauenbild erwartet.

Trotz meines Ärgers muss ich Baldwin eines bescheinigen: er hatte eine unglaubliche Fähigkeit, mit Worten umzugehen. Ich habe bereits einige seiner Bücher gelesen. Und mittlerweile glaube ich, dass der Mann ein Besessener war, der sich von der Gefühlswelt seiner Protagonisten komplett vereinnahmen ließ. Baldwin scheint die Handlung von "Giovannis Zimmer" selbst zu leben. Dies vermittelt zumindest sein Sprachstil. Die innere Zerrissenheit von David ist körperlich spürbar. Die Gefühle, die David beschäftigen, werden von Baldwin in Worte gekleidet, die der Handlung eine unglaubliche Sogwirkung verleiht, aus der man als Leser bis zum Ende des Buches nicht herauskommt.

Fazit:
Allein der Sprachstil macht einen Roman von Baldwin immer zu etwas Besonderem - Frauenbild hin oder her.
Leseempfehlung!

 
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