Rezension Rezension (4/5*) zu Milchmann: Roman von Anna Burns.

MRO1975

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11. August 2018
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Nordirland in den 70ern

Der Anfang des Romans nimmt sein Ende vorweg: „Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb. Er wurde von einem staatlichen Mordkommando erschossen, und der Tod dieses Mannes war mir herzlich egal.“ Die Geschichte des Romans ist, wie es so weit kommen konnte, dass ein 18jähriges Mädchen solches erlebt und fühlt.

Die Ich-Erzählerin nennt keine Orte und keine Namen. Zu ihren Familienverhältnissen erfährt der Leser: Der Vater ist tot. Die älteste Schwester (Schwester Eins) ist mit einem Mann verheiratet, den sie nicht liebt (Schwager Eins). Schwester Zwei hat Schande über die Familie gebracht, weil sie eine „Mischehe“ mit einem Mann von den staatlichen Sicherheitskräften eingegangen ist und sich offenbar in das Land auf der anderen Seite der See abgesetzt hat. Sich selbst nennt die Erzählerin die mittlere Schwester. Neben ihr gibt es noch Kleine Schwestern und drei Brüder. Die Brüder sind jedoch gestorben, auf der Flucht oder verschollen. Damit sind die Frauen der Familie auf sich allein gestellt.

Es wird recht schnell klar, dass die Geschichte während der 70er Jahre in Nordirland spielt. In dem Viertel, in dem die Familie wohnt, haben die sog. Verweigerer (staatsfeindliche Paramilitärs) das Sagen. Die Atmosphäre ist geprägt von dauernder tödlicher Bedrohung durch Anschläge und Autobomben, Angst vor Denunziation und gegenseitigem Misstrauen. In diesem Umfeld, in dem jederzeit alles passieren kann, wächst die Erzählerin auf und sucht für sich den Anschein von Normalität. Sie lernt Französisch, obwohl sie dazu in ein anderes Stadtviertel fahren muss. Sie geht Joggen, liest im Gehen. Am liebsten möchte sie unsichtbar sein und kein Interesse erregen. Denn wer interessant ist, der zieht Aufmerksamkeit auf sich, und Aufmerksamkeit ist in diesen Zeiten gefährlich.

Ohne ihr Zutun zieht die Erzählerin allerdings die Begehrlichkeiten des Milchmanns auf sich. Der Milchmann ist ein ranghoher Paramilitär, erheblich älter und verheiratet. Der Name „Milchmann“ stammt offensichtlich daher, dass die IRA früher Benzinbomben in Milchkästen an Jugendliche verteilt hat.

Eines Tages hält dieser Milchmann mit seinem Wagen auf offener Straße neben der Erzählerin und bietet ihr an, sie nach Hause zu fahren. Sie lehnt ab. Die zufälligen/geplanten Begegnungen häufen sich jedoch und es fällt ihr zunehmend schwerer, die Annäherungsversuche des Milchmanns abzuwehren, ohne ihn zu verärgern und ihre Familie dadurch zu gefährden. Dennoch kommen im Viertel Gerüchte über ihre angebliche Affäre mit dem Milchmann auf. Die Erzählerin weiß sich nicht zu helfen und flüchtet in Passivität. Sie wehrt sich nicht, sie kommentiert die Gerüchte nicht und befeuert die Vermutungen und das Gerede dadurch nur noch mehr. Wie das Ganze endet, hat der Anfang des Romans bereits verraten.

Der Roman lebt von den vielen kleinen Beobachtungen, wie sich der Nordirlandkonflikt auf das Leben der normalen Bevölkerung auswirkte. Den roten Faden liefert die ungewollte Bedrängung der Erzählerin durch einen wesentlich älteren, sehr einflussreichen Mann und die Art und Weise, wie ihr Umfeld darauf reagiert. Mit dem Tod des Milchmanns ist die Bedrohungslage am Schluss des Romans zwar beendet. Die Gelöstheit ist meiner Ansicht nach jedoch nur vorübergehend. Denn die Probleme sind dadurch nicht gelöst. Einen positiven Fingerzeig kann man allenfalls darin sehen, dass die Ich-Erzählerin offensichtlich rückblickend, aus einigen Jahren Abstand, erzählt und die Begebenheiten reflektiert und analysiert hat.

Die historische Einbindung des Romans fand ich sehr interessant, da ich noch nicht viele Bücher über den Nordirlandkonflikt gelesen habe. Die Bedrängnis der Erzählerin durch einen älteren, einflussreichen Mann und ihr Gefühl, sich nicht wehren zu können, hat zudem einen aktuellen Bezug und wurde für mich sehr anschaulich geschildert.

Einziger kleiner Minuspunkt: Für mich waren einige der inneren Reflexionen der Protagonistin zu lang und das Ende blieb unbefriedigend. Daher gibt es von mir gute vier Sterne.


 
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