Rezension Rezension (5/5*) zu Da sind wir: Roman von Graham Swift.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Eine magische Dreiecksgeschichte virtuos erzählt

Eine typische Seebadshow im Ferienort Brighton in den 1950er Jahren. Conferencier Jack führt durch das Programm. Der Höhepunkt ist der Auftritt von Ronnie und Evie. Gemeinsam haben sie eine extrem erfolgreiche Saison hinter sich. In der letzten Vorführung geschieht jedoch etwas Unvorhersehbares, in dessen Folge Ronnie als vermisst gilt…

Was ist Ronnie passiert? Diese Spannung kolportiert Swift bereits in den ersten Seiten seines Romans. Diese letzte Aufführung bildet den Rahmen, dazwischen wird aus verschiedenen Erzählperspektiven berichtet. Im Zentrum steht dabei Ronnie, der die ersten acht Jahre seines Lebens in armen Verhältnissen in Bethnal Green lebte. Mit Beginn des Krieges wird er zusammen mit anderen Kindern aufs Land nach Oxfordshire geschickt. Ihn trifft es gut, er kommt nach Evergrene zum Ehepaar Lawrence, wo er eine wunderschöne zweite Kindheit verlebt und wo die Grundlagen für seinen späteren Broterwerb gelegt werden. Die Leidenschaft zur Zauberei findet hier ihren Anfang. Swift gelingt es hervorragend, die ambivalenten Gefühle des jungen Ronnie in Worte zu kleiden, der die Jahre in Evergrene genießt, jedoch seinen leiblichen Eltern gegenüber auch ein schlechtes Gewissen hat. „Ronnie mochte Penny mit der Zeit immer mehr – und er begann zu verstehen, wie Eric Lawrence sie mochte. Ronnie mochte auch Eric. Manchmal fragte er sich, aber das ließ er schnell wieder, was seine Mutter denken würde, wenn sie ihn mit Penny Lawrence im Gespräch sehen könnte.“ (S. 40)

Ronnie hat das Gefühl sein Leben eingetauscht zu haben. Doch der Krieg geht vorbei und er muss zurück nach London. Das Verhältnis zu seiner Mutter bleibt schwierig: Wie kann man von einer verhärmten, bombengebeutelten Frau erwarten, dass sie Verständnis für die Zauberei aufbringt? Wie kann man nach Bildungsjahren bei den großherzigen Lawrences wieder in die enge Welt der Ursprungsfamilie hineinfinden? Ronnie kann die Situation unglaublich gut analysieren: „Er hingegen sehnte sich nach den Lawrences und allem, was er jetzt nicht mehr hatte. Das verstand sie nicht, und hätte sie es verstanden, hätte sie kein Mitgefühl gehabt. Aber sie wusste, dass er ein anderes Zuhause gefunden hatte, ein anderes, besseres Leben. (…) All das war ihm bewusst. Er hatte ihr das angetan. Aber er war lediglich als Unschuldiger in eine große historische Notsituation hineingeraten.“ (S. 53)

Ronnie geht seinen Weg. Als sein alter Kumpel Jack ihm ein Engagement in Brighton anbietet, scheint es aufwärts zu gehen. Zuvor sucht er sich noch eine Assistentin. Ronnie findet Eve, beide empfinden sich als Glücksfall, sie verloben sich schnell und planen die Hochzeit am Saisonende.

Zahlreiche Rückblicke zu Stationen ihres Lebens bringen uns Ronnie, aber auch Evie und Jack näher, die schon in der Kindheit von ihren ehrgeizigen Müttern für eine Bühnenkarriere abgerichtet wurden. Aus einer kameradschaftlichen Freundschaft entwickelt sich schließlich eine Dreiecksbeziehung, aus der einer als Verlierer hervorgehen muss. Wir nehmen intensiv teil an den Leben der Protagonisten, die geprägt sind von wechselhaften Erfahrungen und Erlebnissen, von Verlusten, von Vertrauensbrüchen, aber auch von lebenslanger Treue und Scham. Durch sehr persönliche Reflexionen wird man quasi hinter die Bühne, hinter das Offensichtliche, geführt und bekommt intime Einblicke in die Gedankenwelt der Figuren. Dass die Handlung in der magischen Welt einer Zaubershow angesiedelt ist, macht einen weiteren Reiz aus.

Zudem ist die Art, wie diese Geschichte erzählt wird, hervorzuheben: die Zeitsprünge, die wiederkehrende Symbolik, die wohl überlegten und gesetzten Worte; das alles ergibt ein wunderbares Ganzes mit einem Ende, das völlig zur Gesamtkonzeption passt. Man sollte den Text auf sich wirken lassen, zum reinen Konsum ist dieser Roman viel zu schade. Ein unglaublicher Genuss, Swift versteht sein Handwerk. Ein Lob muss man auch der Übersetzerin Susanne Höbel aussprechen, der es meisterhaft gelungen ist, die Atmosphäre dieses magischen Romans ins Deutsche zu übertragen. Dafür kann es nur meine vollste Lese-Empfehlung geben: Großartige Leistung, die Lust auf weitere Werke Graham Swifts macht!
5/5 Sterne


 

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